- Jennifer -
Der Thronsaal hatte sich nicht verändert. Er war genauso kalt und furcheinflößend wie damals, als Selene mich gefangen genommen und Nighton mich gerade noch rechtzeitig gerettet hatte.
Doch dieses Mal war der Saal nicht leer. Zwischen den turmhohen Säulen standen Hunderte Wesen, alle mit einem Blick, der nur eines ausstrahlte: Hunger. Auf das, was mir passieren würde. Ich konnte kaum fassen, was sich da alles versammelt hatte – große, unförmige Kreaturen mit fahler Haut und messerscharfen Zähnen, geflügelte Schlangen, die ihre gelben Fänge bleckten, muskelbepackte Ungeheuer mit Keulen, Füchse mit blutrotem Fell und glühenden Augen, aufrecht stehende Stiere, Schattengestalten in schwarzen Kapuzen … eine Parade des Unheils, umgeben von einer düsteren Aura, die mir die Luft abschnürte. Sie alle bildeten ein Oval, und in dessen Mitte stand – fast wie ein Makel – die massive Wand, als hätte sie immer dort gestanden. Und vor ihr posierte Selene in voller Pracht. Ihre Augen funkelten im Licht der Feuerschalen, die an den Wänden flackerten.
Mein Herz stolperte, als sie meinen Blick erwiderte. Die Angst wuchs, fraß sich von meinen Beinen aufwärts, biss mir in die Kehle und drängte die Luft aus meinen Lungen. Wenn ich hier war, in Unterstadt, dann war alles aus.
In diesem Moment spürte ich Dorzars Hände unter meinen Achseln, die mich wie eine Puppe hochhoben, ein Stück vorwärts schleiften und auf die Knie drückten, direkt vor Selene. Der Saal verstummte mit einem Mal, und das Rauschen in meinen Ohren schien das Einzige zu sein, das noch existierte.
Selenes dunkle Silhouette löste sich vom Hintergrund, als sie bedächtig auf mich zuging. Der lange Dolch in ihrer Hand wirkte dabei wie ein funkelndes Versprechen. Sollte das jetzt mein Ende sein? Das letzte, was ich je sehen würde?
Als Dorzar hinter mir eine Hand auf meine Schulter legte, schoss ein Schauer der Verzweiflung durch meinen Körper. Ich war so verängstigt, dass selbst mein Herzschlag drohte, mich zu verraten.
Selene beugte sich vor, ihre eiskalten Augen fixierten mich. Ein schreckliches Lächeln legte sich auf ihre Lippen, ein Ausdruck finsterer Genugtuung, als sie flüsterte: »Willkommen zurück in der Halle der Toten, Jennifer. Wie schön, dass du mein Gemäuer wieder beehrst. Das letzte Mal hattest du es ja recht eilig, zu verschwinden.« Sie lachte.
Vielleicht war die Idee von Nighton mit dem Peilsender doch eine gute Idee gewesen... Wenn er nur hier wäre!
Selene ließ sich meine Panik keineswegs entgehen. Ich sah, wie sie das genoss, ihr Lächeln vertiefte sich und wurde noch grausamer, als sie langsam an mir vorbeischritt.
Plötzlich hörte ich ihre Stimme dicht an meinem Ohr.
»Weißt du, es gab etwas an dir als Yindarin, das ich fast schon bewundert habe – deine unfassbar große Klappe. Die vermisse ich. Schade, dass du jetzt nur noch ein Mensch bist. Die Herausforderung ist so … langweilig geworden. Aber immerhin bist du noch zu einigen Dingen nütze.« Selenes Stimme war eine Mischung aus Spott und Kälte. »Anfangs warst du nichts weiter als eine lästige Fliege, mit deinen widerlichen Gefühlen für Nighton und deinem Yindarin-Dasein. Aber alles ist perfekt gelaufen, genau wie ich es geplant hatte. Glückwunsch, Jennifer. Du bist soeben aufgestiegen – zum Opferlamm.«
Hinter uns ertönte ein dumpfer Knall, und ich hörte etwas Schweres, Fleischiges auf den Boden fallen. Selene drehte sich nur leicht. »Du bist zu spät!«, zischte sie, während sich Schritte näherten. Riakeen trat neben uns. Ihr Gesicht war eine steinerne Maske.
