Stille kehrte ein, die anhielt, bis wir vor meinem Wohnhaus angelangten. Sam parkte das Auto in eine winzige Lücke. Ich stieg aus und zu meiner Verwunderung taten es mir die beiden gleich.
»Was habt ihr vor?« Ich schaute zwischen Penny und Sam hin und her.
»Wir kommen natürlich mit hoch«, erklärte Penny, als sei es das Selbstverständlichste der Welt und ging voraus, obwohl sie ja nicht mal wusste, wo ich wohnte. Kurz zögerte ich, dann folgte ich den beiden. Ein Teil in mir spielte mit dem Gedanken, Penny zu konfrontieren, doch der andere wusste nicht, ob ich das wirklich tun sollte. Immerhin wirkte sie völlig unbekümmert, und das obwohl Sam eben im Auto noch laut ausgesprochen hatte, dass ich eigentlich sauer war. Und zwar nicht wegen irgendeiner Lappalie, sondern weil Penny, die mir im Internat eine so wichtige Freundin geworden war, sich plötzlich nicht mehr für mich interessiert hatte. Dabei hätte ich ihren Support während meiner Krise echt gut gebrauchen können. Und irgendwie sah ich es auch nicht ein, dass ich diejenige sein sollte, die zuerst damit ankam.
Als ich oben im Haus die Wohnung aufschloss, kam mir Dad entgegen. Er trug Anzug und Krawatte und schien in Aufbruchsstimmung zu sein. Als er mich erblickte, stellte er erstaunt fest: »Du bist aber früh da.«
Penny und Sam drückten sich hinter mir in die Wohnung, sehr zu Dads wachsender Verwunderung. Er musterte die beiden und erkundigte sich neugierig und eine Spur weit hoffnungsvoll: »Wer seid ihr zwei denn? Geht ihr mit Jennifer in einen Kurs?«
Sofort korrigierte ich: »Nein, Dad, das sind Penny und Sam. Du weißt schon. Aus dem Internat. Wie Evelyn.«
In den Augen meines Dads glomm Erkenntnis auf. Er zögerte kurz, dann ließ er seine Krawatte los und streckte den beiden die Hand entgegen.
»Hm. Soso. Noch mehr von euch. Nun gut, dann nett, euch kennenzulernen. Wenigstens ist dieser Gigant nicht schon wieder bei dir.«
Penny kicherte. Sie wusste natürlich, dass mein Vater Nighton meinte. Mit ihrem zahnreichen Sympathieträger-Lächeln erwiderte sie: »Hi Mr. Ascot! Jen hat so viel Gutes über Sie erzählt! Es freut mich echt, Sie kennenzulernen.«
Mit ihrer Offenheit und dem Gebauchpinsel lockte Penny meinem Vater ein Lächeln ins Gesicht. Man merkte sofort, wie er seine Scheu vor Penny verlor. Als auch Sam sich vorgestellt hatte, verengte mein Dad jedoch die Augen, ihn fixierend.
»Dich habe ich doch letztens schon mal hier gesehen. Wohnst du in der Nähe?«
Sam öffnete schon den Mund, wahrscheinlich um sich rauszureden, doch ich kam ihm zuvor. Hastig erklärte ich: »Nein, Dad, äh, Sam passt auf mich auf. Er macht sozusagen das, was Nighton früher gemacht hat. Wegen der Dämonenattacken, weißt du?«
Diese Neuigkeit schien meinem Vater gar nicht zu passen. Damit hatte ich schon gerechnet, aber ich hielt es für besser, ihm gegenüber ehrlich zu sein. Und an sich war es ja eine gute Sache, dass immer einer in der Nähe war. Außer, Sams Absetzung galt ab jetzt für immer. Das wiederum würde bedeuten, dass ich von nun an Evelyn an der Backe haben würde. Die klaute wenigstens keine Socken. Wo steckte die eigentlich?
