Die anderen kamen weder an diesem Abend noch am nächsten Tag zurück. Ich war tatsächlich dankbar dafür, denn es verschaffte mir genug Zeit, um mich wenigstens ein bisschen zu sammeln. Sam und Thomas verbrachten viel Zeit vor der Konsole, aber Sam hielt sich an Nightons Anweisung und behielt mich immer im Auge. Sobald ich mich nur in Richtung Haustür bewegte, hörte ich schon die Tür zu Tommys Zimmer aufgehen und Sam rufen. Es war nervig.
Ich war mir unsicher, ob ich es vorzog, allein zu sein oder nicht. In der Nacht von Samstag auf Sonntag machte ich praktisch kein Auge zu und war am nächsten Tag dementsprechend erschöpft. Dennoch versuchte ich, normal zu wirken, als mein Dad anrief und nach uns fragte.
Sonntagabend bestellten wir Pizza. Anna veranstaltete ein Riesentheater, weil auf ihrer Salamipizza auch noch Pilze waren, die sie aber nicht mochte. Meine Nerven lagen allerdings so blank, also ich schrie sie zusammen, woraufhin sie heulend ihren Pizzakarton vom Tisch fegte. Ich stand nur einen Handbreit davon entfernt, ihr eine zu scheuern, was ich nur unterließ, weil Thomas eingriff und Anna in ihr Zimmer schickte. Eigentlich war ich ja nicht so, normalerweise würde ich nicht mal im Traum darauf kommen, sowas zu tun. Danach war die Stimmung jedenfalls an ihrem Tiefpunkt. Auch die Witze von Sam und meinem Bruder berührten mich nicht. Da ich keine Hausaufgaben mehr hatte und keine Lust verspürte, für die Englisch-Klausur nächste Woche zu lernen, entschied ich mich, beim Joggen etwas Dampf abzulassen. Ich brauchte das einfach. Nachdem ich mich nach dem Essen umgezogen hatte, informierte ich Sam, der aufstöhnte und herumnörgelte, weil er nicht mitwollte. Aber ich hob nur die Hände und sagte ihm das, was Nighton gesagt hatte. Mir war das egal. Gut, wenn mir heute wieder so etwas passieren würde wie am Freitag, wäre es mir nicht egal, aber eigentlich konnte ich es nicht leiden, wenn ich nicht meine Ruhe hatte. Und beim Joggen hatte ich diese Ruhe.
»Ich warte unten vorm Haus auf dich«, seufzte ich und schob mein Handy in die enge Tasche meiner Leggins. Dann öffnete ich die Haustür und stapfte die Stufen hinunter ins Erdgeschoss. Schließlich trat ich vor die große Eingangstür. Der Abend war noch jung, es war erst sechs, aber die Luft war drückend und es lag ein unheilvolles Grollen in der Ferne, das ein Gewitter ankündigte.
Ich atmete tief durch und lauschte dem drohenden Donner. Schon wieder ein Gewitter. Der Himmel war von dunklen, schwerbeladenen Wolken verhangen und es schien, als ob die Welt auf den bevorstehenden Sturm wartete. Aber trotzdem wollte ich nicht darauf verzichten, joggen zu gehen. Und wenn es nur fünf Minuten sein würden!
Vor der Tür standen heute erstaunlich viele Lieferwagen unterschiedlicher Firmen auf der Bayswater Road. Während ich mich dehnte, musterte ich die Kolonne, die beinahe jeden Parkplatz blockierte. Was mochten sie hier wollen? Gab es irgendwo ein Streetfood-Festival? Einen Großumzug?
Gerade als ich überlegte, ob ich noch länger hier stehenbleiben sollte, tauchte Sam auf. Er trug ein Stirnband, das seine braunen Locken bändigte, ein graues T-Shirt meines Bruders und eine schwarze Jogginghose. Seine Miene war von Unzufriedenheit gezeichnet.
»Kannst du dir nicht einen Laufsimulator von Steam runterladen?«, brummte er. Ich starrte ihn fragend an.
