»Was verdammt soll das?!«, schrie ich Nighton an, der sich mit gerunzelter Stirn umschaute. Seine Verwirrung schien allerdings nicht meinem Ausbruch zu gelten, sondern viel mehr dem Umstand, dass auch er sich fragte, wo wir hier waren.
»Fehlteleportation«, war seine Antwort, für die er mich nicht einmal ansah. Aufgebracht warf ich die Arme in die Luft und stürmte tunnelaufwärts von dannen, fest entschlossen, nach einem Ausgang zu suchen. Allerdings kam ich nicht weit. Plötzlich erschien Nighton vor mir, als wäre er in übernatürlichem Tempo von dort hinten vor mich gelaufen. Zumindest war das die einzig logische Erklärung, die ich dafür fand. Ich lief natürlich genau in ihn rein und stieß mir die Nase an seinem Schlüsselbein.
Das war der Genickbruch für meine Beherrschung.
Der gesamte Schmerz über meinen Verlust und der unbändige Zorn auf Nighton in mir kochten über. Mit aller Kraft, die ich aufzubieten hatte, stieß ich ihm die flachen Hände vor die Brust.
Einmal.
Zweimal.
Dreimal.
Ich wollte ihn wegschieben, ihn umschubsen, ihn aus meinem Weg prügeln, doch Nighton war standhaft wie ein Fels. Wahrscheinlich spürte er es nicht einmal. Anfangs ließ er das sogar geduldig über sich ergehen, als würde selbst er einsehen, dass er es verdient hatte. Erst, als ich die Hände zu Fäusten ballte, reagierte er. Blitzschnell ergriff er mich an den Handgelenken.
»Bitte, Jennifer, es reicht.«
Ich keuchte, sein T-Shirt fixierend. Seine unglücklich gemurmelte Bitte schaffte es tatsächlich kurz, dass ich innehielt. Doch dann kehrte mein Frust mit noch größerer Intensität zurück, als ich spürte, wie fest er mich hielt. Es tat beinahe weh. Mein Frust bäumte sich in mir auf, also begann ich, wie wild geworden zu ziehen, um Nightons Griff zu entkommen. Sogar nach hinten lehnte ich mich. Man könnte sagen, ich rastete aus, fast wie ein Kleinkind bei einem Tobsuchtsanfall. Aber es half alles nichts.
Da wurde mir meine Unterlegenheit plötzlich schlagartig bewusst. Sofort traten mir Tränen in die Augen. Mein Widerstand erschlaffte, genau wie meine Knie. Ich sackte zu Boden. Damit schien Nighton nicht gerechnet zu haben, denn er sog erstaunt Luft ein und ließ mich los.
Erst, als ich auf dem kalten Steinboden saß und spürte, wie die Kälte durch meinen dünnen Pyjama stach, rückte meine Wut ein Stück von mir ab. Ich wollte nur noch nach Hause. Weg von diesem Saukerl.
Durch meine vorgefallenen Haarsträhnen bekam ich mit, dass Nighton mir gegenüber in die Knie ging. Wieder spürte ich seine Hand auf meiner Schulter, doch ich machte eine ruckartige Armbewegung nach hinten, um seiner Berührung zu entkommen.
»Fass mich nicht an!«, stieß ich hervor. Es passierte gerade so viel, zu viel für meinen Geschmack, und ich wusste damit nicht umzugehen. Da konnte ich seine Hände auf mir nicht gebrauchen. Nighton hob sie zum Zeichen des Verstehens an.
»Ist gut, ich mach’s nicht mehr«, versprach er mit besänftigender Stimme. Einige Augenblicke saßen wir so voreinander, dann begann er leise zu sprechen. Am liebsten hätte ich ihm den Mund zuhgehalten.
»Tut mir leid, dass das so gelaufen ist. Ich hatte mir das auch anders vorgestellt.«
Ich ballte die Hände zu Fäusten.