Selene musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. »Was ist der Grund für deine Verspätung?«, fragte sie in einem gefährlich ruhigen Ton.
»Der Yindarin … er hat Eloria getötet«, antwortete Riakeen.
Das zu hören, löste einiges in mir aus. Hoffnung, Erleichterung... und Genugtuung. Endlose Genugtuung.
Einige Sekunden verstrichen, in denen Selene ihre Untergebene abschätzte, dann lachte sie trocken auf und schloss ihre Finger fester um den Dolch. »Und? Was interessiert mich das Leben eines wertlosen Engels?«
Riakeen schluckte schwer, als hätte sie Angst, das Folgende zu sagen: »Nighton hat sie gefoltert, und sie hat alles erzählt… er weiß jetzt, wo wir sind.«
Eine gespannte Stille legte sich über den Saal, die kaum zu ertragen war. Selene atmete langsam aus, als müsste sie sich beherrschen. Schließlich raunte sie: »Im Herzen immer noch mein Scherge, wie es aussieht. Ich bin fast stolz. Zu schade, dass er die Seiten gewechselt hat, aber wer weiß, vielleicht besteht ja doch noch Hoffnung. Und du, Riakeen? Hast du nur zugesehen? Warum hast du sie nicht am Reden gehindert?« Sie schnalzte abfällig mit der Zunge, während Riakeen panisch schluckte und hervorstieß: »Der Yindarin ist so mächtig, ich wollte nicht–«
Selene unterbrach sie mit einem Hieb, der Riakeen wie ein Spielzeug quer durch den Raum schleuderte. Die Dämonin prallte mit voller Wucht gegen eine Säule, die Risse bekam, Staub rieselte von der Decke. Vor Schmerz keuchend richtete sie sich langsam wieder auf.
»Was liegst du dort herum?«, knurrte Selene und fuchtelte genervt in meine Richtung. »Steh auf und hilf bei dem Ritual!«
Riakeen rappelte sich sofort auf, ging zur Wand und kam mit einem glänzenden Kelch voller dunkler Insignien zurück, den sie fest umklammert hielt. Sie stellte sich links von mir auf, ihre rechte Gesichtshälfte knallrot und leicht geschwollen.
Ich hatte die gesamte Zeit nur mit angehaltener Luft zwischen allen Beteiligten hin und her gesehen. Das, was ich gehört hatte, hatte mir Hoffnung gegeben. Immerhin war Nighton noch am Leben, und er wusste, wo ich war - alles gute Zeichen. Doch dass das nichts mehr als eine lose Hoffnung war, wurde mir im nächsten Augenblick bewusst. Selene gab Dorzar einen knappen Wink. Er griff sofort in den Saum meines Pullovers und riss ihn grob abwärts, sodass meine rechte Schulter freigelegt wurde. Mein Atem stockte, und ich starrte Riakeen entsetzt an, meine Glieder wie eingefroren, während die Panik noch intensiver in mir hochstieg. Ich konnte mich nicht rühren.
Selene strich mir mit ihrer Hand über den Kopf, als würde sie eine Katze streicheln – dann, ohne Vorwarnung, schabte die Klinge des Dolches über meine Wange. Ich schloss die Augen, in einem nutzlosen Versuch, diesen Moment wegzuwünschen. Wie gern würde ich mich wehren. Doch ich war nur ein Mensch. Ein machtloser Mensch.
Das Messer verschwand, aber kaum hatte ich aufatmen können, setzte im Hintergrund ein dumpfer, monotoner Rhythmus ein. Es war das stampfende Dröhnen von hunderten Füßen, die wie im Takt eines grausamen Rituals auf den Boden schlugen. Selenes Hand verkrallte sich in meinem Haar, zog meinen Kopf zur Seite, bis mein Hals freigelegt war. Mein Herz verkrampfte.
