Das Lied Without me von Eminem mitsingend schrubbte ich die Pfanne sauber und stellte sie auf das Abtropfgestell. Dann fuhr ich mir mit dem Handrücken über die Stirn und seufzte. Was für ein Tag!
Zuerst war ich fünf Kilometer joggen gewesen, dann hatte ich geduscht und mich mit Nighton gezankt, weil er der Ansicht war, mal wieder alles besser zu wissen. Also - ich hatte den Streit gesucht, sagen wir es so, während er einfach nur dastand, mit aufgeblasenen Wangen und an der Grenze zur Verzweiflung. Danach hatte ich mich online mit Owen herumschlagen müssen, der auch alles besser wusste und anschließend hatte es endlich geschafft, das Gespräch mit Sam zu suchen, der schon wieder fast ganz der Alte war. Nicht mal die Bandagen trug er noch. Nighton hatte sich heute Vormittag seine Wunden angesehen, die zu fünf reizlos wirkenden Narben verheilt waren. Laut Gabriel war nicht mehr rauszuholen, ohne das Fleisch zu formen, was auch immer das bedeuten sollte. Angeblich tat das aber wohl so weh, dass Sam sich geweigert hatte und nun mit dieser Narbe herumlief. Insgeheim glaubte ich aber, er fühlte sich auch noch toll mit der.
Auf jeden Fall war ich froh, das Thema mit den Socken nun endgültog hinter mir gelassen zu haben. Sam hatte sich sehr gefreut, als ich mich bei ihm entschuldigt und meinen Fehler sowie eine krasse Überreaktion eingeräumt hatte. Auch über meine Idee, er könnte mehr für mich empfinden, hatten wir gesprochen. Ehrlich, ich glaube, ich habe in meinem ganzen Leben noch nie ein so offenes und angenehmes Gespräch geführt. Sam erklärte, dass er mich nur als sehr gute Freundin betrachtete und noch nie darüber nachgedacht hatte, mehr in mir zu sehen. Darüber war ich enorm erleichtert. Ich glaube, nach der Aussprache ging es uns beiden besser und unsere Freundschaft war stärker als je zuvor. Jedenfalls fühlte es sich so an. Und das war das Beste, was die blöde Socke für uns hätte tun können.
Auch zu Penny hatte ich das Gespräch gesucht. Sie gestand mir, dass sie sich wegen ihrer Worte so furchtbar schlecht fühlte, dass sie sich deshalb nicht getraut hatte, auf mich zuzukommen. Das verstand ich natürlich, versprach ihr aber im selben Zuge, dass ich nicht nachtragend war und sie ja schon irgendwo im Recht war. Ich zog Probleme an, das war kein Geheimnis. Am Ende lagen wir uns in den Armen. Ich war heilfroh, mit meinen Freunden wieder im Reinen zu sein.
Es war schon Abend, etwa neun Uhr. Im oberen Stockwerk hörte ich Evelyn laut im Bad singen. Sam lag auf dem Sofa, futterte Pudding und schaute eine Serie, Penny befand sich mit Nivia auf Patrouillenflug und Melvyn versteckte sich irgendwo vor Nighton.
Der bereitete sich in diesem Moment auf die Mission vor, die anstand. Viel erzählt hatte er mir nicht, nur dass sie in der Nähe in einem Schlachterei-Großbetrieb namens 'GoldenChop Enterprises' stattfand. Diesen Namen fand ich so beknackt, dass ich fast drüber gelacht hätte. Allerdings schien es sich bei diesem Auftrag nicht um eine Dämonenvernichtung zu handeln, denn sonst wäre Nighton wohl kaum allein aufgebrochen. Genaueres wollte er mir allerdings nicht sagen, was übrigens auch der Grund für den Konflikt gewesen war, den ich am Mittag vom Zaun gebrochen hatte.
Während ich das Nudelsieb reinigte, dachte ich über unser gestriges Gespräch nach. Es war schon seltsam. Manchmal hatte ich fast das Gefühl, als könnte ich mit Nighton über alles reden und dann wollte ich ihn im nächsten Moment nur noch erwürgen.