Brummelnd entgegnete mein Vater: »Hm, na fein, Junge, aber komm nicht auf den Gedanken, nachts bei meiner Tochter einzusteigen, hast du gehört?«
»Dad!«, fuhr ich meinen Vater an. Sam bekam im Hintergrund rosa Ohren und schaute peinlich berührt an die Wand. Penny hingegen kicherte wieder und versicherte aus dem Nichts heraus: »Oh, machen Sie sich nur keine Sorgen, Mr. Ascot, Samuel macht seinen Job ganz toll. Und ab nächster Woche löse ich ihn ab. Und dann bekomme ich hoffentlich ein Autogramm von Ihnen, ich bin nämlich ein großer Fan Ihrer Wer den Tod sät-Reihe!«
Damit hatte sie meinen Dad. Er plusterte sich begeistert auf. Bevor das hier jedoch in sein Autor-zu-Fan-Gespräch eskalieren würde, schnappte ich mir Penny und Sam und verkündete eilig: »Wir sind in meinem Zimmer, ja?«
»Moment!« Mein Vater stemmte die Hände in die Seiten seiner grauen Tweedjacke und sah mich an.
»Ich muss gleich zu meinem Verlag nach Edinburgh. Sie haben Interesse an meinem neuen Roman. Ich werde erst morgen Mittag wieder da sein. Anna ist bei einer Freundin, wo Thomas sie heute Abend abholt. Ich weiß schon, was du denkst, aber nein, ich will trotzdem, dass du heute Abend pünktlich daheim bist. Wobei ich dir als Vertrauensvorschuss eine Stunde mehr einräume. Und ihr bringt sie mir ja nicht in Gefahr!« Mit drohend geweiteten Augen zeigte mein Vater mit dem Autoschlüssel auf Penny und Sam, die sich fast ein bisschen erschreckten. Dad nahm den Schlüssel runter und kicherte schon wieder.
»War nur Spaß! Macht keinen Blödsinn, ja? Tschüss Jennifer, bis morgen!« Ich winkte ihm schief lächelnd.
Er schnappte sich seinen kleinen Reisekoffer und verließ die Wohnung. Als die Tür zufiel, seufzte ich auf und lief los in Richtung meines Zimmers. Die beiden folgten mir.
»Du hast aber einen nettenVater. Dass er mit deiner übernatürlichen Seite so gut klarkommt! Wenn mein Dad etwas ahnen würde…«, überlegte Penny laut. Ich öffnete die Tür meines Zimmers und brummte: »Du hast ihn nicht erlebt, als Nighton hier zum ersten Mal aufgetaucht ist. Er wäre ihm fast an die Kehle gesprungen.«
»Wer wäre wem an die Kehle gesprungen?«
Plötzlich stand Thomas vor uns. Er war gerade aus seiner schmuddeligen Dunkelkammer gekommen, aus der uns der Duft von alten Socken entgegenschlug. Er trug noch immer seinen Schlafanzug und ein Headset um den Hals. Ich sah, wie Sam neugierig geworden den Hals reckte, um einen Blick auf Tommys High-Tech-Computer werfen zu können. Ich winkte direkt ab und versicherte: »Niemand, Tommy. Wir sind gleich wieder weg.«
Mein Bruder musterte meine Freunde und ihm schien ein Licht aufzugehen.
»Seid - seid ihr etwa aus dem Internat? Das mit den Engeln und Dämonen?«, stieß er voller Begeisterung hervor.
Penny nickte und stellte sich meinem Bruder vor. Der schüttelte ihre Hand so heftig, dass es Penny durchgerüttelt hätte, wenn sie nicht ein überpowerter, machtvoller Engel gewesen wäre. Tommy entschuldigte sich sofort für seinen festen Händedruck, doch Penny winkte ab und lachte ihn breit an. Ich wollte schon vorschlagen, jetzt endlich in mein Zimmer zu gehen, doch da hatte ich meine Rechnung ohne Sam und seine Nerd-Seite gemacht. Der schob sich die Brille naseaufwärts und versuchte, an meinem Bruder vorbei in dessen Zimmer zu schielen.
»Warte mal!«, stieß er hervor und machte große Augen. »Bist du im Schlachtzug in Eiskrone? Auf heroisch oder normal? Hast du schon das Reittier vom Lich-König?«
Nun war auch Tommys Interesse geweckt und er musterte Sam neugierig. »Allianz oder Horde?«
»Für die Horde!«, brüllte Sam plötzlich so laut los, dass Penny und ich zusammenfuhren.
