Ich musste hier weg. Sofort.
Ohne nachzudenken fuhr ich herum und sprang auf den Tisch. Irgendwie funktionierte es. Als hätte man den Finger von der Stopptaste genommen, wurde es wieder laut in der Halle, denn ich hatte soeben angefangen, die Flucht zu ergreifen. Das war in Anbetracht meiner Lage zum sicheren Scheitern verurteilt. Immerhin befand ich mich als Mensch in einer Markthalle ohne ersichtliche Ausgangstür, dafür gefüllt mit lauter wütenden Dämonen. Berechnung meiner Chancen? Unnötig.
Verdammt, wo war Nighton nur? In dem Moment war mir ein potenziell tobender Yindarin lieber als ein menschenfeindlicher Dämonen-Mob.
Ich sah nur ganz kurz über die Schulter, aber dafür lange genug, um in Blickkontakt mit einem gewissen Jemand zu geraten.
Dorzar.
Er stockte. Seine Augen weiteten sich. Dann öffnete er seinen Mund, auf dem sich kurz darauf ein fieses Grinsen abzeichnete. Er winkte mir mit den Fingern seiner einen behandschuhten Hand, ein seltsames Funkeln in den Augen.
Er durfte mich nicht kriegen! Schwungvoll riss ich mir die Kapuze wieder hoch und sprang geschickter, als ich es mir zugetraut hätte, vom Tisch auf einen Kistenstapel, erklomm ihn und befand mich daraufhin auf dem Holzdach des Standes mit den Einmachgläsern. Ich rannte los, als wäre Selene persönlich hinter mir her, und überwand die kleinen Abstände zwischen den Ständen mit Sprüngen. Es klappte. Der Lärm in der Halle schwoll indes an. Man warf Sachen nach mir, doch getroffen wurde ich nicht. Auf einmal entdeckte ich eine unscheinbare Tür, über der in grünen Leuchtbuchstaben Exit stand. Lag dort meine Rettung?
Ich hatte jedoch kaum Zeit, darüber nachzudenken, denn plötzlich brach der Boden unter mir weg. Allerdings landete ich weich, nämlich in einem Kissenhaufen. Aufächzend wälzte ich mich in eine sitzende Position, ehe ich überrascht innehielt. Auf einem runden Kissen mit Troddeln saß ein fetter Mops und schaute mich dümmlich an. Ich hätte fast gelacht. Ein Mops unter Dämonen?
Ich rutschte vom Kissenberg. Anscheinend befand ich mich in einem Zelt. Hier drin roch es nach Kamille, was eine angenehme Abwechslung zu dem Gestank da draußen darstellte. Dennoch sollte ich mich nicht zu lange hier drin aufhalten. Vorsichtig schlich ich zum Ausgang des Zeltes und lugte nach draußen. Außerhalb meines Safespots war ganz schön was los. Überall rannten aufgescheuchte Dämonen hin und her. Es waren so viele, dass ich sie nicht zählen konnte. Du meine Güte, was hatte ich nur losgetreten?
Ich wollte die Zeltplane gerade wieder zuschlagen, da fiel mir in ein paar Metern Entfernung die Tür mit dem Exit-Schild auf, die sich zwischen zwei Ständen befand. Es waren höchstens drei Meter, die ich überwinden müsste. Und wenn ich mich geschickt anstellte, könnte mir so vielleicht die Flucht gelingen.
Ich schluckte. Einen Versuch war es wert. Los, Jennifer, jetzt oder nie!
Mir die Kaputze wieder hochziehend und ein letztes Mal nach links und rechts sehend, zwängte ich mich aus dem Zelteingang und zischte nach rechts zur Tür. Ich hatte schon die Hand nach der Klinke ausgestreckt und wollte einen frohlockenden Abgang hinlegen, da schlang sich ein Arm um meinen Hals. Der Griff war unfassbar stark und drückte mir die Luft ab. Ohne denjenigen sehen zu können, wusste ich, wer mich geschnappt hatte. Diese Gewissheit trieb die Angst in mir empor.
»Hallo, meine Schöne«, ertönte Dorzars gehässige Stimme in meinem Ohr. Mir gefror das Blut in den Andern. Oh Gott, nein.
»Dorzar!«, keuchte ich und umklammerte den Arm des Dämons. Ich konnte spüren, wie er meinen Geruch einsog, was bei mir unsagbare Gänsehaut verursachte. Ich versuchte, seinem Griff zu entkommen, doch es war zwecklos. Dorzar verstärkte ihn nur noch, während er mich von der rettenden Tür wegschleifte. Dabei raunte er mir ins Ohr: »Wolltest du etwa schon gehen? Bleib doch noch ein bisschen!«
»Nighton ist hier, und er wird dir die Hölle heißmachen, wenn du mir was tust, du Bastard!«, presste ich voller Angst hervor. Doch darüber lachte Dorzar nur. Entgegen meiner Erwartung, wobei ich ehrlich gestehen muss, dass ich gar nicht wusste, was er genau vorhatte, zerrte er mich rückwärts ins Zelt zurück, wo er mich losließ und von sich stieß.