»Hast du, ja? Was soll ich denn sagen?« Schwungvoll stand ich auf und brachte einigen Abstand zwischen Nighton und mich, der sich ebenfalls erhob. Eine gequälte Miene ziehend murmelte er: »Jennifer, bitte, ich verstehe, dass du sauer-«
Ich schnappte nach Luft, womit ich ihn unterbrach. Dann entwich mir ein Auflachen, ehe ich losbrüllte: »Sauer? SAUER? Ich bin nicht sauer, ich bin SCHEISSDRECKSVERDAMMT wütend auf dich, du mieses, manipulatives, ekelhaftes, egoistisches, diebisches, verräterisches Stück Abschaum, du – du-« Ich wollte weiter fluchen, ihm vor Augen halten, was ich von ihm hielt, aber mir fielen keine weiteren Bezeichnungen ein. Nighton hingegen zog anerkennend die Mundwinkel nach unten und die Augenbrauen nach oben.
»Autsch«, machte er beeindruckt.
Ich funkelte ihn an. »Findest du das vielleicht lustig?!«
»Nein, natürlich nicht. Es war nur deine Wortwahl, die-«
»Ach, Wortwahl, ja klar, genau! Du nimmst mich nicht ernst, das hast du noch nie getan. Guck mal, die dumme, naive Jennifer, die kann man leicht verarschen, schauen wir doch mal, wie weit wir bei ihr kommen, vielleicht ja so weit, dass sie sich in Nighton verknallt, damit er ihr in ihrem verletzlichsten Moment den Yindarin rauben kann! Und, wie ist es so? Brennt Oberstadt inzwischen? Hast du deiner ach so tollen Herrin heute morgen schon das Kissen aufgeschüttelt? Einmal Selene, immer Selene, ist doch so, oder?!« Meine Stimme wurde immer lauter und schriller, bis ich Nighton wieder fast anschrie. Der wirkte mit einem Mal zutiefst unglücklich.
»So war es nicht«, murmelte er resigniert und ließ die Schultern hängen. Doch ich fing gerade erst an.
»War das von Anfang an dein Plan? Dir mein Vertrauen zu erarbeiten, mich abhängig von dir zu machen, nur damit du Sekeera-«
»Nein, war es nicht, und das weißt du!«, fiel Nighton mir ins Wort. »Ich habe dich nie darum gebeten, dass du mich rettest, so oft schon habe ich dir gesagt, dass ich das nicht will! Du hättest mich doch sterben lassen können...«
Zuerst hatte Nighton laut gesprochen, doch am Ende war er leiser geworden und in seiner Stimme war eine Mischung aus Wehmut und Sehnsucht mitgeschwungen. Mit seinen Worten sorgten dafür, dass ich mich plötzlich auf die Brücke in Oberstadt zurückversetzt fühlte. Die Vielfalt an Gefühlen, die mich damals schon überkommen hatte, als ich mit seinem drohenden Tod konfrontiert gewesen war, überrollte mich wie eine meterhohe Welle. Wie konnte er bloß davon ausgehen, dass sein Tod eine Alternative für mich gewesen war? Ich hatte ihn um keinen Preis verlieren wollen, und immerhin wusste ich auch inzwischen, dass er ähnlich gedacht haben musste, sonst wäre er wohl kaum zwischen mich und den Speer gesprungen. Warum um alles in der Welt nahm er also an, dass sein Leben zu retten eine rationale Entscheidung gewesen war?
Wieder traten mir die Tränen in die Augen. Brüchig schrie ich zurück: »Als ob ich das je über mich gebracht hätte! Du biegst dir die Welt auch zurecht, wie es dir passt, aber so einfach ist das nicht! Man bringt jemanden nicht dazu, einen zu mögen, um dann davon auszugehen, dass es denjenigen nicht juckt, wenn man am Sterben ist! Du solltest mich doch gut genug kennen, um zu wissen, wie ich ticke! Jedenfalls hast du damit immer geprahlt! Wieso also sollte ich nicht davon ausgehen, dass auch das zu deinem Plan gehört hat?! Vielleicht warst du neidisch auf mich oder kamst nicht damit klar, dass ich stärker war als du, oder aber Selene braucht einen Yindarin in ihrem Gefolge, keine Ahnung! Fakt ist, dass man um manche Dinge nicht mit Worten bitten muss!« Ich wandte mich ab und bedeckte mein Gesicht mit den Händen.