Da riss mich Nightons Stimme aus meinen Gedanken. Er war soeben mit Lederjacke, blauem Sweatshirt, schwarzer Jeans und alten Turnschuhen im Türrahmen aufgetaucht. Der Dreitagebart, den er sich neuerdings stehen ließ, schmeichelte seinem Gesicht außerordentlich. Ich konnte in der Spiegelung des Fensters sehen, wie er einen Moment innehielt, Eminem lauschend, der in diesem Augenblick den Refrain anstimmte und darüber rappte, dass es sich ohne ihn leer anfühlte.
»Hörst du das Lied nur so oder willst du mir damit was sagen?«, erkundigte Nighton sich belustigt, trat näher und griff nach einem der Äpfel, die in einer Glasschale auf der Inseltheke standen.
Tatsächlich war das nicht mein Plan gewesen, aber jetzt, wo er es erwähnte – das Lied passte wirklich gut zu meiner Situation. Aber ich schüttelte nur den Kopf und erwiderte, keineswegs lachend: »Wenn ich dir was zu sagen hätte, würde ich nicht so subtil vorgehen. Aber da dir ja sowieso egal ist, was ich in dieser Sache will, spare ich mir jetzt den Atem.«
Nighton stieß unendlich lange Luft aus und stützte sich dann auf der Inseltheke ab. Ziemlich resigniert fragte er: »Du wirst nicht aufhören mit dem Thema, oder?«
»Nope«, bestätigte ich und wrang den Schwamm aus. Im nächsten Moment spürte ich Atem im Nacken und erstarrte. Als ich den Blick anhob und meine Spiegelung im Fenster ansah, erkannte ich, dass Nighton direkt hinter mir stand. Ich hatte nicht mitbekommen, dass er sich in den letzten Sekunden genähert hatte. Er senkte sein Gesicht leicht in Richtung meiner Halsbeuge. Roch er gerade an mir?
Das Blut, das sich eben noch in meinem Kopf befunden hatte, machte sich auf den Weg in meinen Unterleib. Ich bekam einen trockenen Mund.
Atem traf meine empfindliche Haut am Hals. Gänsehautschauer huschten über meinen Rücken und ich musste mich gegen die Theke lehnen, da meine Knie weich wurden. Ein Teil von mir wünschte sich, Sekeera würde eingreifen und ihn abhalten, doch der andere, Größere hoffte darauf, dass Nighton mich berührte - und er hielt eine prügelbereite Planke in den imaginären Händen, um den kleineren Teil zum Schweigen zu bringen.
»Du riechst gut«, bemerkte Nighton leise. Mit seiner Hand zog er sanft an einer Strähne, die aus meinem losen Knoten heraushing. Ich stand da wie erstarrt und konnte gar nicht glauben, was gerade passierte. Keine Ahnung also, wie mir das Folgende über die Lippen kam.
»Hör auf.«
Unsere Blicke trafen sich in der Spiegelung des Fensters. Dort sah ich, wie Nighton meine Haarsträhne losließ und einen Schritt nach hinten machte. Das nutzte ich, um von der Stelle vorm Waschbecken zu flüchten. In meinem Kopf herrschte Chaos. Eine wilde Mischung aus Lust, Ärger und Verwirrung hatte sich breitgemacht und ich wusste gar nicht, wo ich hinschauen sollte.
»Du benutzt dich als Waffe. Ich kann nicht - das ist gemein, du weißt-« Ich rang nach Worten.
Nighton legte den Kopf schief, mich weiter beobachtend. Am liebsten hätte ich mich auf ihn gestürzt. Aber das konnte und wollte ich nicht.
»Was weiß ich?«, fragte er zurück.