Fast wäre ich hingefallen, doch ich konnte mich gerade noch davor bewahren. Jetzt saß ich in der Falle. So eine Scheiße!
Mit stark klopfendem Herzen machte ich, dass ich irgendein Hindernis zwischen Dorzar und mich bekam - und in dem Fall war das der Kissenberg mit dem Mops, der aus müden Augen zwischen dem Dämon und mir hin und her sah.
Dorzar legte den Kopf schief. Seine schwarzen Haare wirkten in der spärtlichen Beleuchtung wie Schatten auf seinem bleichen Gesicht. Er hatte sich kaum verändert, wenn man von dem gruseligen Ding in seiner Augenhöhle absah. Schon damals war ich der Meinung gewesen, dass Dorzars stechender Blick einem unter die Haut ging - nun glaubte ich, dass er mir mit dieser Silberkugel direkt in die Seele schauen konnte. Wegzusehen fiel mir unendlich schwer. Ein subtiler Duft aus verfallenem Holz, Leder und Metall umhüllte Selenes Scherge, und schaudernd fragte ich mich, ob Letzterer von dem Metallauge herrührte. Doch es war nicht nur der Geruch von Materialien, der die Luft erfüllte. Ein Hauch von Rauch und Asche umgab ihn, als wäre er gerade den Tiefen eines Abgrunds entstiegen.
Der Dämon stemmte die Hände in die Seiten und postierte sich vor dem Zelteingang, womit er mir jegliche Chance auf einen Fluchtweg abschnitt. Aber hey, selbst wenn er da nicht gestanden hätte, wäre jeder Fluchtversuch sinnlos gewesen. Er war ein übermächtiger Dämon und ich nur ein Mensch - ein Umstand, der Dorzar mehr als bewusst zu sein schien. Sein Blick haftete auf mir, durchbohrte mich förmlich, röngte mich. Er war neugierig, das spürte ich.
»Kurz dachte ich, meine Augen spielen mir einen Streich«, begann Dorzar zu sprechen. Sein lauernder und zugleich aufgeregter Tonfall ließ mich schlucken. »Was machst du denn ganz allein hier?«
»Ich sagte doch, ich bin nicht allein! Nighton kommt jeden Augenblick zurück!«, log ich. Meine Stimme zitterte. Das ärgerte mich.
Dorzar grinste und raunte: »Wohl kaum. Er und Nyxar unterhalten sich gerade sehr angeregt, und das nur wenige Türen von hier entfernt. Der große, verliebte Dummkopf würde dich doch nicht im Traum alleinlassen, nein, nein. Weißt du, was ich denke?« Er senkte den Kopf etwas. Sein Grinsen wurde teuflisch. »Ich glaube, er weiß gar nicht, dass du hier bist. Sonst stünde er nämlich längst hier drin und würde versuchen, dich mir zu entreißen. Zu schade, dass diese Halle sicher vor allen äußeren Einflüssen ist, und das bezieht auch Sinnesausschweifungen mit ein. Selbst wenn er versuchen würde, rauszufinden, wo du steckst, könnte er dich nicht wahrnehmen. Das hast du nicht gewusst, wie es scheint. Aber das alles bringt mich trotzdem wieder zu der Frage, was du hier zu suchen hast. Wolltest du ein bisschen Dämonenluft schnuppern? Den Kick suchen? Oder stellst du dich mir freiwillig?«
Freiwillig stellen? Gab er hier gerade etwa zu, dass er hinter all den Angriffen steckte?
»Also seid ihr es doch, die die Dämonen auf mich hetzen, um mich zu kriegen?«, fragte ich, ohne auf den Rest zu reagieren. Damit erreichte ich, dass Dorzar die Stirn in Falten zog. Offensichtlich überraschte ihn meine Frage.
Die Augen verengend entgegnete er: »Interessante Unterstellung. Um dich in die Finger zu bekommen, brauchen wir keine unbeseelten Dämonen, oder hältst du uns wirklich für so schwach? Doch wie auch immer, ich nehme dich jetzt mit nach Unterstadt, meine Herrin wird es sicher freuen, dich schon jetzt in einer ihrer Zellen begrüßen zu dürfen. Wenn du schon ohne den großen Yindarin herumspazierst, muss ich das doch nutzen, nicht wahr?«
Ich wich zurück. Dorzar hingegen kam einen Schritt näher. Es schien, als würde er sich über meine Reaktion freuen. Mich von Kopf bis Fuß musternd raunte er, sich mit weiterhin Schritt für Schritt nähernd, während ich bis an die Zeltwand zurückwich: »Es ist schon seltsam, dich anzuschauen. So bemitleidenswert schwach, keinen Funken Übernatürliches mehr in dir. Ich könnte dir hier und jetzt einfach das Genick brechen und deinen Witz von Legende beenden, die du unter den dreckigen Engeln geschrieben hast. Wirklich schade, dass die dunkle Göttin noch Verwendung für dich und deinen Menschenkörper hat. Apropos, wie bekommt dir das Menschendasein? Nein, andere Frage: Wie ist es, Nighton dabei zuzusehen, wie er das auslebt, was Dein war? Das muss doch wehtun...«
»Leck mich, Dorzar!«, entfuhr es mir plötzlich, ehe ich mich bremsen konnte.