Nighton wollte etwas sagen, aber ich ließ ihn nicht. Ich war noch lange nicht fertig.
»‘Du musst mir vertrauen, Jennifer, du hast keine andere Wahl‘, deine Worte, weißt du noch? Und dann – nachdem du mir bis auf mein menschliches Leben alles genommen hast, wagst du es, dich erst nach Wochen blicken zu lassen, entführst mich an diesen Ort und sagst, du verstehst, dass ich sauer bin? Sauer?! Im Ernst jetzt? Du warst nicht mal kurz bei der Tankstelle, du hast dich für ganze sechs beschissene Wochen versteckt! Du hattest nicht mal den Anstand, direkt nach dem Kampf in Oberstadt zu mir zu kommen, um nach mir zu sehen! Kannst du dir auch nur ansatzweise vorstellen, wie furchtbar es mir ging? Ich habe für dich mein Dasein als Yindarin aufgegeben!« Gen Ende wurde ich beim Sprechen zwar ruhiger, aber dafür weitaus anklagender.
Nighton hatte den Blick gesenkt. Er wirkte ehrlich schuldbewusst. In der Stille, die nach meinen Worten einkehrte, konnte ich sehen, wie er nach Erklärungen suchte. Schließlich gab er fast schon kleinlaut zu: »Ich wusste nicht, ob du mich sehen willst. Ich kenne mich nicht so aus, was zwischenmenschliche Beziehungen betrifft.«
Aber das versetzte mich nur wieder in Rage.
»Ach, alles Ausreden! Und ja, da hast du verdammt recht mit, natürlich wollte ich dich nicht sehen! Na und?! Es geht darum, was du mir schuldest, und das wäre eine Entschuldigung noch am ersten Tag gewesen! Aber nein, unser neuer Yindarin ist scheinbar feige geworden! Du schickst mir allen Ernstes Sam auf den Hals, anstatt dich selbst blicken zu lassen? Hast du neben deinem Dämon auch noch deine Eier verloren? Und jetzt tauchst du einfach hier auf, machst einen auf Geknickt und Missverstanden und - was? Dachtest du etwa, ich falle dir um den Hals und vergebe dir alles? Du hast mich belogen, betrogen, bestohlen, manipuliert und meine Familie in Gefahr gebracht! Wegen dir wäre Anna fast draufgegangen!« In meinen Ohren rauschte es.
Nighton nickte wieder und wieder, als hätte er eine Feder im Nacken sitzen.
»Ich weiß, und das tut mir leid. Mir tut wirklich alles leid, ich wollte es dir so oft sagen, aber-«
Sofort fiel ich ihm ins Wort. Seine Beteuerungen konnte er sich sonst wohin schieben.
»Du hattest so viele Gelegenheiten dazu gehabt! Aber nein, deine Geheimniskrämerei war dir lieber. ‚Wenn ich es dir sage, bist du die Nächste, die mich umbringen will‘, am Arsch, Nighton, echt! Dafür, dass du mich mein Leben lang kennst, weißt du eigentlich erstaunlich wenig über mich!«
Nighton konnte nur noch mit resignierter Miene den Kopf schütteln. Aber was sollte er auch groß sagen, es gab nichts, was mich beschwichtigen könnte oder die Situation geändert hätte.
Dennoch versicherte er aufrichtig, wenn auch gequält: »Es tut mir leid, Jennifer.«
Auf ihn zeigend rief ich: »Das sollte es auch! Und denk ja nicht, dass wir jetzt wieder Freunde sind, das kannst du vergessen! Was willst du noch von mir, musst du nicht deinen ach-so-wichtigen Geschäften nachgehen, du super-toller Mr. Yindarin?«
Zähneknirschend antwortete er: »Darf ich zu dem Rest noch was sagen, bevor ich dir das beantworte?«
Kurz starrte ich ihn an, dann verschränkte ich die Arme, sagte aber nichts. Nighton holte Luft und ging einige Schritte auf mich zu. Augenblicklich wich ich zurück, woraufhin auch er stehenblieb und die Hände beruhigend anhob.