»Was?«
Der Begriff 'Steam' sagte mir nichts, und ich hatte keine Ahnung, wie mir das helfen sollte. Sam rollte mit den Augen. »Egal. Also los. Mal sehen, wer zuerst schlappmacht.«
Ich warf ihm einen spöttischen Blick zu. »Na, sicher nicht ich«, stellte ich selbstbewusst klar und setzte meinen Fuß auf die Straße. Sam folgte mir. Gemeinsam joggten wir rüber zum Hyde Park.
Die Bewegung war eine willkommene Befreiung. Ich spürte den Wind in meinem Gesicht, als ich schneller wurde und Sam immer weiter hinter mir ließ. Trotz seiner übermenschlichen Ausdauer als Engel hatte ich beim Langstreckenlauf die Oberhand.
Immer wieder sah ich mich um, wartete auf ihn und konnte nicht anders, als bei seinem mühsamen Keuchen und dem Gejammere in Kichern auszubrechen. Es war das erste Mal seit Freitag, dass ich mich wieder ein bisschen lebendig fühlte.
Kaum zwei Kilometer gelaufen, war Sam bereits am Ende seiner Kräfte. Sein Gesicht war feuerrot und Schweißperlen liefen ihm wie kleine Bäche über die Stirn. Ich konnte nicht anders, als ihn aufzuziehen.
»Peinlich, sich von mir, einem lahmen Menschen, so abkochen zu lassen!«, stichelte ich.
Sam stützte sich keuchend auf seine Oberschenkel.
»Lass die Witze! Du bist echt eine blöde Kuh, nötigst mich hier zu sowas!«
»Und du bist ein Schwächling.«
»Angeberin!«
»Sockenbügler!«
Sam keuchte nur ein schwaches »Fängst du etwa schon wieder von der blöden Socke an?«, hervor und hielt sich die Seiten. Ich schüttelte den Kopf und versuchte, das Lachen zu unterdrücken.
»Nein, nein. Du bist außerdem längst entlastet«, versprach ich.
»Ja, besser ist das! Wahrscheinlich waren es die Zwillinge oder so. Die sind doch für so kranke Scheiße bekannt.«
Das Lachen erstarb in meiner Kehle. Sam hatte mit seiner Erwähnung der Zwillinge unwillkürlich die Erinnerung an Dorzar heraufbeschworen. Das ließ mich umgehend frösteln. Sam bemerkte das Schweigen und sah mich besorgt an.
»Hey, was ist denn los? Du bist so komisch seit ein paar Tagen. Hast du Stress mit Nighton? Letzte Woche noch schien alles super zwischen euch. Penny hat ununterbrochen von euch geschwärmt.«
Ich seufzte tief und verschränkte die Arme vor der Brust. Plötzlich fühlte ich mich verletzlich, fast als wäre ich nur ein Schemen in der kalten Luft. Ein Schauer lief mir über den Rücken.
»Nein, wir haben keinen Stress. Ich will einfach nicht darüber reden, Sam. Lass uns bitte weiterlaufen, okay?«
Sam schnaubte unzufrieden, aber schließlich stimmte er zu. »Na gut!«
Wir setzten unseren Lauf fort, und diesmal schien Sam etwas länger durchzuhalten. Doch bald bemerkte ich, dass der Park um uns herum seltsam leer war. Keine Fußgänger, keine Fahrradfahrer, keine Kinderwagen – nur die Stille der leeren Wege. Ein ungutes Gefühl breitete sich in mir aus. Was war hier los? Hatten wir etwas verpasst? Ein Hinweis oder eine Warnung? Oder ein Schild?
