Am nächsten Tag kam Evelyn bereits zurück in die Kirche. Sie wirkte zwar noch ein wenig angeschlagen, aber zum Glück war sie wieder auf den Beinen. Kaum trat sie ein, fiel ich ihr um den Hals, und sie quittierte das mit einem unwirschen Knurren. Die Erleichterung war so überwältigend, dass ich fast das Heulen anfing, aber ich biss mir auf die Lippen und hielt mich zurück. Ich wollte stark bleiben – um jeden Preis.
Der Sturm draußen rüttelte an den Fenstern, der Schnee prasselte unaufhörlich gegen die Mauern, und eine kriechende Kälte machte die Kirche düster und bedrückend. Trotz allem versuchte ich, diesen Tag irgendwie normal zu gestalten. Immerhin hatte Sam heute Geburtstag, und Penny und ich hatten beschlossen, ihm einen Star-Wars-Kuchen zu backen, solange er auf Patrouille war. Das uferte schnell etwas aus. Am Ende hatten wir ein zwei-stöckiges Gebilde mit mehreren Buttercreme-Schichten und einem verzerrten Fondant-Yoda obendrauf, bei dem ich erst mal nachfragen musste, wer dieser schrumpelige kleine Kerl überhaupt war.
Während ich mich mit Backen und dem üblichen Krimskrams abzulenken versuchte, spürte ich den Schatten des gestrigen Angriffs immer noch im Nacken. Die Angst, die ich doch gerade erst in den Griff bekommen hatte, schlich wieder näher und pochte in mir. Aber ich zwang mich, durchzuhalten, mir nicht zu sehr anmerken zu lassen, wie angespannt ich war. Zwar war ich nicht die Einzige, die sich Gedanken machte- der Einbruch des Dämons und Evelyns Verletzung hatte bei allen für einen gehörigen Schreck gesorgt. Aber trotzdem wirkte keiner so richtig nachhaltig betroffen von dem Ereignis. Also bis auf Evelyn. Und Nighton und natürlich mich. Jeder lachte und scherzte, und ich bemühte mich, nicht allzu auffällig den Raum zu scannen oder ständig zu checken, wo Nighton war. Ich wollte den Tag genießen und weitermachen – normal weitermachen, als ob diese Angriffe keine Bedrohung wären.
Nighton verbrachte den Nachmittag mit Eloria und Gil. Die drei saßen auf den Sofas, vertieft in ernste Gespräche über Kampftechniken, Feinde, Selene und Pläne, während Evelyn mit finsterem Gesichtsausdruck auf ihrem Sofa lag und den Fernseher immer lauter stellte, bis die anderen sie gereizt ansahen.
Gegen fünf Uhr nachmittags kam Sam von seiner Patrouille zurück, und Penny und ich empfingen ihn mit dem monströsen Kuchen. Sobald er das Mittelschiff betrat, stimmte Penny ein schiefes Geburtstagslied an, bei dem ich, als einzige Begleitung, halbwegs mitsang. Nighton schüttelte nur schmunzelnd den Kopf, Eloria und Gil sahen amüsiert zu, und Evelyn reagierte passiv-aggressiv, indem sie den Fernseher einfach noch lauter machte.
»Happy Birthday!«, quietschte Penny schließlich und schloss Sam in eine Umarmung. Er grinste von einem Ohr zum anderen und schien sich ehrlich zu freuen. Auch ich nahm ihn in die Arme, als Penny ihn losließ.
»Alles Gute!«, wünschte ich ihm lächelnd und hoffte, dass mein Lächeln stabil wirkte.
»Schau mal, der ist für dich!« Penny zeigte stolz auf den Kuchen, und Sams Augen weiteten sich vor Begeisterung. Er ging zum Tisch, inspizierte das Kuchenwerk, dann drehte er sich zu uns um und strahlte.
»Ich liebe euch beide!«, rief er und drückte uns gleichzeitig fest an sich, so stark, dass ich ihm gegen die Brust hämmern musste, um nicht die Luft zu verlieren.