»Komm in mein Königreich!« Begeistert breitete Thomas die Arme aus und dann verschwanden die beiden einfach so in seinem Zimmer und knallten uns die Tür vor der Nase zu.
Penny und ich standen verdattert da.
»Ob wir ihn heute noch mal da rauskriegen?«, seufzte sie. Ich zuckte mit den Schultern und behauptete: »Aus der Gamerhöhle meines Bruders? Vergiss es. Schätze, die Gang ist jetzt auf dich und Evelyn geschrumpft.«
»Und dich«, korrigierte Penny sofort und lächelte mich an. Allerdings verrutschte ihr sonst so gewinnendes Lächeln, als ich es nicht erwiderte und stattdessen in mein Zimmer ging. Sie folgte mir. Dort warf ich meine Schultasche auf das Bett und kramte kurz in meinem Schrank. Penny stand in der Mitte meines Zimmers, die Daumen in den Gürtelschlaufen ihres gelben Hosenanzugs mit den aufgedruckten Sonnenblumen verhakt. Sie schaute sich interessiert um, aber ich spürte schon, dass sie gleich ein klärendes Gespräch mit mir beginnen würde. Und genauso kam es dann auch.
»Hey, Jen, sag mal, stimmt es, dass du böse auf mich bist?«, fragte sie vorsichtig. Mit dieser Frage, deren Antwort eigentlich auf der Hand lag, schaffte sie es, dass ich zu meinem Ärger zurückfand, den ich vor wenigen Tagen noch auf sie verspürt hatte. Ich strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr und entgegnete knapp: »Böse? Nein, Penny, böse ist das falsche Wort. Enttäuscht trifft es eher.«
Penny riss die Augen auf. Scheinbar war sie niemand, der mit Ablehnung gut umgehen konnte. Betreten wollte sie wissen: »Enttäuscht? Aber warum denn nur? Wegen - wegen deinem Kampf? Weil wir dir in Oberstadt nicht geholfen haben?«
Ich schüttelte den Kopf und setzte mich auf mein Bett.
»Nein. Nicht deshalb.« Ich holte tief Luft. War es egoistisch, zu verlangen, dass Penny als eine angeblich so gute Freundin wissen müsste, was der Grund war? Immerhin war ich nicht der Mittelpunkt der Welt. Kurz spielte ich mit dem Gedanken, anklagend darauf hinzuweisen, was sie verbockt hatte, doch dann entschied ich mich dagegen. So senkte ich den Blick auf meine Hände und erklärte leise: »Ihr habt mich alleingelassen. Ihr alle. Bis auf Sam. Gut, der war nur gezwungenermaßen im Hintergrund, aber er war wenigstens an meiner Seite. Von Evelyn habe ich ja nichts anderes erwartet, aber du? Wochenlang saß ich hier und habe nach Atem gerungen, während ihr alle durch die Weltgeschichte geturnt seid. Und das wenige Kilometer von hier entfernt. Du warst nicht einmal hier. Dabei hatte ich gedacht, wir beide wären gute Freundinnen.«
»Aber das sind wir!« Bestürzt kam Penny auf mich zu und setzte sich neben mich auf das Bett, eine Hand auf meinen Arm legend. Kurz schien sie mit sich zu hadern, dann fügte sie ernst hinzu: »Oh Jen, es tut mir so leid. Ich - ich glaube, ich hatte einfach Angst.«
Ungläubig hob ich die Augenbrauen an. »Vor mir?«
Penny schüttelte traurig den Kopf und versicherte: »Nein, nicht vor dir. Vor deinem Schicksal. Weißt du, als du noch ein Yindarin warst, habe ich dich immer heimlich bewundert, vor allem am Ende, als du dein Schicksal angenommen hattest. Und als du auf einmal freiwillig zum Mensch wurdest, um Nighton zu retten - Jennifer, ganz ehrlich, ich könnte dich nicht noch mehr bewundern. Nur leider hatte ich die Angst, dir als Freundin nicht mehr gerecht zu werden, und ich wusste auch gar nicht, mit dieser neuen Situation umzugehen. Und nach dem, was Sam uns über deinen Zustand erzählte, dachte ich, vielleicht willst du uns ja auch gar nicht mehr sehen. Weil wir dich an das erinnern könnten, was du verloren hast.« Sie zog den Kopf ein.