»Nicht, ich - ist gut, ich komme nicht näher«, versprach er hastig, ehe er erneut zum Sprechen ansetzte: »Vielleicht bin ich wirklich feige, ich weiß es nicht. Aber ich habe gewusst, dass du mich verachtest, und ein Teil von mir wollte sich damit nicht auseinandersetzen. Ich verstehe, dass du mich hasst, und wahrscheinlich würde ich das an deiner Stelle auch tun. Aber du musst mir glauben, dass ich nie deinen Yindarin haben wollte. Im Gegenteil, ich war immer froh, nicht dasselbe Kreuz tragen zu müssen, wie du es getan hast. Du kannst dir nicht vorstellen, wie mächtig Selene ist, wie viel Druck sie auf dich ausüben kann und was sie mit dir macht, wenn du nicht das tust, was sie von dir verlangt.« Er schauderte unwillkürlich und fuhr dann fort.
»Ja, ich habe ihr jahrelang gedient, ja, ich habe ihr alles über dich erzählt, aber je näher du und ich uns kamen, desto weniger wollte ich es. Doch man entkommt Selene nicht so einfach. Sie hat ihre Methoden. Und so musste ich ihre Befehle umgehen, um das hinauszuzögern, was sie von mir wollte.«
»Mich ihr auszuliefern?«, schlussfolgerte ich tonlos.
»Ja, damit sie dich auf ihre Seite ziehen kann. Ich musste einen Weg finden, für dich Zeit zu schinden, damit du stärker werden konntest.«
»Ach so, damit sich das Schwein auf der Schlachtbank wenigstens ein bisschen wehrt, weil es sonst langweilig ist, oder wie?!«, stieß ich voller Bitternis hervor, doch Nighton winkte ab.
»Nein, so meinte ich das nicht. Ich wollte nicht, dass es so weit kommt! Dein Yindarin hat mich nie interessiert, lieber wäre ich gestorben, wenn du mir die Wahl gelassen hättest. Ich meinte das damals ernst, als ich sagte, dass ich für dich sterben würde. Daran hat sich auch jetzt nichts geändert.« Bei seinen letzten Worten war er leise geworden, fast schon wehmütig. Ein bisschen kratzte es in meinem Herz, aber ich wollte davon nichts hören.
»Sehr romantisch«, presste ich hervor. »Und jetzt sag mir, was du von mir willst, wenn du nicht Selenes Stiefellecker bist! Muss ja einen Grund haben, wenn du deinen Yindarin-Thron verlässt. Wolltest du mal schauen, wie mein Menschenleben läuft? Ein bisschen Unterwäsche aus meiner Schublade klauen? Oder, keine Ahnung, in Nostalgie schwelgen, indem du uneingeladen auftauchst und mich mal eben in alter Manier packst und entführst?!«
Ich sah Nighton an, dass er sich eine andere Reaktion auf seine Worte erhofft hatte, doch er fing sich und erklärte geduldig: »Weder noch. Nachdem Sam mir berichtete, dass Ghule in deiner unmittelbaren Nähe aufgetaucht waren, musste ich mich einfach selbst davon überzeugen, dass du sicher bist.«
Ich verschränkte die Arme und spottete: »Wie edelmütig. Das hast du ja damit jetzt. Ich brauche deine Hilfe nicht. Ich komme inzwischen bestens allein zurecht, ja, obwohl ich ein Mensch bin. Und jetzt bring mich verdammt nochmal zurück!«
Irgendwie war ich ja ein bisschen stolz auf mich, dass ich es tatsächlich geschafft hatte, ihm gegenüber stark zu bleiben und nicht einzuknicken. Noch vor einem Jahr wäre das undenkbar gewesen. Wahrscheinlich hätte er sich da aber auch nicht so von mir anschreien lassen.