Mein Herz, das sich während dieser völlig unerwarteten Annäherung in einen sehr ungesunden Rhythmus gesteigert hatte, beruhigte sich langsam wieder. Nach ein paar Augenblicken schaffte ich es, Blickkontakt herzustellen und presste hervor: »Lass die Spielchen. Du willst mich nur davon ablenken, dass du ohne mich gehst.«
Nighton lachte schnaubend und eine Spur weit resigniert, als hätte ich ihn erwischt.
»Nein, das wollte ich nicht. Es war ernst gemeint. Ich weiß, dass ich dich davon nicht ablenken kann. Jennifer, bitte, wieso willst du nicht verstehen, dass mir deine Sicherheit am Herzen liegt? Du hattest doch genug Action in den letzten Wochen.«
Ich stemmte die Hände in die Seiten.
»Das hast du ja wohl nicht zu entscheiden, du super-toller Mr. Yindarin. Aber ja, komm, geh, mach deiner Art Ehre, zeig allen, wie unnötig meine Anwesenheit ist.«
Nighton schaute mich an. Ich konnte ihm ansehen, dass er zu gerne etwas wenig Nettes erwidert hätte, denn sein linker Augenmuskel zuckte. Schließlich rieb er sich über das Gesicht und stöhnte: »Du machst mich alle, du kleine Querolantin.«
Ich hob eine Augenbraue an und entgegnete schnippisch: »Soll ich mal damit anfangen, was du bist?«
Nighton lachte. »Bitte nicht«, bat er, ehe er abrupt das Thema wechselte und ernst fragte: »Kann ich mich darauf verlassen, dass du hier nichts anstellst? Nichts Dummes, meine ich.«
Aufstöhnend warf ich die Arme in die Luft.
»Ja, kannst du, ich mache hier nichts Dummes«, versprach ich.
Er nickte zufrieden und sagte: »Gut. Ich mache mich auf den Weg. Bis später.« Mir einen letzten Blick zuwerfend, als würde er sich rückversichern wollen, dass ich mein Versprechen halten würde, lief er aus der Küche. Kurz darauf hörte ich die Haustür auf- und zugehen und wenige Sekunden später erklang das Geräusch eines anspringenden Motors. Er fuhr mit seinem Auto? Ungewöhnlich.
Sobald die Motorengeräusche verstummt waren, steckte ich den Kopf aus der Küche und lauschte ins Haus. Evelyn trällerte nach wie vor ihre Arien und aus dem Wohnzimmer kamen Schnarchlaute, untermalt von den Geräuschen eines Actionfilms.
Zeit für meinen Auftritt.
Schon bei meiner morgendlichen Dusche hatte ich den festen Vorsatz gefasst, mich diesmal nicht abwimmeln zu lassen. Nein, ich konnte für mich selbst entscheiden, und genau das würde ich tun: Ich würde mitkommen, egal ob es Nighton passte oder nicht. So gesehen hatte ich nicht wirklich gelogen, HIER würde ich in der Tat nichts Dummes machen.
Mit klopfendem Herzen schlich ich aus der Küche und in den Flur. Dort lauschte ich noch einmal, ob auch wirklich niemand etwas mitbekam. Dann schnappte ich mir meinen Survival-Rucksack und meine Stiefel, öffnete leise die Haustür und stahl mich hinaus. Irgendwie fühlte ich mich wie ein Einbrecher. Oder traf Ausbrecher es eher?
Draußen war es noch warm, aber die Dunkelheit hatte bereits Einzug gehalten.
Auf Socken huschte ich zu zu dem Klapperfahrrad, das an der Wand neben den Mülltonnen lehnte. Ich wäre zwar lieber mit dem Auto gefahren, aber der Motor hätte verräterischen Lärm gemacht. Außerdem war der ominöse Schlachtbetrieb nicht weit weg. Hatte ich längst auf Google Maps gecheckt.