Im Hintergrund richtete sich Gil auf und betrachtete Sam abschätzend. »Wie alt bist du geworden, Sam?«, erkundigte er sich, und als Sam ihm antwortete, grinste der Dämon nur mild. »Schnuckelig. Genieß es, solange du kannst!«
Plötzlich erhob sich Eloria. Sie lächelte Sam an und sagte: »Von mir auch alles Gute. Du hast Namenstag, und trotzdem schickt der Yindarin dich auf Patrouille?« Sie zwirbelte eine Haarsträhne und schickte Nighton einen gespielten Vorwurfsblick. Der zuckte nur die Schultern und erwiderte gelassen: »Nur weil Samuel ein Jahr älter geworden ist, heißt das nicht, dass die Zwillinge plötzlich keine Jagd mehr auf Jen machen.«
Eloria lachte. »Sehr pragmatisch.«
Irgendetwas an ihrem Tonfall störte mich, aber ich versuchte, es zu ignorieren und mich nicht auf ihre Worte zu fixieren. Bevor ich sie jedoch länger abschätzig anstarren konnte, schlug Eloria vor: »Jagd hin oder her – jeder Namenstag sollte gefeiert werden. Sollen wir anstoßen? Im Kühlschrank steht noch Rotwein.«
Ich sah, wie Nighton aufschnaubte und die Stirn runzelte, ohne von seiner vorliegenden Landkarte aufzusehen. »Welcher Unmensch stellt denn Rotwein in den Kühlschrank?« Mehrere Blicke richteten sich auf mich, aber ich hob unschuldig die Hände hoch.
»Was ist eigentlich mit Melvyn, Jason und Nivia? Kommen die noch?«, fragte Eloria da in die Runde und schaute sich suchend um, während sie bereits in die Küche ging, um ihren Plan in die Tat umzusetzen.
Nighton brummte abwesend und verneinte knapp.
Der Engel befüllte sieben Gläser, während Sam und Penny gemeinsam den Kuchen anschnitten. Ich stellte mich hinter Nighton und lehnte mich über die Sofalehne, schlang meine Arme um ihn und sog seinen vertrauten Geruch tief ein. Der Drang, ihm nahe zu sein, war überwältigend, fast wie eine Art unsichtbare Fessel. Er tätschelte sanft meinen Arm.
»Was ist so interessant an der Karte?«, flüsterte ich und legte meine Wange an sein Ohr.
»Eigentlich nichts, aber-«
»Hier, für dich!« Eloria hielt mir plötzlich ein Glas Rotwein unter die Nase. Kritisch beäugte ich sie und das Tablett mit den schlichten Gläsern, in denen sie ernsthaft Rotwein serviert hatte. Als ich zögerte, seufzte sie auf. »Bitte, ich würde gerne mit euch allen anstoßen. Auf Samuel, auf euch und darauf, dass ihr mich aufgenommen habt. Komm schon, du musst auch mitmachen.«
Widerwillig löste ich mich von Nighton und nahm das Glas. »Eigentlich mag ich kalten Rotwein nicht. Aber hey, ich mache eine Ausnahme – weil du es bist, Sam!«
Sam grinste, und Eloria lächelte zufrieden, als sie jedem ein Glas reichte. Auch Nighton nahm sein Glas nur halbherzig an, und während wir alle mit unseren Gläsern dastanden, oder in Nightons und Evelyns Fall saßen, hob Eloria ihres und prostete Sam zu, der vor Verlegenheit rot wurde.
»Auf dich, Samuel, und auf euch alle«, sagte sie mit einer Düsternis, die seltsam fehl am Platz wirkte. »Und auf das, was die Zukunft noch bringt.«
Ich sah, wie Evelyn mit den Augen rollte und grinste leicht. Doch gerade, als ich an meinem Glas nippte, fiel mein Blick wieder auf Nighton. Er nahm nur einen tiefen Schluck, während er in Gedanken die Karte umdrehte.
Dann passierte es.
Nighton zuckte plötzlich zusammen, sein Körper verkrampfte, als hätte ihn ein Peitschenschlag getroffen. Er hustete heftig, rang nach Luft und schaffte es gerade noch, das Glas auf den neuen Couchtisch zu stellen. Panisch griff er sich an die Kehle, rutschte vor an die Kante und stürzte dann wie ein gefällter Baum auf den Boden. Schaum quoll ihm aus dem Mund.
Ein Schrei entfuhr mir, und mein Glas fiel klirrend zu Boden. Der Rotwein spritzte wie Blut in alle Richtungen. Ohne zu zögern stürzte ich zu ihm, stieß den Couchtisch aus dem Weg, ließ mich neben ihm auf die Knie fallen und versuchte, ihn festzuhalten, während sein Körper unter mir von heftigen Krämpfen geschüttelt wurde.
»Nighton!« Meine Stimme war eine verzweifelte Mischung aus Panik und Hilflosigkeit. Ich hob den Kopf, Tränen schossen mir in die Augen, als ich die anderen ansah. »Warum steht ihr nur da?!«, schrie ich, verzweifelt und außer mir.