Ich hielt an und wartete, bis Sam neben mir auftauchte. Schnaufend blieb er stehen. Ich deutete auf unsere Umgebung und überlegte laut: »Siehst du das? Es ist niemand hier. Findest du das nicht merkwürdig?«
Sam zuckte mit den Schultern und murmelte: »Na, besser für mich. Dann bekommt niemand mit, wie ich mich abquäle.«
Augenverdrehend sah ich mich um. Hinter uns entdeckte ich sofort etwas Beunruhigendes: Drei schwarze Jeeps näherten sich rasch über die Spazierwege. Autos im Park zu nutzen war doch verboten? Meine Kehle schnürte sich zusammen, als ich Sam anstieß und in die Richtung deutete. »Das sind Menschen«, stellte er fest, seine Stimme von Überraschung und Alarm geschüttelt. Dann zog er scharf die Luft ein und versetzte mir einen dringlichen, fast panischen Stoß.
Er rief: »Los, lauf! Die sind hinter uns her!«
»Was? Warum?!«, schrie ich erschrocken und sprintete los. Sam hielt mühelos mit mir Schritt und rief im Rennen zurück: »Ich weiß nicht! Die haben Gewehre, Jen! Pass auf!«
Das Dröhnen der Motoren hinter uns wurde immer ohrenbetäubender. Neben dem scharrenden Geräusch der Jeeps mischte sich plötzlich auch ein tiefes, unaufhörliche Brummen hinzu. Als ich einmal kurz über die Schulter schaute, sah ich eine Armada von Quads hinter den Jeeps hervorfahren.
Plötzlich zog Sam mich heftig vom Weg und in das dichte Unterholz. Äste peitschten uns ins Gesicht, während wir uns durch das Dickicht kämpften. Hinter uns hörten wir die Autos mit einem ohrenbetäubenden Quietschen auf dem Kies anhalten.
»Stehen bleiben, Extraterrist!«, brüllte eine Stimme aus dem Hintergrund, und ich wäre bei diesem Wort fast gestolpert. Extraterrist? Dieses Wort hatte ich bereits gehört, als Jason mich gerettet hatte. Handelte es sich hier um dieselben Leute? Hatten wir es etwa mit einer Art Engel- und Dämonenjägern zu tun? Wie hatten die uns finden können?!
Wir erreichten einen kleinen Querweg und hielten kurz an, um uns umzusehen. Mein Herz hämmerte wild gegen meine Rippen. Wieso musste ich immer wieder in solche Situationen geraten? Konnte ich nicht wenigstens drei Tage in Frieden leben?
Ich packte Sam an den Oberarmen.
»Die sind hinter dir her, Sam!«, presste ich heraus. Sam zog die Stirn kraus und warf hektische Blicke in das Gebüsch, aus dem das Geräusch von raschem Getrappel kam. Er stellte keine weiteren Fragen, sondern kam direkt zur Sache.
»Du kennst die Gegend, oder? Wo können wir uns verstecken?«
»Da gibt es einen alten Baum-«, begann ich gehetzt, »-auf den ich früher manchmal geklettert bin. Aber können wir nicht einfach weiterrennen und nach Hause-«
»Nein«, schnitt Sam mir schroff das Wort ab. Seine Stimme war angespannt und fest. »Dann ist deine Wohnung nicht mehr sicher. Hör zu, wir laufen jetzt zu dem Baum. Ich lenke die Leute ab, und du bleibst da oben und versuchst, Nighton oder jemanden von den anderen zu erreichen. Verstanden?«
Ich nickte, wandte dann aber ein: »Und wenn wir einfach nach Oberstadt flüchten, wie Nighton sag...?«
Sam unterbrach mich erneut. »Bis wir an der Platte sind, haben die uns.«
»Aber du kannst fliegen!«
»Und die haben Gewehre und Quads und wer weiß, was noch! Und jetzt los!«
Wir rannten weiter, noch schneller als zuvor. Die Strecke zum alten Baum war noch etwa fünfhundert Meter lang, aber meine Energie schwand schnell. Sam und der stetige Lärm der Quads in unserem Rücken trieben mich jedoch unaufhörlich weiter.
Endlich erreichten wir den Baum, der hinter einer Kurve an einer großen Kreuzung stand. Unter ihm stand eine verwitterte Parkbank.