Daraufhin hob der Dämon mit glimmenden Augen das Kinn wieder an und erwiderte: »Oh, ist das ein Angebot?«
Bevor ich mich versah, packte er mich am Arm und zerrte mich hinter sich her. Verzweifelt versuchte ich, mich loszumachen, doch sein Griff um meinen Unterarm war so fest, dass er mir beinahe die Knochen brach. Er zog mich aus dem Zelt raus auf die enge Gasse, auf der sich diverse unbeseelte Kreaturen drängten. Sie stoben auseinander, als Dorzar mit mir im Schlepptau aus dem Zelt gerauscht kam. Dabei gaben sie schrille Kreischlaute von sich, die innerhalb von wenigen Augenblicken den ganzen Markt erfassten. Fast jedes Wesen stimmte in den Lärm mit ein, selbst die beseelten Dämonen. In meinen Ohren klang das Geschrei wie Jubel.
Dorzar lachte, während er mich hinter sich herschleifte wie einen ungehorsamen Hund. Immer mehr Dämonen kamen indes herbei und bildeten einen Gang für uns, ein jeder ein Abbild des Schreckens, und ihr kollektiver Hass auf mich war fast greifbar. Unter ihnen konnte ich einen Malphoron-Höllenfürst entdecken, eine besonders grausame, behufte Kreatur. Er überragte die anderen und seine Augen blitzten vor Zorn, während er laute, donnernde Rufe ausstieß. Als sich mein Blick mit dem seinen kreuzte, hieb er mit den Krallen seiner Pranke in eine der tragenden Metallsäulen, dass die Funken nur so sprühten. Ich zuckte zusammen. Bestimmt hatte er sich gerade vorgestellt, dass ich das war.
Um mich herum verstärkte sich das Gemurmel von Schattenwandlern der Sorte Sableth, deren gesichtslose Formen sich im Schatten verzerrten. Sie waren ständig in Bewegung, und die Dunkelheit um sie herum war erfüllt von unheimlichen Stimmen, die zusammen mit ihrem Geflüster zu einem beängstigenden Crescendo anschwoll. Mit etwas Abstand um sich herum befanden sich hier und da ein paar Vorax-Feuerdämonen, die sich von der Stimmung aufgestachelt zu fühlen schienen. Ihre menschenähnlichen Körper waren von Flammen umhüllt, die mir immer wieder entgegenpeitschten. Glühende Kohlen und Asche fielen von ihnen ab, während sie mich mit sengendem Zorn anstarrten.
Ich erkannte schreiende Sukkubara und Inkuboros und diverse Blutdämonen, die ihre Reißzahngebisse fletschten, als ich vorbeilief. Und als wäre das alles noch nicht genug, scharrten hier und da auch noch ein paar gehörnte Devastare mit ihren krallenbewehrten Füßen, zu deren Kategorie auch der Moloch von damals gehörte. Ihre Bewegungen waren angespannt und voller unterdrückter Gewalt, während ihre lauten Knurrgeräusche durch das Chaos drangen. Die gesamte Halle erzitterte unter dem unheilvollen Krach. Es schien mir beinahe so, als würde jeder einzelne der unbeseelten Dämonen nur darauf zu warten, mich in Stücke reißen zu können. Dorzar machte es mit seiner Anstachelei nicht unbedingt aussichtsreicher für mich.
»Ja, seht mal her, wen ich erwischt habe! Den Mensch, der sich hier eingeschlichen und euren Umschlagsplatz unsicher gemacht hat!«, rief er nach Lob heischend, das er in Form von weiterem Geschrei bekam. Es war inzwischen so ohrenbetäubend laut, dass es sogar die Rave-Musik übertönte.
Dennoch hörte ich seine bedrohlichen Worte, die er mir ins Ohr flüsterte, überdeutlich: »Die dunkle Göttin wird sich sehr über dich freuen.«
Bodenlose Angst erdrückte mein Herz. Es schien keinerlei Ausweg für mich zu geben! Was sollte ich nur tun?!
In meiner Hilflosigkeit stemmte ich mich weiter gegen Dorzar, versuchte nach Leibeskräften, mich aus seinem Griff zu winden. Es war zwecklos. Der Dämon lachte einfach nur und riss mich weiter.
Da scholl eine männliche Stimme durch die Halle, die so laut war, dass sie alles andere übertönte. Ich kannte sie nicht. Sie war wie das tiefe Grollen eines fernen Gewitters, voller Macht und Autorität, doch von einer beruhigenden Klarheit durchdrungen. Beim Sprechen hallte eine Art Echo wider, als ob mehrere Stimmen im Einklang mit dieser Person sprachen. Das war es auch, was die Stimme so unerträglich laut machte, sodass ich auf die Knie sackte und mir die Hände auf die Ohren pressen musste.
»Was geht hier vor sich?!«