Damit nahm sie mir den Wind aus den Segeln. Plötzlich keimten Tränen in meinen Augen. Das entging Penny nicht. Mitleidig zog sie mich in eine feste Umarmung, die ich innig erwiderte. Dort presste ich hervor: »Wie kannst du nur sagen, dass du mir nicht gerecht werden könntest? Du bist meine beste Freundin, Penny!«
Nun schniefte auch sie verhalten, ehe sie wisperte: »Es tut mir wirklich leid. Ich habe einen Fehler gemacht. Vielleicht war mir das zwischendurch sogar klar, nur wollte ich es nicht sehen. Ich war so mit mir selbst und meinem anstehenden Aufstieg zur Seraph beschäftigt.«
Ich löste mich von ihr und wischte mir die Tränen von den Wangen. Penny tat es mir gleich, lachte aber unvermittelt auf und witzelte, auf mein Gesicht zeigend: »Du siehst aus wie ein Frosch beim Laichen.« Damit entlockte sie mir ebenfalls ein Auflachen.
»Selber«, entgegnete ich und warf ihr eines meiner Kissen an den Kopf. Wir lachten uns an. In dieser Sekunde fühlte ich mich befreit und froh, dass wir das hinter uns gebracht hatten. Penny hatte gute Beweggründe gehabt - für die konnte ich ihr einfach nicht wirklich böse sein.
»Du wirst jetzt also eine Seraph?«, wechselte ich das Thema und stand auf, um das verschmierte Make-Up um meine Augen zu entfernen. Im Spiegel sah ich Penny wild nicken. Sie zwirbelte an einer Strähne und erzählte mir stolz, dass sie die nächsten Monate oft in deren himmlischem Ort verbringen würde, um sich dort ausbilden zu lassen. Ich merkte ihr an, dass sie wahnsinnig stolz war. Also versuchte ich, Freude für sie zu empfinden und rang mir ein Lächeln ab. Doch Penny kannte mich gut genug, um zu wissen, dass mich noch etwas anderes beschäftigte. Ihre Antennen machten selbst den hiesigen Radiosendern Konkurrenz.
»Bedrückt dich was?«, wollte sie wissen. Ich verzog das Gesicht ein wenig und erzählte ihr daraufhin, das ich heute früh so seltsame Nachrichten bekommen hatte. Auch das mit Sam und der Socke lag mir auf der Zunge, doch ich entschied mich dagegen. Das würde Penny nur verletzen, und außerdem … vielleicht bedeutete es auch nichts.
Penny runzelte die Stirn. Sie schlug ein Bein über das andere, nahm eines meiner Kissen in die Hände und erkundigte sich: »Hast du es schon Nighton gesagt?«
Ich bejahte. Ihr Unterton entging mir nicht.
Penny fuhr fort. »Wo wir gerade von ihm sprechen - was ist da zwischen euch?«
Ich stockte, mich selbst im Spiegel anschauend. Es wäre besser, vorsichtig zu sein jetzt. So antwortete ich zögernd: »Da gibt es ein paar unüberbrückbare Differenzen, aber ich schätze, zurzeit arbeiten wir dran. Jedenfalls fühlt es sich nach gestern so an. Da hat er ein paar einleuchtende Dinge gesagt.«
Meine Freundin zog eine Augenbraue hoch. Ihrem Gesicht war deutlich abzulesen, dass ihr das nicht genügte.