»Ich verspreche, dass ich dich gleich zurückbringe, aber es gibt noch etwas, das ich dir sagen will.«
Anstatt das näher auszuführen, schaute Nighton plötzlich nach hinten über die Schulter, als hätte er etwas gehört. Augenrollend warf ich die Arme in die Höhe.
»Ja, genau, lenk nur ab, das kannst du ja bes…«
»Scht!«, machte er fast ärgerlich. Ich wollte schon aufbrausen, weil ich mir von ihm nicht den Mund verbieten lassen wollte, aber da hörte ich es auch: Schritte und Gemurmel. Scheinbar kam jemand auf uns zu.
»Ist da wer?«, rief eine unbekannte Männerstimme laut. Noch konnten wir den Jemand nicht sehen, aber es klang, als wäre er nicht weit weg. Eine zweite Stimme gesellte sich dazu.
»Es ist verboten, das Tunnelsystem zu betreten! Es herrscht Zugverkehr! Wer auch immer hier unten ist, zeigt sich besser!«
Nighton tat einen Schritt auf mich zu, griff nach meinem Arm und ehe ich mich wehren oder davonrennen konnte, ging das Rotieren schon wieder los, nur um abrupt zu stoppen. Im nächsten Moment wurde die Kühle des Untergrundes von der sommerlichen Hitze abgelöst. Wieder wurde mir speiübel und diesmal musste ich mich sogar hinsetzen und mir den Magen halten. Warum konnte er es nicht ankündigen, war das denn so schwer?
Ich öffnete die Augen. Wir waren inmitten lauter Büsche angekommen. »Tut mir leid, ich vergesse ständig, dass dir das Teleportieren zusetzt«, kam es entschuldigend von weiter oben. In meinem Sichtfeld tauchte eine Hand auf. Flach durch die Nase ein- und ausatmend schaute ich auf sie. Am liebsten wollte ich sie wegschlagen.
Warum tat ich es also nicht?
Mein Blickfeld verengte sich auf diese männliche Hand mit den langen Fingern, die er mir schon oft gereicht hatte, wann immer ich mich in einem Schlamassel befunden hatte. Bei diesem Gedanken drängten sich meine starken Gefühle gegenüber Nighton nun doch in den Vordergrund, auch wenn ich das nicht zulassen wollte. Aber es war zu spät. Mistiger Mist!
So griff ich schwaches, rückgratloses Wesen nach seiner Hand und ließ mich von ihm emporziehen. Kurz verharrten wir dicht voreinander stehend, meine Hand in seiner. Und dann machte ich den fatalen Fehler, zu ihm aufzusehen.
Für ein paar Sekunden vergaß ich meine Wut und verlor mich in seinen Augen, die mich schon damals in ihren Bann gezogen hatten. Sie waren so unendlich grün, so einzigartig. Es durchzuckte meine zerrüttete Seele, als ich dieses vertrautes Gesicht musterte, das sich nicht um ein Quantum verändert hatte. Das Einzige, das spürbar anders war, war die Macht, die Nighton ausstrahlte, und die sogar ich als Mensch wahrnehmen konnte. Sie machte sich bemerkbar durch ein Kribbeln auf meiner Haut und durch eine Art Druckgefühl auf der Brust, das mich befiel, sobald ich mich ihm auf weniger als einen Schritt näherte.
Und hinter diesem Gesicht lauerte sie. Sekeera. Mein Yindarin. Ich schaute ihr in diesem Moment in die Augen und sie sah zurück. Was sie wohl dachte? Wie ging es ihr? Ob sie mit Nighton genauso viel sprach wie mit mir? Vermisste sie mich?
Tief in mir drin verspürte ich den Schmerz, den ich für gewöhnlich wegzusperren versuchte. Der Schmerz über Sekeeras Verlust, darüber, wieder ein Mensch zu sein, darüber, dass Nighton für mich unerreichbar war, darüber, dass ich ihm vertraut und er mich so hintergangen hatte. Und nun stand er hier vor mir und es fühlte sich auf einmal fast so an, als wären die letzten Wochen gar nicht so schlimm gewesen. Als hätten sie hinter einem Vorhang stattgefunden. Ich wollte eigentlich weiterschreien, ihm zeigen, dass ich ihm nicht verzieh, aber es war, als würde meine Wut von seiner körperlichen Anwesenheit mit jeder Sekunde, in der meine Hand in seiner lag, ein bisschen mehr abgetragen werden.