Penny starrte entsetzt, die Hände vor den Mund geschlagen. Sam und Gil sahen nur regungslos zu, als wären sie paralysiert, während Eloria sich keinerlei Regung anmerken ließ, das Glas nur sinken ließ und interessiert den Kopf schieflegte. Die Einzige, die sich rührte, war Evelyn. Sie sprang vom Sofa und war im nächsten Moment bei uns.
»Er muss auf die Seite! Penny, Sam, helft mit, steht nicht rum wie Ölgötzen!«, schrie nun auch Evelyn und mühte sich ab, den krampfenden Nighton mit mir auf die Seite zu drehen.
Ich fühlte mich hilfloser als je zuvor. Nighton, der immer stark und unantastbar gewesen war, lag jetzt schutzlos vor mir und kämpfte um Atem, sein Körper unkontrolliert bebend. Die Gewissheit, dass ich nichts tun konnte, war wie ein Schlag in die Magengrube, und die Panik drohte, mich zu überwältigen.
Doch Penny und Sam kamen nicht dazu, Evelyn zu helfen, denn plötzlich geschah alles auf einmal: Zum zweiten Mal in wenigen Tagen krachte etwas durch den gerade erst geflickten Fensterrahmen über dem Altar. Gleichzeitig erschütterte ein heftiges Rammen das Portal der Kirche, einmal, zweimal – und dann flog es aus den Angeln. Unbeseelte Dämonen drängten sich durch das zerschmetterte Fenster und das zerstörte Tor, quetschten sich übereinander, trampelten aufeinander herum und strömten in einer dunklen, wimmelnden Masse in das Mittelschiff.
Ein chaotischer Tumult brach aus.
Es waren Wächterdämonen – wie die Ungeheuer, die Selenes Residenz bewachten, doch jetzt waren sie hier, an die hundert, umherwuselnd wie fette, grauenhafte Spinnen, die Säulen und Wände erklommen. Sie überrannten die Kirche, zertrümmerten Möbel, rissen Kerzenständer um, eine Armee aus fauligen Körpern und knochenblitzenden Ungeheuern. Einige stürzten sich sofort auf uns. Penny explodierte in gleißendem Licht und verwandelte sich in ihre Engelsgestalt, wobei sie einige der Dämonen kurz in die Flucht schlug, doch die Horden strömten unaufhörlich weiter.
Grelles Kreischen und tiefes Röhren erfüllten die Kirche, als die Dämonen Penny und Sam an der Schwelle überrannten. Gil kämpfte wild und zerrte etliche mit sich in den Tod, bis auch er in einem Knäuel aus furchtbaren Klauen und Zähnen verschwand. Evelyn schrie und versuchte verzweifelt, ihren Körper über Nighton zu werfen, um ihn zu schützen, doch die Dämonen packten und rissen auch sie fort.
Und ich?
Ich kniete inmitten des Wahnsinns, die Augen weit aufgerissen, während die Dämonen mich umkreisten. Sie rasten an mir vorbei, sprangen über mich hinweg, als wäre ich gar nicht da – wie eine Aussätzige, die sie ignorierten. Überall um mich her blitzten faulige Haut, herabhängendes Fleisch, schwarze, leere Augenhöhlen und scharfkantige Knochen in meinem Blickfeld auf. Die Luft war schwer und stickig, Dunkelheit kroch über den Kirchenraum, die Fluchtwege verschwanden, und ich konnte mich nicht rühren.
Was passiert hier?! Woher kamen all diese Dämonen?
Doch das war nicht das Schlimmste. Mein Magen verkrampfte sich, als ich hinter mir eine Hand auf meiner Schulter spürte. Ich drehte mich um, und da stand Eloria, unberührt von den Dämonen, mit einem Lächeln, das meine Panik nur verstärkte. Ehe ich auch nur blinzeln konnte, verschwand sie wieder.
In der nächsten Sekunde umschlang ein kühler Griff meinen Knöchel. Entsetzen überflutete mich, als mir klar wurde, dass es eine Hand war. Noch bevor ich mich wehren konnte, spürte ich ein gewaltiges Flügelschlagen, und ein heftiger Ruck riss mich zuerst von den Füßen und dann hoch in die Luft. Ein erstickter Schrei entfuhr mir, ich ruderte wild mit meinem freien Bein und den Armen, aber es nützte nichts – das Wesen hielt mich erbarmungslos in seiner Umklammerung und zog mich immer weiter in die Höhe.