Bevor ich auch nur einen Atemzug tun konnte, stach die Dämonengöttin zu. Der Dolch bohrte sich tief in meinen Halsansatz, direkt oberhalb des Schlüsselbeins. Einen Moment lang war da nichts. Kein Schmerz, kein Gefühl – nur mein Blut, das sich heiß und dickflüssig über meinen Pullover ergoss. Verwirrt wollte ich die Wunde berühren, nur um zu wissen, ob das, was ich fühlte, real war. Doch bevor meine Finger die Wunde erreichten, packte Dorzar fest meinen Arm und hielt ihn in der Luft. Langsam sah ich zu ihm hoch, und seine Mundwinkel verzogen sich zu einem höhnischen Grinsen.
Dann setzte ein kalter Druck auf meiner Haut ein. Riakeen, die sich vor mich gekniet hatte, presste den Kelch gegen die Wunde. Ein dumpfes, gleichmäßiges Plätschern ertönte, als mein Blut in den Kelch floss, tiefrot, mit diesem metallischen Geruch, den man unmöglich vergessen kann. Mein Blut. Die Gewissheit darüber brachte den Schmerz mit sich – ein grauenvolles Brennen im Hals, so scharf, dass ich mich krümmte und ein Aufschrei meinen Lippen entkam. Mir wurde fast schwarz vor Augen.
Selene ließ mich los und trat vor mich, mit einem irren Funkeln in den Augen. Dann hob sie den Dolch an ihren Mund, leckte mein Blut von der Klinge und kostete es, fast als wäre es Teil des Rituals. Doch plötzlich erstarrte sie, ihre Augen weiteten sich. »Was?«, hauchte sie und starrte mich an, als hätte sie etwas gesehen, das sie nicht begreifen konnte.
Ich öffnete den Mund, doch nur ein heiseres Röcheln kam heraus, während ich gegen die drohende Ohnmacht ankämpfte.
»Etwas ist anders …«, murmelte Selene, kostete das Blut erneut und drehte den Dolch in ihrer Hand. »Du … hast das Geschenk der ersten Götter schon erhalten, nicht wahr?« Sie hob mein Gesicht an, hielt mich fest, während ich nur stöhnend nicken konnte. Dass sie das Wort 'schon' benutzt hatte, was auf gewisse Weise bedeuten musste, dass sie davon gewusst hatte, bevor ich mit Tharostyn den Löwenkopf besuchte, realisierte ich gar nicht.
Ihr Blick verfinsterte sich, ein Ausdruck schierer Gier trat in ihre Augen. »Etwas früher als gedacht, muss ich zugeben... für den armen Asmodeus ist das wirklich höchst ärgerlich.«
Am liebsten hätte ich ihr gesagt, sie solle zur Hölle fahren. Doch mein Atem ging schwer, meine Lider sanken, und mir wurde zunehmend kalt. War das … Sterben?
»Lasst uns beginnen.« Selenes Stimme klang befreit, fast als hätte sie endlich den Schlüssel zu etwas Großem gefunden.
Riakeen hob den Kelch an und schwenkte ihn vor meinem Gesicht hin und her. Das dumpfe Plätschern meines Blutes an den Wänden des Kelchs klang viel zu laut in meinen Ohren.
Dorzar hielt mich immer noch fest. Seine Finger gruben sich in meine Schultern, während Riakeen den Kelch an Selene übergab. Die Dämonengöttin trat zur Wand, kniete sich nieder und stellte den Kelch ab. Dann tauchte sie zwei Finger in das Blut und zog eine Linie von der Wand hinunter zum Kelch, als wäre es eine Art heilige Verbindung. Im Thronsaal wurde es still, als Selene eine Hand hob.
Ein leises Knacken durchbrach die Stille, und die Wand schien das Blut aufzusaugen. Ich spürte, wie mein Kopf schwer wurde und mein Körper langsam nach vorne sackte, doch Dorzar hielt mich aufrecht. Noch ein Knacken, diesmal tiefer und intensiver. Irgendetwas begann, sich in der Wand zu bewegen, und dann brach ein Stück Stein heraus – und ich erkannte, was es war. Eine Hand. Eine blassgraue, verkrümmte Hand streckte sich aus der Wand, tastete herum, bis sie auf die Blutspur stieß, die vom Kelch zur Wand führte. Ich starrte, unfähig zu begreifen, was ich da sah.