Sam half mir, rasch auf die Bank und im Anschluss auf den Baum zu steigen. Dann stellte er sich entschlossen in die Mitte des Weges, seine Augen funkelten vor Entschlossenheit. Er warf mir einen letzten besorgten Blick zu, bevor er mit beiden Armen wild winkte, um die Verfolger anzulocken.
»Hey, ihr Sacknasen, hier bin ich! GRARRRR! Ich bin ein böser menschenfressender Engel!« Mit einem wütenden Gebrüll stürmte Sam von der Eiche weg und raste tiefer in den Park. Ich kauerte mich auf eine dicken Ast, etwa drei Meter über dem Boden, und starrte die sechs Quads an, die sich dem Baum näherten. Drei von ihnen bogen sofort ab und jagten Sam, der bereits nur noch als schemenhafter Fleck zu erkennen war. Die anderen drei hielten unter der Eiche. Derjenige, der dem Baum am nächsten war, zog seinen Helm ab und entblößte darunter eine Sturmmaske. Alle drei trugen schwarze Lederoutfits, die mit verschiedenen Waffen bestückt waren: Handgranaten, Pistolen, Sturmgewehren und Messer. Sie waren eindeutig auf einer Jagd.
Einer von ihnen rief wütend: »Verdammt, wo ist das Mädchen hin? Eben war sie doch noch da!«
Ein anderer brüllte: »Keine Ahnung! Vor der Kurve waren sie noch zu zweit. Dann ist der Extraterrist da entlang gerannt. Vielleicht versteckt sich unsere Zielperson hier irgendwo? Oder sie ist die andere Richtung gelaufen. Wen sollen wir verfolgen, Sir?«
»Wen wohl, Sherlock? Unsere Zielperson natürlich, wegen der sind wir doch überhaupt ausgerückt!«, kam es sarkastisch es von der dritten Person, deren Stimme mir eigenartig bekannt vorkam. Ich runzelte die Stirn und beugte mich weiter vor, um besser hören zu können.
»Unsere Geräte funktionieren aber nicht für Menschen. Wir sollten weiterfahren und den Extraterristen schnappen, der bringt wenigstens eine solide Prämie. Da Sie die Wohnung der Zielperson verwanzt haben, Sir, sollten wir auch einen optimalen Zeitpunkt für eine neue Jagd erkennen«, schlug der erste Mann vor. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Was? Ich? Ich war die Zielperson? Konnte das wirklich sein? Aber warum? Und die hatten meine Wohung verwanzt?!
Derjenige, der direkt unter mir stand und seinen Mitstreiter gerade als Sherlock bezeichnet hatte, lachte verächtlich auf und griff sich an die Sturmmaske.
»Ernsthaft? Ihr gebt schon auf? Genau das ist der Grund, warum ihr immer ganz unten in der Nahrungskette stehen werdet. Wenn ich dem TI-Hauptquartier den Hybrid erst liefere-«, er zog sich die Maske ab und ich erstarrte, als ich ihn erkannte, »-werde ich garantiert von Turano meine eigene Division bekommen und euch zwei Idioten bin ich dann endlich los.«
Heilige Scheiße!
Das da unten war Owen Delaney! Er jagte übernatürliche Geschöpfe? Von wegen notgeiler Playboy! Das war alles nur eine Farce! Und wer oder was zur Hölle war denn ein Turano?
Owen griff nach einer Wasserflasche aus seiner Seitentasche, nahm einen Schluck und fuhr fort.