»Unüberbrückbare Differenzen? Was soll das denn heißen? Was hat er angestellt? War es sehr schlimm? Sam hat erzählt, dass du fuchsteufelswütend warst, als Nighton bei dir aufgetaucht ist.«
Das brachte mich dazu, freudlos aufzulachen. »Das ist noch untertrieben.«
Für einen Moment musterte Penny mich, ehe sie die Arme vor dem Kissen verschränkte. Nachdenklich meinte sie: »Alles, was ich weiß, ist dass er zu dir wollte, aber nicht konnte. Ich glaube, ich habe noch nie jemanden so gegen seinen eigenen Körper kämpfen sehen. Wie er durch die Schlossgänge in Oberstadt getaumelt ist und immer wieder gesagt hat, dass er zu dir muss. Wenn du das mitbekommen hättest, wärst du vielleicht nicht so-«
Sie hörte auf zu sprechen, als ich ihr ruckartig meinen Kopf zuwandte.
»Nicht so was? So hart?« Ich musste aufpassen, meine Wut nicht durchblitzen zu lassen, die mich in diesem Augenblick wieder befiel. Penny wusste schließlich nichts von alldem, was Nighton gemacht hatte. Für sie war er einfach nur ein überstrenger Yindarin, der scheinbar auch noch Mitleid verdiente.
Unsicher schaute sie mir in die Augen, ehe sie leise nachhakte: »Da ist noch mehr, oder? Willst du drüber reden, was zwischen euch war?«
Kurz haderte ich mit mir, dann lenkte ich meinen Blick auf meine Hände und schüttelte den Kopf.
»Vielleicht irgendwann mal«, wich ich aus. Penny seufzte, doch ich hatte vorerst genug von diesem Thema. Also bat ich: »Lass und über was Anderes reden, ja?« Ich wollte mir von solchen Gedanken jetzt nicht die Laune verderben lassen. Stattdessen beschloss ich, Smalltalk zu betreiben und fragte bemüht unbekümmert: »Und, was habt ihr so die letzten Wochen getrieben?«
»Ach!« Penny machte eine abwehrende Handbewegung und verzog das Gesicht, als würde sie etwas Unangenehmes verdrängen müssen. »Wir waren jeden Tag unterwegs. Es war schrecklich. Ich wollte einfach nur Tharostyns Bibliothek nach was Gutem zu lesen durchschauen oder mich bei den Seraph verausgaben, aber stattdessen hat Nighton uns umhergescheucht, angeblich, um uns weiter auszubilden. Ich hatte so viele blaue Flecken von den Übungskämpfen!«
Ich schnaubte auf. »Hat er den Oberlehrer raushängen lassen? Jaja, das kann er wirklich gut. Sag mal, wie läuft es eigentlich zwischen dir und Sam?«
Bei dieser Frage riss Penny die Augen auf und starrte mich an.
»Was?!«, stieß sie hervor und senkte sofort die Stimme, als ihr aufzufallen schien, dass sie beinahe geschrien hatte.
»Was meinst du damit? Alles läuft super, wieso auch nicht? Willst du mir was andichten? Ich will nichts von Sam, wieso sollte ich, ich meine, schau ihn dir an, er ist ein Nerd mit braunen, wuschligen Locken, und er riecht nach Froot Loops und diesem maximal albernen Einhornshampoo und - ja, ach je, da läuft leider gar nichts.« Zu Beginn hatte sie noch aufgeregt und fast schon entrüstet gesprochen, aber gegen Ende schwenkte sie plötzlich um und ließ die Schultern sacken.
»Ich wusste nicht, dass es dir aufgefallen ist«, fügte sie missmutig hinzu und zog kurz ein Gesicht, als würde sie lauschen. Vermutlich um festzustellen, ob Sam was mitgehört hatte.
Ich kicherte und erwiderte: »Evelyn und ich wissen das schon seit Internatszeiten. Das wäre sogar einem Blinden aufgefallen, dass du auf Sam stehst. Wieso fragst du ihn nicht einfach mal, ob er mit dir was allein unternimmt?«, schlug ich vor und machte einen Haargummi in meinen Zopf.