Die Hand erstarrte, und ein langer Arm folgte, Gesteinsbrocken bröckelten ab und fielen zu Boden, die Wand zersprang unter dem Druck. Nach und nach kamen Schultern, ein zweiter Arm, ein Kopf, ein Torso. Es war wie eine groteske Geburt aus Stein.
Schließlich fiel die Wand mit einem donnernden Krachen in sich zusammen, eine Hitzewelle strömte durch den Raum, und vor uns stand ein Mann. Nackt, verdreckt, seine Haut stellenweise stark gerötet und geschwollen, und da, wo seine Haare sein sollten, hatte er verbrannte Flecken. An einigen Stellen hing ihm das Fleisch in Fetzen von den Gliedmaßen, aber das war das Letzte, was meine Aufmerksamkeit fesseln konnte – ich war zu schwach, um mich noch richtig zu entsetzen.
Der Mann taumelte, machte einen Schritt und fiel dann auf alle Viere. Ein tiefes Stöhnen entkam ihm, wie ein Tier in Agonie. Selene kniete sich neben ihn, legte eine Hand auf seinen Rücken und schob ihm den Kelch hin. Sie sagte etwas zu ihm, doch ihre Worte verschwammen in meinem Kopf. Der Mann griff nach dem Kelch, setzte ihn an die Lippen und begann, gierig zu trinken. Als das Blut seine Lippen erreichte, hob er den Blick und unsere Augen trafen sich. Ein Schauer lief mir über den Rücken, und ich zuckte unwillkürlich zusammen.
Er trank den Kelch leer, ließ keinen Tropfen zurück. Selene sah zu Riakeen, die den Mann mit glühenden Augen beobachtete.
»Hol einen Umhang«, befahl Selene, und Riakeen stob sofort davon.
Selene zog ihren Gast langsam auf die Füße. Ich war längst nicht mehr wichtig. Selbst Dorzar ließ mich los, und ich sackte nach vorne, meine Knie weich wie Wachs. Ein taubes Gefühl breitete sich in meinen Händen und Füßen aus, und mit fahrigen Bewegungen tastete ich nach der Wunde an meinem Hals, legte eine Hand darauf, auch wenn das jetzt sowieso nichts mehr brachte.
Mit Mühe hob ich den Kopf – und da war sein Blick, starr auf mich gerichtet. Etwas an ihm war so falsch, dass selbst mein benebelter Verstand die Warnung spürte. Sein Gesicht war scharf und viel zu perfekt, mit hohen Wangenknochen und Augen, die dunkel glühten, irgendwo zwischen Schwarz und einem tiefen Rot. Sie schienen jede Wärme aus der Luft zu saugen. Seine Lippen bildeten eine schmale Linie, hart und unnahbar – als würden sie sich nur dann zu einem Lächeln verziehen, wenn es jemanden in den Abgrund reißen konnte. Tiefschwarze Haarsträhnen, die sich in diesem Moment aus seiner Kopfhaut schoben, fielen wirr über seine Schultern und rahmten dieses Gesicht.
Seine Haut wirkte merkwürdig aschfahl, fast wie aus Stein gemeißelt. An einigen Stellen schimmerten dunkle, rituelle Narben und Symbole, eingraviert wie dämonische Zeichen. Diese Narben wirkten wie Überbleibsel aus einer anderen Welt, wie die Spuren der Hölle, die sich in seinen Körper eingebrannt hatten. Hinzu kam, dass er groß war, mit einer schlanken, muskulösen Statur. In jeder Bewegung lag eine kontrollierte Kraft, als könnte er mich und alles um uns herum in einem Wimpernschlag vernichten. Selbst als Mensch spürte ich, dass hier kein gewöhnlicher Dämon vor mir stand. Das war etwas anderes. Etwas Älteres, Dunkleres.
So also sah er aus. Mein leiblicher Vater Asmodeus, ein Primal unter den Dämonen. Erst schenkte er mir das Leben, und nun ich ihm. Der Unterschied war nur, dass ich es nicht freiwillig getan hatte.