»Aber an den Hybrid kommen wir nur über die Zielperson ran. Also vergesst den Extraterristen! Wir müssen das Mädchen finden. Sie ist hier irgendwo, das weiß ich genau. Zielperson gleich Hybrid gleich Beförderung. Was gibt es daran nicht zu verstehen? Außerdem-«, er schraubte die Flasche wieder zu und steckte sie zurück, »-geht mir die Geduld für diese langwierige Jagd auf den Hybrid langsam aus. Und ich habe sowieso noch ein Hühnchen mit Jennifer Ascot zu rupfen, die mit ihrem Verschwinden am Freitag den ganzen gut geplanten Einsatz ruiniert hat.«
Er zog seine Maske wieder über sein Gesicht und befahl mit einem ungewöhnlich harten Ton: »Los, macht das Wärmesignal an und fahrt geradeaus. Wir kriegen die zwei schon.« Nach wenigen Sekunden fuhren alle drei wieder los und ich lag immer noch da auf meinem Ast, fassungslos über das Gehörte.
Owen Delaney, ein Engel- und Dämonenjäger! Dieser Mistkerl! Hatte er sich nur in mein Leben geschlichen, weil er an Nighton, den Yindarin, gelangen wollte? Und er hatte meine Wohnung verwanzt? Kein Wunder, dass er gewusst hatte, dass ich mich in Harenstone aufgehalten hatte! Jetzt ergab so viel einen Sinn.
Ich ballte die Fäuste. Dafür würde ich ihn noch plattmachen. Aber zuerst musste ich weg hier. Also rief ich Nighton an. Draußen war es inzwischen schon fast ganz dunkel, und es wurde immer kälter.
Nach wenigen Sekunden ging Nighton ans Telefon.
»Jen?«
»Ja«, flüsterte ich, während ich mich noch tiefer auf dem Ast duckte, um durch das dichte Blattwerk einen klaren Blick zu behalten. »Kannst du gerade reden oder seid ihr mitten im Menschenschnetzeln?«
Nighton verneinte. Seine Stimme war angespannt, durchzogen von Misstrauen.
»Wieso flüsterst du? Was ist passiert?«
Ich erzählte in schnellen, knappen Worten, was geschehen war: die Jeeps, die plötzlich aufgetaucht waren, Sams und meine überstürzte Flucht und das, was ich über Owen Delaney belauscht hatte. Besonders das, was ich über die wahre Zielperson herausgefunden hatte - nämlich mich. Auch das wichtige Detail, dass das alles nur abgezogen wurde, um an Nighton heranzukommen und ihn zu fangen, ließ ich nicht aus.
Es herrschte einen Moment lang eisernes Schweigen am anderen Ende der Leitung. Dann, mit unerschütterlicher Ruhe, befahl Nighton: »Geh jetzt zur Hauptstraße, zum Baustellenschild auf Höhe der Eiche. Ich werde dich dort abholen. Verstanden? In drei Minuten bin ich bei dir. Und leg ja nicht auf!«
»Verstanden.« Ich stopfte das Handy, ohne das Gespräch zu beenden, in die Hosentasche und kletterte vorsichtig vom Baum runter. Den letzten Meter sprang ich zu Boden, auf dem ich auf allen Vieren aufkam. Wachsam erhob ich mich, meine Umgebung dabei nicht aus den Augen lassend.
Mit klopfendem Herzen schlug ich mich durch das Gebüsch, das sich zwischen mir und der Hauptstraße erstreckte. Keine fünfzig Meter trennten mich noch vom asphaltieren Fahrradweg.
Kaum hatte ich die Grasfläche hinter mir gelassen und trat auf den Fahrradweg, tauchte ein weißer, tiefgelegter Mercedes mit einem lauten Brummen der Motoren direkt vor mir auf. Ich warf einen Blick hinein, um sicherzustellen, dass Nighton am Steuer saß, riss die Tür auf und sprang hastig in den Wagen.
Kaum hatte ich mich gesetzt, fiel mein Blick aus der Windschutzscheibe. Mein Atem stockte und ich erstarrte. Direkt vor dem Auto stand Owen Delaney, etwa zehn Meter entfernt. In seinen Händen hielt er eine Waffe, die bedrohlich auf Nighton gerichtet war.
Nighton, dessen ehemals blauer Pullover nun von Blutspritzern und Schmutz bedeckt war, schien sich auf Owen zu fokussieren, der sich jetzt den Rucksack vom Rücken riss und ihn keuchend auf den Boden schleuderte, die Waffe mit beiden Händen umfassend. Seine Augen waren schmal und voller Entschlossenheit.