Das Fahrrad anhebend lief ich die Auffahrt runter. Erst vor den Toren Harenstones setzte ich es ab. Immer wieder über die Schulter blickend, schlüpfte ich in meine Schuhe und schulterte den Rucksack. Mein Herz klopfte wild, im Angesicht dessen, dass mir eigentlich klar war, in welche potenzielle Gefahr ich mich hier gerade begab. Immerhin befand sich jemand dort draußen, der unbeseelte Dämonen auf mich hetzte. Tief in mir war mir bewusst, wie unvernünftig und leichtsinnig ich mich hier gerade verhielt. Aber ich musste Nighton einfach beweisen, dass ich mehr war als ein unnützer, schwacher Mensch, sonst würde ich nie eine Chance dazu bekommen, mitgenommen zu werden. Ich musste einfach. Es gab keinen anderen Weg.
Ein letztes Mal noch sah ich mich um, dann stieg ich auf das Fahrrad und radelte im Schutz der Nacht los.
Ich fuhr keine Viertelstunde. Erst außerhalb der Sichtweite von Harenstone schaltete ich die Lampe am Fahrrad an, da ich nicht Gefahr laufen wollte, aus einem der Fenster gesehen zu werden. Dicke Wolken hingen am Abendhimmel und ein fernes Grollen kündigte an, dass es demnächst regnen würde. Hoffentlich erst dann, wenn ich mein Ziel erreicht hätte.
Mein Weg führte mich an der Hauptstraße entlang, über eine Brücke, durch ein kleines Wäldchen und zwischen eingezäunten Koppeln hindurch. Es war warm, und bald schon schwitzte ich. Das galt aber vielleicht auch meiner Aufregung.
Bald kamen die Schornsteine der Schlachterei in Sicht und kurz darauf bog ich von der Landstraße auf einen Parkplatz. Er war groß, leer und dunkel. Lediglich ein Auto stand hier. Es war Nightons.
Ich stieg ab, zog eine Grimasse, da der Sattel extrem hart war, und versteckte das Fahrrad hinter einem Container. Erst dann richtete ich meine zerzauste Frisur, glättete meine Kleidung und warf einen Blick auf das Gebäude, vor dem ich stand.
Es war ein einfacher Betonklotz mit ein paar nichtssagenden Anbauten. Insgesamt machte das alles hier keinen dämonischen Eindruck. Aber man soll Dinge ja nicht nach der Verpackung beurteilen. Wer wusste schon, was in der Schlachterei lauerte? Den Rucksack enger schnallend, sah mich kurz um, versicherte mich, dass nirgendwo ein wütender Nighton und auch sonst niemand stand, und joggte in konstantem Tempo zu der Hintertür. Sie hatte nur einen Knauf, keine Klinke. Als ich probeweise an ihr zog, ging sie natürlich nicht auf. Nur wie war Nighton reingekommen?
Ich hob den Kopf an. Weiter oben sah ich ein Fenster, das leicht offenstand. Offensichtlich war das Nightons Ein- und Ausstieg. Mist. Da würde ich nie im Leben hochkommen. Ich könnte es ja mit einer Karte probieren? Das hatte ich zwar noch nie gemacht, aber vielleicht würde es funktionieren.
Ich nahm den Rucksack von meinen Schultern und suchte darin nach meinem Portemonnaie, aus dem ich die Mensa-Karte von meiner Schule fischte.
So. Und nun?
Unsicher schaute ich zwischen der Karte und der Tür hin und her. In Filmen steckten die Leute die Karte immer zwischen Tür und Rahmen. Ich wusste, dass es nur funktionieren würde, wenn die Tür nicht abgeschlossen wäre. Allerdings sah ich kein Schlüsselloch, vielleicht konnte man sie also gar nicht abschließen, sondern nur von innen öffnen. Einen Versuch war es wert.
Mit einiger Mühe steckte ich die Karte zwischen Tür und Rahmen. Es war schwerer als gedacht. Konzentriert schob, drückte und bewegte ich die Karte hoch und runter. Das tat ich eine ganze Zeit lang, bis ich schon resigniert aufgeben wollte. Doch da spürte ich, wie ein Widerstand am Türrahmen schwand und in der nächsten Sekunde schwang mir die Tür entgegen.