Da kam Riakeen zurück und half Selene, den Mann in einen dunklen Umhang zu hüllen, während ich mich immer mehr in einem dumpfen Nebel verlor. Mein Gehirn arbeitete kaum noch, das Einzige, das ich zuerst wahrnahm, war eine schneidende Stimme, die zu mir durchdrang.
»Wie lange war ich fort?« Die Stimme war hart und befremdlich scharf.
»Etwas mehr als neunzehn Jahre, mein Lord.« Selenes Ton hatte etwas Lauerndes, voller Ehrerbietung, als wollte sie ihm jede Zuwendung geradezu in den Weg legen.
Entkräftet hob ich den Kopf, drückte mich mit den Händen vom Boden hoch und kämpfte mich Zentimeter für Zentimeter in eine stehende Position. Seltsamerweise schaffte ich es tatsächlich, mich aufzurichten – ein Wunder, dass mein Körper das überhaupt noch konnte.
Mein Wanken zog die Blicke der beiden auf mich. Selene stand dicht bei Asmodeus, der, in einen grauen Umhang gehüllt, zu mir herübersah, mit einem Ausdruck, der zwischen distanziertem Interesse und einem Hauch von Misstrauen lag. Ich hob mein Kinn, obwohl mir das Atmen schwerfiel, und presste eine Hand gegen die Wunde an meinem Hals, während ich mir mit der anderen einige Haarsträhnen aus dem Gesicht strich.
Asmodeus neigte den Kopf leicht zur Seite, und seine Augen wurden dunkel, als er mich ansah, wie etwas, das ihn verstörte und gleichzeitig faszinierte. »Und das muss dann wohl...?« Er verstummte. Seine Worte klangen fast beiläufig, als könnte ich alles Mögliche sein – oder nichts.
Selene warf mir einen verächtlichen Blick zu. »Ja. Das ist sie. Wie ich es versprochen habe. Ein leeres Gefäß mit deinen Genen. Nur das mit dem Yindarin ist... schiefgegangen. Er hätte auf mich übertragen werden sollen, nicht auf meinen Schergen.«
Asmodeus ignorierte Selenes Worte und schob sie beiseite, sein anfängliches Misstrauen wurde plötzlich zu etwas anderem – purer Neugierde, wie bei einem Sammler, der eine überraschend seltene Münze in den Händen hält. Er trat auf mich zu, mit unsicheren Schritten, als wäre sein Körper noch nicht an diese Welt gewöhnt, aber sein Blick fixierte mich unerschütterlich, ohne einen Hauch von familiärer Verbindung.
Ich wich zurück, bis ich an einen steinernen Tisch hinter mir stieß und mich mit einer Hand daran abstützte. Den Kopf wandte ich ab, alles in mir sträubte sich gegen die Nähe dieses Mannes.
Asmodeus blieb nur Millimeter von mir entfernt stehen, und ich konnte das Prickeln der Kälte in seiner Ausstrahlung spüren.
»So.« Seine Finger, glühend und fordernd, packten mein Kinn und zwangen mich, ihm direkt in die Augen zu sehen. Ich spürte das Blut in mir schneller pulsieren, aber ich zwang mich, ihm mit einem hasserfüllten Blick zu begegnen, ein Funken Trotz, den ich mir bewahrte.
Er zog das Kinn leicht an und musterte mich intensiv, fast analytisch. »Du hast das Gesicht deiner Mutter«, murmelte er dann, mit einem Grinsen, das seine Zähne entblößte – sie waren blutig, und mein Magen zog sich zusammen. Von meinem Blut?
Bevor ich begreifen konnte, was geschah, war er näher bei mir, seine Arme schoben sich um mich, kühl und fest. Es war keine richtige Umarmung – eher eine Art Klammer, die mich fixierte, ein Griff, der keinerlei Wärme ausstrahlte. Sein Kinn senkte sich so nah an mein Gesicht, dass ich das leise Rauschen seines Atems spüren konnte. Die Ränder seines Umhangs streiften meine Schultern, und die Berührung seiner Haut ließ mich frösteln, als würde jede Faser meines Körpers instinktiv versuchen, Abstand zu halten. Alles in mir zog sich zusammen.