Nighton legte den Rückwärtsgang ein. Mit aufheulendem Motor preschte der Wagen nach hinten, sodass es mich fast gegen die Armatur katapultiert hätte. Der Klang der Reifen, die auf dem Kies knirschten, wurde von einem schrecklichen Knall durchbrochen. In einem Bruchteil von Sekunden begriff ich: Owen hatte geschossen.
Ein entsetzter Schrei entfloh mir, als ich sah, dass die Kugel aus der Waffe Nighton getroffen hatte. Er selbst schien das gar nicht zu bemerkt zu haben. Dennoch trat er auf die Bremse und starrte Owen durch die Windschutzscheibe an, als wäre er ein wildes Raubtier, das bis aufs Blut gereizt worden war.
Mit abgehackten Bewegungen legte Nighton den vierten Gang ein und ließ den Motor aufheulen. Der Wagen vibrierte vor Kraft, und ich erkannte sofort, was er vorhatte. Doch das würde nicht gutgehen, da war ich mir sicher. Panisch riss ich an seinem Arm. Nighton war wie versteinert. Sekundenlang starrten er und Owen sich bewegungslos an, dann sog Nighton tief die Luft ein und stieg aus.
»Nighton, nein, nicht!«, schrie ich verzweifelt und wollte auch aussteigen. Doch Nightons schroffe Antwort hallte in meinen Ohren wider: »Bleib, wo du bist!«
Voller Angst beobachtete ich, wie er entschlossen auf Owen zuging, dessen Pistole zielstrebig auf ihn gerichtet war. Er hielt erst an, als die Mündung der Waffe genau auf seiner Brust aufsetzte. Nighton war um eine halbe Kopflänge größer, sein Körperbau und seine Präsenz und seine Gefährlichkeit als Yindarin machten ihn unmissverständlich zum überlegenen Gegner. Trotzdem klopfte mein Herz vor Sorge.
»Na los, drück doch ab, erschieß mich mit deiner tollen Waffe, du kleiner unfähiger Scheißer«, provozierte Nighton Owen und breitete die Arme aus, als ob er sich der Kugel opfern wollte.
Owen starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an und tastete hektisch nach einem Funkgerät.
»Ich brauche hier sofort Verstärkung! Der Hybrid ist gesich…«
Nighton lachte auf, als würde ihn die ganze Szene amüsieren. Noch bevor Owen den Satz beenden konnte, stieß Nighton ihn mit einem kraftvollen Stoß gegen die Brust, und Owen wurde meterweit nach hinten gegen eine Laterne katapultiert, bevor er mit einem dumpfen Aufprall auf dem Boden landete. Ein schmerzhaftes Geräusch, das an eine überdehnte Fahrradpumpe erinnerte, entfuhr ihm. Ich konnte nur zusehen, wie er sich herumwarf und rückwärts durch das nasse Erdreich rutschte, in den Boden griff und eine Handvoll Matsch in Nightons Richtung schleuderte. Es schien alles zu sein, was ihm in Anbetracht seiner Lage einfiel. Nighton ließ sich davon nicht im Geringsten stören. Fast gemächlich näherte er sich Owen. Als er ihn erreicht hatte, trat er ihm als erstes die Waffe aus der Hand, als würde er einen umherliegenden Ball kicken. Dann packte er ihn mit beiden Händen an der Schutzweste und riss ihn brutal in die Höhe. Mit einem donnernden Aufprall schleuderte er Owen gegen einen nahen Baum. Die Kraft dahinter war so heftig, dass der Baum bebte. Nightons Verwandlung in Sekeera vollzog sich teilweise. Seine Augen brannten gräulich vor Wut und seine Muskeln spannten sich vor Energie. Er grollte Owen laut und gefährlich an, ihn noch fester an den Baum drückend.