Mit offenem Mund schaute ich an ihr hoch, ungläubig und zugleich begeistert darüber, was mir hier gerade gelungen war. Ich war eine Kriminelle! Eine Einberecherin! Ich hatte eine Tür geknackt! Wow! Wie aufregend! Ich sprang auf die Füße, schulterte wieder meinen Rucksack und schlüpfte in das Gebäude hinein. Hach, ich war so aufgeregt.
Nun stand ich in einem schmucklosen, langen Gang. Neonröhrenlicht erhellte ihn und es roch sauber und steril. Jetzt galt es, Nighton zu finden. Doch was würde ich tun, wenn ich ihn gefunden hatte? Begeistert würde er bestimmt nicht sein. Aber ich würde Nighton schon zeigen, dass es sich lohnen konnte, mich mitzunehmen. Immerhin war ich nicht irgendwer, ich war Jennifer Ascot, die Türenknackerin! Das sollte mir erst mal einer der anderen nachmachen. Gut, die konnten Türen mit einem Fingerschnippsen aufbrechen - aber vielleicht nicht mit einer Karte.
Auf der Suche nach Nighton lief ich durch die Gänge der Schlachterei, die alle gleich aussahen. Ab und zu befand sich links oder rechts eine Tür, doch sie waren alle abgeschlossen. Nach einigen Minuten voll von Treppen, Gängen, Korridoren und Räumen durchquerte ich eine schwere Doppeltür und fand mich auf einmal inmitten von lauter Körpern wieder. Sie hingen von der Decke. Zuerst dachte ich, es wären Menschen, doch als ich mich von meinem Schreck erholt hatte, stellte ich fest, dass es Schweinehälften waren. Hm. Hoffentlich lauerte nirgendwo zwischen den Körpern ein Monstrum, das mich gleich anspringen wollte. Diverse Filme hatten mich gelehrt, dass Gegner das zu gern taten. Andererseits war das hier das reale Leben und kein Film - und vielleicht wartete auch gar kein wildgewordener Dämon in der Schlachterei. Schließlich wusste ich ja gar nicht, was dieser Auftrag beinhaltete.
»Ist das kalt!«, schimpfte ich in die Stille und achtete beim Gehen darauf, keinem Kadaver zu nahe zu kommen. Ich schien mich in einer Kühlkammer zu befinden. Der Raum war quadratisch und mit blauen Fliesen ausgelegt. Es gab keine Fenster, nur weiße Neonröhrenlampen an der Decke. Außerdem war es saukalt. Bei dem Wortspiel musste ich grinsen. Saukalt.
Zu meiner Verwunderung war in der Ferne laute Ravemusik zu hören. Das verwirrte mich, also blieb ich kurz stehen. So was in einer Schlachterei?
Während ich überlegte, setzte ich mich wieder in Bewegung und ging auf eine andere Tür im Raum zu. Je näher ich ihr kam, desto lauter wurde der Beat. Ich öffnete die Tür, durchquerte einen schmalen Flur, öffnete eine weitere Tür - und fand mich zu meiner Überraschung in einer gigantischen Halle wieder. Sie hatte die Größe von Londons Hauptbahnhof und etwa eine Höhe von zwanzig Metern. Fenster gab es keine, daraus schloss ich, dass die Halle unterirdisch lag. Vor meinen Füßen befand sich eine schmale Treppe, die in die Halle mündete. In ihr wimmelte es nur so von übernatürlichen Geschöpfen, ausnahmslos Dämonen, angefangen bei grobschlächtigen Fleischwandlern, die sich wie Keile ihren Weg durch die Menge bahnten, über kleine, weiße, umher kullernde Tierchen bis hin zu vermummten Wesen, denen gebogene Stacheln aus dem Stoff am Rücken lugten. Es gab lauter eigenartige Wesen hier, von denen ich die meisten aber gar nicht kannte. Überall in der Halle befanden sich Stände mit den unterschiedlichsten Dingen. Dunkle Stoffstücke waren auf dem Hallenboden ausgelegt und dämpften die Schritte, was aber nicht viel nützte. Es war nämlich unglaublich laut. Schreie, Rufe, knatternde Geräusche, schrille Piepslaute, das eine oder andere Kreischen, röhrende Laute und brüllendes Gelächter machten es unmöglich, das eigene Wort zu verstehen. All dies wurde von dem lauten, monotonen Rave-Beat übertönt, der mehr in eine Disco passte als hierher. Ich bekam fast Ohrenschmerzen, und mir die Hände auf die Ohren zu pressen half nicht viel.