Das war schlecht. Sehr schlecht. Denn es bedeutete, dass ein Teil von mir bereit dazu war, Nighton wieder in mein Leben zu lassen. Und das durfte nicht passieren.
Dennoch Nighton war derjenige, der die Situation beendete. Mit einem Räuspern und einer gemurmelten Entschuldigung gab er meine Hand frei und tat zwei Schritt zurück, den Blick zu Boden gesenkt.
Plötzlich wurde das Gebüsch zu unserer Rechten mit einem Stock beiseite geschlagen. Lautes Kindergeschrei ertönte und dann rannte etwas zwischen uns durch. Ich erschrak, genau wie das Kind, das soeben fast gegen mich gestoßen wäre. Es war ein Junge, vielleicht acht oder neun Jahre alt.
»Entschuldigung!«, rief er atemlos, ehe er nach hinten brüllte: »Schneller, ihr lahmen Hydranten!« Eine ganze Horde weiterer Kinder kam schreiend hinterhergerannt und lief ebenfalls zwischen mir und Nighton durch. Als Letztes platzte eine untersetzte Frau in Campingkleidung mit Klemmbrett und Brille durch das Gebüsch. Sie hielt an, als sie uns hier so stehen sah, sich keuchend auf ihren Oberschenkeln abstützend.
»Entschuldigung«, rief sie betroffen, als würde sie ahnen, uns beim Streiten gestört zu haben. Mit roten Wangen fügte sie atemlos hervor: »Naturkundeunterricht und Kinder, Sie wissen ja«, ehe sie erst Nighton und dann mir einen mitleidigen Blick zuwarf und den Kindern hinterherstürzte. Für einen Augenblick noch schaute ich in die Richtung, in die sie verschwunden war, dann schüttelte ich mich und trat nun selbst zwei Schritte zurück. Ich musste hier weg. Sofort!
Diesen Gedanken in die Tat umsetzend, bog ich einen Ast beiseite und schlüpfte aus dem Gebüsch heraus. Sofort erkannte ich, dass er uns in den Hyde Park gebracht hatte, sogar gar nicht weit von meinem Zuhause entfernt. Inzwischen tauchten immer mehr Spaziergänger und Jogger und Fahrradfahrer auf. Nighton und ich standen ziemlich im Weg, doch das kümmerte weder ihn noch mich. Einige Leute musterten mich, da ich hier in einem dunkelgrauen und recht knappen Pyjama mit aufgedrucktem Mittelfinger stand. Doch ich ignorierte sie alle. Ich hatte andere Probleme.
Nighton folgte mir, schaute umher und zeigte er auf eine Parkbank.
»Wollen wir uns kurz setzen? Das ist doch besser, als hier herumzustehen«, schlug er vor. Ich musterte sein Antlitz, ehe ich den Kopf schüttelte und leise entgegnete: »Weißt du was? Nein. Ich will mich nicht setzen und ich will auch nicht hören, was du mir zu sagen hast. So wichtig kann es gar nicht sein, wenn es sechs Wochen warten konnte.«
Ich wollte einfach nur noch weg. Einem Großteil meiner Wut hatte ich Luft gemacht, aber den Rest musste ich mit mir allein ausmachen, fern von Nighton, seinen Blicken und seinem ganzen Auftreten.
Der schaute mir für einen Moment unschlüssig in die Augen, dann ließ er die Schultern sacken und seufzte abermals.
»Wie du willst«, lenkte er ein. Als er daraufhin mit ernster Stimme zu sprechen begann, gab ich mir gehörig Mühe, einen Punkt neben seinem Ohr zu fixieren. Aus irgendeinem Grund schien die Berührung seiner Hand auf meiner eigenen noch nachzubrennen.