Da die beiden weiter entfernt waren, konnte ich nicht hören, was Nighton zu ihm sagte. Gebannt verfolgte ich die Szene, die sehr seltsam endete: Nighton stellte Owen auf die Füße, richtete seine Weste und ließ ihn dann einfach stehen. Anstatt das zu nutzen, reagierte Owen jedoch völlig falsch, indem er sich auf seine am Boden liegende Waffe stürzte. Er schoss Nighton drei, nein vier Mal in den Rücken. Jeder Schuss hallte laut und scharf durch die Nacht, und ich zuckte bei jedem einzelnen Knall zusammen.
Doch Nighton schien die Kugeln mit der Gleichgültigkeit eines Menschen zu betrachten, dem eine Fliege auf die Haut geflogen war. Trotzdem blieb er stehen, lachte einmal auf, verdrehte die Augen zum Himmel und wandte sich wieder zu Owen um. Der erkannte offensichtlich den fatalen Fehler, den er gemacht hatte, und brach plötzlich in die Dunkelheit auf, als hätte er die Hölle persönlich entfesselt.
Nighton wandte sich mir und dem Auto zu und kam mit einem festen Schritt zurück. Er stieg ein, legte den ersten Gang ein und beschleunigte mit einem Ruck. Der Wagen schoss vorwärts, und ich wurde ruckartig in den Sitz gepresst. Zum ersten Mal seit langem konnte ich tief durchatmen und schloss die Augen, während sich die Ereignisse der letzten Minuten in meinem Kopf abspielten. Was für ein Chaos! Ich hoffte inständig, dass Sam in Sicherheit war.
Als ich sie wieder öffnete, sah ich Nighton, der wie eine Statue auf die Straße starrte. Das Lenkrad knirschte unter seinen festen Griffen, und seine Augen waren weit aufgerissen – ob vor Wut oder Angst konnte ich nicht sagen.
»Nighton?«, flüsterte ich und legte ihm sanft eine Hand auf den Arm. Bei der Berührung zuckte er zusammen, als wäre er aus einem Albtraum gerissen worden. Er schien sich zu fangen und sah mich mit einem gemischten Ausdruck aus Sorge und Frustration an.
»Wieso bist du nicht angeschnallt?«, knurrte er, während er mich mit einem scharfen Seitenblick musterte. Ich blinzelte, da das meiner Meinung nach jetzt nicht das größte Problem war, kam der Aufforderung aber nach und schnallte mich an.
Dann drehte ich mich nach hinten und starrte aus dem Heckfenster. Meine Gedanken kreisten um Sam.
»Wir müssen umdrehen, Nighton! Sam ist noch im Park!«
Doch Nighton schüttelte den Kopf und entgegnete: »Der kommt klar. Zuerst bringe ich dich in Sicherheit.«
Ich wollte protestieren, doch mein Blick fiel auf Nightons linken Arm, wo sich rote Flecken bildeten, die sich bewegten. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Erschrocken sog ich die Luft ein und griff nach seinem Handgelenk, wo die Flecken besonders auffällig waren. So etwas hatte ich noch nie gesehen – nicht einmal bei mir als Yindarin. Besorgt stieß ich hervor: »Du bist verletzt!«
Nighton wollte davon offensichtlich nichts hören. »Egal«, zischte er. »Das ist nichts.«
»Nach nichts sieht es aber nicht aus! Owen hat dich angeschossen! Das muss doch wehtun!«
»Es tut nur weh, wenn ich dumme Fragen beantworten muss, deren Antworten auf der Hand liegen!« Sein schroffer Ton ließ mich zusammenzucken. Es war klar, dass es keinen Sinn hatte, weiter auf ihn einzureden. In diesem Moment war Nighton einfach zu aufgebracht, um zuzuhören. Ich hielt meinen Mund, während der Wagen durch die Nacht raste, und hoffte, dass Sam bald in Sicherheit war – und dass wir irgendwie einen Weg finden würden, hier wieder heil rauszukommen.