Die stickige Luft war erfüllt von den verschiedensten Gerüchen. Ich roch Schwefel, Pfefferminze, Blut, tagealten Schweiß, geröstetes Huhn und den leichten Hauch eines Männerparfüms, dessen Quelle ich auch sehr schnell entdeckte. Fünf bis an die Zähne bewaffnete Dämonen in schwarzen Ledersuits folgten einem grimmig dreinschauenden Dorzar durch die Gassen des Markts. Alle, egal ob groß oder klein, wichen ihm aus und drängten sich in die Schatten. Dorzar hatte seine in Lederhandschuhen steckenden Finger zu Fäusten geballt und bei jedem Schritt wehte sein bodenlanger Ledermantel um seine Knöchel. Selbst ich als Mensch konnte die dunkle Macht spüren, die er ausstrahlte.
Als ich noch ein Yindarin war, war er im Gegensatz zu mir nur ein Würstchen gewesen, aber nun - nun war ich das Würstchen. Zu meinem Ekel hatte er nur ein Auge. In der einen Höhle steckte anstelle eines Augapfels eine silberne Kugel. Wie er es wohl verloren hatte? Hoffentlich hatte es wehgetan!
Mit überaus zielstrebigen Schritten lief Dorzar über den Markt und schien nach etwas zu suchen. Apropos suchen. Vielleicht sollte ich mal den Ausgang suchen. Was immer das hier war - es war definitiv kein Ort, an dem ich länger bleiben sollte. Und wollte. Also drehte ich mich um und wollte die Tür wieder auftziehen. Aber zu meinem Entsetzen ging sie nicht auf. Hatte man sie etwa hinter mir verschlossen?! Wie eine Wahnsinnige rüttelte ich am Türknauf, aber die Tür bewegte sich nicht ein Stück. Könnte ich nochmal meinen Türtrick probieren? Nein, jemand könnte mich sehen.
Schnaufend hielt ich inne und streifte mir eine Strähne aus dem Mundwinkel, ehe ich mich umdrehte, meine Kleidung zurechtrückte, mir die Kapuze meiner Jacke aufsetzte und mit hoheitsvollen Schritten die Treppe hinabstieg. Am besten mischte ich mich unter die Dämonen und versuchte, einen anderen Ausgang zu finden.
Nur nicht auffallen, Jennifer. Gib dir wenigstens einmal Mühe!
Am Fuße der Treppe angelangt, stieg ich über einen sperrigen Karren mit einigen Fässern, in denen eine gräuliche Masse vor sich hin blubberte. Sie sah aus wie flüssiger Beton.
Ich schaffte es, mich unbemerkt in die Menge zu schleusen, die sich kontinuierlich vorwärtsbewegte. Das Herz klopfte mir bis zum Hals. Wenn mich nur niemand entdecken würde!
Hinter mir hörte ich das rasselnde Atmen eines Nachtals, das waren schwebende Wesen, etwa so groß wie ein Kleiderschrank und über und über mit Bahnen aus Stoff behangen. Nighton hatte mal erwähnt, dass diese Wesen ähnlich wie Dschinns in Flaschen lebten. Nur stiegen sie nicht hervor, um demjenigen, der sie gerufen hatte, einen Wunsch zu erfüllen, sondern um ihn zu verspeisen. Mich fröstelte bei dem Gedanken und ich wurde unwillkürlich schneller. Als Abendbrot wollte ich ungerne enden. Nein, das wollte ich wirklich nicht. Ich wollte nur eines, und zwar raus hier! Zum ersten Mal bereute ich, dass ich mich rausgeschlichen hatte. Was hatte mich nur geritten? Was, wenn ich hier nie wieder rauskäme, oder wenn Dorzar mich schnappte?