»Mein Blut fließt in dir«, raunte er, als wäre es eine intime Wahrheit, die nur wir beide teilten. Seine Stimme war leise, doch ich hörte das Gift in ihr, ein bitteres Einfordern von etwas, das ich ihm nie geben wollte.
Ich biss die Zähne zusammen und hielt die Luft an, den Ekel gegen ihn niederkämpfend. Doch sein Griff wurde nur noch fester, seine Finger schienen meine Haut zu durchdringen, fast als würde er versuchen, mich noch tiefer in seinen Einfluss zu ziehen, bis ich nicht mehr entkommen konnte.
»Ich will alles von dir wissen, Tochter. Fast zwanzig Jahre lang habe ich nun schon auf diesen Moment gewartet. Ich habe bestimmt einiges verpasst.«
»Einen Scheiß werde ich dir sagen, und nenn mich nicht Tochter!« Ich weiß nicht, woher ich den Mut nahm, so mit diesem Mann zu reden. Mein Atem ging stoßweise, und ich spürte, wie die Worte mit jedem Herzschlag mein Blut schneller durch meinen Körper jagten.
Für einen Moment schien Asmodeus überrascht zu sein, dann ließ er mich los und drehte sich zu Selene, die uns mit ihrer üblichen, kühlen Miene beobachtete. Die Zwillinge standen daneben, unsicher, wie sie auf die Situation reagieren sollten.
»Sie gefällt mir!« Asmodeus’ Stimme klang fast … erfreut. »Kind, du bist mir doch ähnlicher, als es dir vielleicht lieb ist.«
Dann lachte er leise, ein raues, bedrohliches Knurren, das plötzlich verstummte, als er sich mit einem Ruck an den Magen griff. Etwas schien nicht zu stimmen. Sein Gesicht verzog sich, und er krümmte sich zur Seite, bevor ein Schwall blutroter Flüssigkeit aus seinem Mund hervorsprudelte. Selene trat sofort näher. Der Ausdruck ihres Gesichts hatte sich zu einer angespannten Grimasse verzerrt.
Asmodeus tastete nach seinen Lippen, betrachtete das Blut an seinen Fingern und murmelte heiser: »Das … das ist urzeitliches Blut.« Er packte Selene an der Schulter, klammerte sich an sie wie ein Ertrinkender. »Ich hätte ihr reines Blut gebraucht!«
»Ich weiß, ich weiß. Die Engel waren etwas vorschnell. Wir werden dafür sorgen, dass du es bekommst. Uns fällt schon etwas ein, mein Lord«, beschwichtigte sie ihn hastig und zog ihn ein Stück weg von mir. Mit einem schnellen Befehl wies sie Dorzar an, ihn in ein Gemach zu bringen.
Meine Knie gaben nach, und ich rutschte langsam am Tisch entlang, immer weiter Richtung Boden, doch ein reißender Schmerz brachte mich abrupt zurück in die Realität. Selene hatte mich an den Haaren gepackt, mich brutal nach oben gezogen und mir die Kehle umfasst. Ehe ich mich wehren konnte, schleuderte sie mich auf den Tisch und beugte sich mit einem bösartigen Gesichtsausdruck über mich. Ein Aufschrei entrang sich mir, die Wunde an meinem Hals brannte schmerzhaft, und als sie meinen Kopf weit in den Nacken bog, knackte meine Wirbelsäule. Die Qual war unerträglich.
»Wollen wir doch mal sehen, wie lange dein Yindarin diesmal braucht, um dich zu befreien«, flüsterte sie mir ins Ohr. »Aber zuerst–« Sie legte eine Hand auf meine Wunde, und augenblicklich spürte ich, wie ein kühles, fast flüssiges Gefühl über meine Haut rann. »–muss ich dich wohl heilen. Nicht dass du mir stirbst – wir haben schließlich noch Pläne mit dir. Große Pläne!«
Dann riss sie mich hoch und schleifte mich zurück zu Riakeen, die bereitstand.
»Bring unseren Gast in sein Zimmer. Und lass sie ja nicht entwischen. Wenn der Yindarin hier auftaucht, um sein Liebchen zu retten, will ich es rechtzeitig erfahren.«