Nein, nicht das Wesen. Eloria.
Ein lauter Knall. Splitterndes Holz. Der Kirchensaal wurde immer kleiner und entglitt meinem Blick, als Eloria mit mir durch das Loch im Dach hinausschoss und wir in die eiskalte Winternacht eintauchten. Ein scharfer Wind erfasste mich, ließ meine Haut prickeln und biss wie Messer in jede ungeschützte Stelle. Ein verzweifeltes Nein, oh Gott, nein! hallte durch meinen Kopf.
Durch das schrumpfende Loch im Dach erhaschte ich einen letzten, verschwommenen Blick auf Nighton. Er lag immer noch am Boden, umzingelt von Dämonen, hilflos in der Dunkelheit verloren. Mein Magen verkrampfte sich vor nackter Panik. Er konnte mir nicht helfen – niemand konnte das. Die kalte, harte Erkenntnis lähmte mich, während Eloria immer höher stieg und der beißende Winterwind mich wie ein scharfer Schnitt durchdrang.
»Lass mich runter!«, schrie ich, meine Stimme heiser und von Panik erstickt. Der Schwindel nahm zu, die Welt unter mir verschwamm in einem düsteren, eisigen Strudel.
Ein schrilles, hexenhaftes Lachen kam von oben, unaufhörlich, es hallte in der Luft wider, immer und immer wieder. »Eloria!«, rief ich, den Namen des Engels immer wieder keuchend, doch sie schien taub für meine Schreie.
Der Schneesturm um uns wurde heftiger, das dichte, wirbelnde Weiß verschluckte alles. Das Pochen meines Kopfes nahm zu, das Blut schoss in meine Schläfen, während die eisige Kälte unbarmherzig an meinem Körper zerrte. Der Pullover, den ich mir von Nighton geliehen hatte, rutschte mir durch den Wind immer höher und höher. Hastig stopfte ich ihn in meinen Hosenbund und klammerte mich daran, während meine Lungen verzweifelt gegen die eisige Luft ankämpften.
Alles in mir verkrampfte sich bei der unvorstellbaren Höhe, aus der ich jederzeit fallen könnte. Der tosende Sturm um uns machte es schwer, überhaupt noch irgendetwas zu erkennen, die eingeschneiten Konturen von London waren längst verschwunden. Der Schmerz in meinem Knöchel, den Elorias eiserner Griff hielt, wurde auch immer schneidender.
Ich wusste nicht, wie lange ich kopfüber durch die Lüfte getragen wurde, und noch weniger wusste ich, wohin Eloria mich brachte. Aber ich hatte eine Ahnung.
Doch dann änderte sich plötzlich die Höhe. Wir sanken rapide, und mein Herz setzte einen Schlag aus. Der Boden raste auf mich zu – und dann ließ sie mich plötzlich los.
Ich schrie, doch kaum hatte ich den Mund geöffnet, schlug ich schon mit einem donnernden Aufprall durch eine dünne Eisdecke ins Wasser ein. Eiskalt schnitt es in meine Haut, wie tausend winzige Nadeln. Für einen Moment sank ich unter die Oberfläche, die Kälte stach in meinen Lungen und lähmte meinen Körper. Ich strampelte verzweifelt, bis ich schließlich den schlammigen Boden mit den Füßen spürte, mich abstieß und nach Luft schnappend auftauchte.
Zitternd schwamm ich ans Ufer und hievte mich auf die Knie, wo ich keuchend verharrte. Jeder Atemzug war ein schmerzhaftes Ringen gegen die Kälte, die meine Knochen durchdrang. Auch mein Herz raste unkontrolliert. Eiskalte Schneeflocken klatschten mir unablässig ins Gesicht, der Sturm toste um mich, warf mich fast zurück in den Teich.
Nur ein Blick reichte, und ich wusste, wo ich war.
Vor mir ragte die düstere Silhouette von Harenstone auf, inmitten des aufgewühlten Wintersturms wie ein pechschwarzer Schatten. Kein Licht brannte dort, nichts als unheilvolle Dunkelheit. Mit klammen, zitternden Fingern wischte ich mir das Wasser aus dem Gesicht und richtete mich langsam auf, meine Knie schlotternd. Ich blickte in den dunklen, unendlichen Himmel.
Wo war Eloria?
Da ertönte eine mir wohl bekannte Stimme: »Zwei Minuten und dreiundvierzig Sekunden zu spät.«