Penny grummelte: »Weil er mir schon gesagt hat, dass ich für ihn die Schwester bin, die er nie hatte.«
Ich stieß Luft aus und ächzte: »Autsch. So ein Idiot! Aber trotzdem musst du ihn fragen, damit du ihm zeigen kannst, dass du alles andere als eine Schwester für ihn bist.«
Doch Penny schüttelte den Kopf und tätigte dann die kryptische Aussage: »Leider sehe ich nicht aus wie du.«
Leider sah sie nicht aus wie ich? Das klang ja so, als würde sie schon vermuten, dass Sam auf mich stand! Diese Anspielung hatte noch gefehlt. Auweia. Sockenalarm!
Sie erhob sich, als ich nicht wusste, was ich darauf sagen sollte.
»Egal. Wir sollten langsam los. Lass uns Sam holen«, murmelte sie.
Ich wollte ihr noch irgendeine lahme Floskel auftischen, da mir nichts anderes in den Sinn kam, doch da war sie schon an mir vorbeigelaufen und auf den Flur getreten. Mir fest vornehmend, sie nochmal auf Sam anzusprechen, folgte ich ihr und hämmerte an Tommys Tür. Das Gejohle drinnen hörte auf, es rumpelte und dann tauchte mein Bruder an der Tür auf.
»Du störst«, beschwerte er sich. Ihn ignorierend versuchte ich, an ihm vorbeizusehen und richtete das Wort direkt an Sam, der an Tommys' überfülltem Schreibtisch saß und sich mit Chips vollstopfte.
»Sam? Wir wollen los. Kommst du?«
Sam stellte die Schüssel weg, fegte sich die Krümel vom Shirt, kam zur Tür und plusterte sich dort auf.
»Die brauchen mich, ich bin gerade der Hahn im Korb und die können ohne mich keinen Spaß haben«, erklärte er bedauernd. »Aber du hast ja jetzt meinen Gamer-Tag, dann können wir mal zusammen zocken.« Tommy nickte begeistert.
Ich gab ein künstliches Würgen von mir und auch Penny rollte mit den Augen.
Dann aber machten die beiden Jungs etwas total Skurriles: Mit einem lauten BZZNNNGG-Geräusch schwang Tommy plötzlich ein Luftschwert durch umher und Sam tat, als hätte er auch eins und schwang dagegen. Eine Art bizarrer Showkampf mit lauter BZZNG!- und dazwischengerufenen PEW-PEW!-Geräuschen entbrannte im Flur und ich fragte mich insgeheim, was ich nur angerichtet hatte. Die zwei Nerds auf einem Haufen, das konnte ja nur schiefgehen!
Penny schien zuerst der Geduldsfaden zu reißen, denn plötzlich zuckte über ihre linke Schulter ein riesiger, schimmernder Flügel hervor, mit dem sie Sam einen heftigen Nackenklatscher verpasste. Der jaulte auf und rieb sich den Hinterkopf. Selbst ich zuckte vor Überraschung zusammen. Tommy hielt sprachlos inne und schaute die ungeduldige Penny zutiefst beeindruckt an.
»Wow!«, stieß er hervor und sah mit an, wie sich Pennys Flügel in Luft auflösten. »Du hast ja Flügel! Aber dürft ihr andere mit denen überhaupt hauen? Müssen Engel nicht nett sein? Hey, darf ich deine Flügel mal anfassen?«
Meine Freundin hob das Kinn an, Thomas musternd.
»Ja, ja, nein und nein«, lehnte sie gedehnt ab. Jetzt musste ich kichern.
»Bis später, Tommy. Denk bei deinem weltverändernden Schlachtzug dran, Annie abzuholen«, verabschiedete ich mich von meinem Bruder, der ein wenig enttäuscht über Pennys Abfuhr wirkte. Dennoch wandte er mir seinen Blick zu und zog eine Grimasse, ehe er mir scherzhaft drohte: »Dann denk du dran, nicht zu spät nach Hause zu kommen, sonst erzähle ich Dad, dass du den ganzen Abend mit deinem umherlaufenden Dachrinnentrinker rumgemacht hast!«
Mir fiel die Kinnlade hinab und ein Auflachen entwich wir. Natürlich war mir klar, wen Thomas mit 'Dachrinnentrinker' meinte. Als Antwort zeigte ich ihm einenMittelfinger, er zeigte mir fies lachend gleich zwei und donnerte die Tür zu.
Dieser Arsch!