Bei dem Gedanken wurde mir heiß und kalt.
Plötzlich hörte ich meinen Namen und fuhr herum. Aber da war niemand, der mit erkennender Miene auf mich zusteuerte oder mir winkte. Hatte ich mich verhört? Der Nachtal stieß gegen mich und grollte mich aus tiefer Kehle heraus an. Ich erschrak und wich zurück, wobei ich gegen einen Tisch stieß, auf dem Einmachgläser voller Tausendfüßler standen. Eins fiel herunter und zerplatzte vor meinen Füßen. Das gesamte Getier rannte über meine Schuhe zu den Seiten und verschwand. Ich hasste Tausendfüßler aus tiefstem Herzen.
Vor Schreck und Ekel entfuhr mir ein Schrei, der richtig schön schrill war. Schrill und weiblich. Damit auch jeder wusste, dass ich hier war, ein Mensch auf einem Markt voller Dämonen.
Augenblicklich verstummte der Lärm um mich herum und ich wurde aus hunderten von Augen angestarrt. Auch deswegen, weil mir soeben die locker sitzende Kapuze vom Kopf gerutscht war. Innerhalb von Sekunden schien der gesamte Markt Bescheid zu wissen, denn es wurde totenstill. Nur die Musik lief weiter. Ich schluckte krampfhaft.
Oh scheiße.
Beinahe in Zeitlupe ging ich in die Knie, hob das zerbrochene Glas auf, drehte mich um und legte es auf den Holztisch. Das ein Meter große, dachsartige Wesen hinter dem Tisch schaute mich aus seinen Stielaugen erstaunt an.
Ich hingegen drehte mich wieder um. Was nun, was nun?
Geflüster setzte ein und dann bildete sich auf einmal eine Gasse vor mir. Es durchfuhr mich. Dorzar! Was, wenn er herausgefunden hatte, dass ich hier war?! Doch es war nicht Dorzar, der mir entgegenkam. Es war ein Wesen, etwa so groß wie ich. Es hatte dunkelblaue, mit schwarzen Schlieren versehende Haut und statt Haaren ellbogenlange, ebenfalls dunkelblaue Auswüchse, die mich an Tentakel ohne Saugnäpfe erinnerten. Schräge, gelbe Augen mit schlitzförmigen Pupillen waren auf mich gerichtet, in denen ich nur Hass lesen konnte. Das Wesen erschien in einer merkwürdigen Aufmachung, bestehend aus kurzen Hosen, einem sandfarbenen Hemd aus grobem Stoff und Sandalen. Ihm folgten drei absolut identische Frauen mit schneeweißer Haut und roten Haaren. Sie trugen nur schmale Gurte.
Vor mir hielt das Wesen an. Anhand seines ausgeprägten Kiefers und der drahtigen Statur erkannte ich es als einen Mann. Seine Tentakelhaare stellten sich auf und zitterten wie verrückt, während er mich musterte.
»Menschen sind hier verboten!«, stieß er hervor. Er sprach bloß zischelnd und spie jedes Wort hervor, als kostete es ihn größte Überwindung.
Ich wusste nichts zu antworten, also schwieg ich.
»Wähle deine letzten Worte, Menschling, bevor ich dich zu Nyxar bringe!«, wurde ich angefaucht. Ich öffnete den Mund, doch alles, was mir entwich, war ein dünnes »Hilfe?«
Bevor das Wesen vor mir antworten konnte, durschnitt eine weitere, sehr viel bedrohlichere Stimme die Luft. Sie kam von irgendwo links. Ich erkannte sie sofort. Es war Dorzar. Oh nein!
»Was ist da hinten los?«