»Du solltest noch wissen, dass die Ghule eine Art ... Vorwand waren. Natürlich nicht ganz, da ich wirklich nachschauen wollte, ob Sam seine Sache ordentlich macht. Aber-«, er stockte, als er meinen Gesichtsausdruck bemerkte, »- das hast du dir ja bestimmt schon gedacht.«
Ich schnaubte abfällig. »Nett, dass du mir eigenständiges Denken zutraust.«
Nighton rang sich ein freudloses Grinsen ab, doch das wich sofort, als er sich räusperte und den Blick über mich gleiten ließ.
»Und ich kann dich wirklich nicht dazu bewegen, dass wir uns kurz setzen? Ich - es gibt noch so viel, das ich dir sagen will.« Er klang richtig wehmütig, entschuldigend, nahezu kleinlaut. Adjektive, die ich eigentlich nie mit ihmin der Verbindung gebracht hätte.
Kurz wollte ich aus der Haut fahren, doch dann entschied ich mich dagegen und verschränkte einfach nur die Arme. Nighton zuerst eine Antwort schuldig bleibend verharrte ich so einen Moment, dann öffnete ich den Mund und sagte nur ein Wort:
»Nein.«
Diese Entscheidung fiel mir nicht schwer, denn ich wusste, dass es die Richtige war. Ich musste mich schützen. Vor ihm und den selbstzerstörerischen Gedanken in meinem Kopf. Eben im Gebüsch, als er meine Hand festgehalten und mich wie früher mit diesem intensiven Ausdruck angesehen, war es mir bereits klar geworden.
Meine Ablehnung bewirkte, dass sich der hoffnungsvolle Anflug auf Nightons Gesichtszügen ins Nichts verflüchtigte. Plötzlich senkte er den Blick und sein Kiefer spannte sich an.
Leise mutmaßte er: »Du wirst mir nicht verzeihen, oder?«
Bei dieser Frage krampfte sich nun doch wieder Einiges in mir zusammen. Der Nighton-affine Teil wollte ihn umarmen und ihm sagen, dass alles wieder gut werden würde, aber er regierte mich schon lange nicht mehr. Also antwortete ich ehrlich, obwohl ich am liebsten geheult hätte: »Weiß ich nicht. Ich brauche Zeit zum Nachdenken. Ich-«, ich schloss den Mund, haderte mit mir und wich einen Schritt vor Nighton zurück, »- ich weiß eigentlich nicht mal, ob ich dich in meiner Nähe haben will, denn mit einer Sache hattest du damals definitiv Recht: Du bist alles andere als gut für mich.«
Nighton verzog keine Miene. Dennoch wusste ich, dass meine Worte ihn getroffen hatten. Und ich fand, dass es ihm recht geschah. Warum sollte nur ich diejenige sein, die litt?
»Verstehe«, murmelte er und schob die Hände in die Hosentaschen. Wie von selbst haftete sich mein Blick einen Moment lang auf die kleine Kuhle in seinem Schlüsselbein, in der ich damals, nachdem ich Nedeya getötet hatte, meine Nase so perfekt hatte parken können. Als ich mich bei dieser Erinnerung erwischte, brachte ich mich schnell dazu, sie zu verdrängen. Allerdings machten Nightons folgende Worte es mir nicht gerade leichter, standhaft zu bleiben.
»Darf ich dich dann wenigstens noch nach Hause bringen?«
Ich konnte spüren, wie sich Tränen erneut mit aller Macht an die Oberfläche drängen wollten. Daher wandte ich mich halb ab, biss mir auf die Lippe und schüttelte den Kopf, ehe ich hervorpresste, den Blick auf das Gebüsch richtend: »Nein, ich gehe lieber allein.«
Damit umrundete ich Nighton und ging einfach davon, ohne zurückzuschauen. Ich konnte es selbst kaum glauben, doch es passierte. Jeder meiner Schritte fühlte sich an, als würde ich Zementschuhe an meinen nackten Füßen tragen. Und mit jedem Meter, den ich zwischen mich und Nighton brachte, fragte ich mich, wo zur Hölle ich diese Stärke eigentlich hernahm.