Stufen… Immer auf die Stufen achten… nicht einfach die Augen zumachen… nur wach bleiben… Ich murmelte die Worte wie ein Mantra, Schritt für Schritt, Stufe für Stufe, während ich den Berg hinaufkeuchte. Die Stufen waren direkt in den Berghang geschlagen und wechselten wild: mal waren sie groß wie Schreibtische, dann schmal wie Rinnen; rutschig, brüchig, nass, staubtrocken – einfach höllisch. Dazu schlich der Nebel wie eine kalte Hand in jede Ritze meiner Kleidung, kroch in die Ärmel, den Kragen hinunter, und ließ mich trotz der Daunenjacke frösteln.
Und meine engelhaften Begleiter? Die marschierten leichtfüßig und so beherrscht, als stünden sie auf einem Laufband. Aber was hatte ich auch erwartet? Das waren immerhin Erzengel!
Gabriel war der Erste, der sich zu mir umdrehte, als ich die Schritte ein bisschen schleifen ließ. »Geht es? Was macht eigentlich die Stichverletzung? Hat sie dir noch Probleme gemacht, oder konnte Nighton sie restlos heilen?« Seine Stimme klang ernst, wie immer.
Ich schüttelte den Kopf. »Die existiert nicht mehr, aber... ich… brauche einfach mal 'ne Pause!«, japste ich. Meine Waden brannten wie Feuer. Von hinten klang Jasons Fußtritt hart gegen den Stein, als auch er zum Stehen kam.
»Wir rasten bald für dich, oben am Kamm. Es ist nur noch ein Stück«, versprach, als wäre das Motivation genug. Ich antwortete mit einem Stöhnen und versuchte, den Schmerz in meinen Beinen zu ignorieren, doch jeder weitere Schritt zog mein Gewicht förmlich nach unten.
»Ähm«, keuchte ich schließlich mit verzweifelter Neugier, »wie viele Stufen… sind das eigentlich?«
Uriel erschien wie aus dem Nebel beschworen vor mir, mit einem Ausdruck im Gesicht, den ich für fast… besorgt hielt. »Sechstausend«, sagte sie, und ich merkte, wie der Boden unter mir leicht schwankte. Sechstausend?!
»Sechstausend? Oh, nein… Das ist…« Ich wollte einfach in den Nebel sinken und verschwinden.
»Kein Scherz«, versicherte Uriel, und ich sah, dass sie das wirklich ernst meinte. Ich ließ ein erbärmliches Wimmern hören. Sechstausend Stufen. Ohne Geländer! Ohne Schlaf!
»Und wann… sind wir oben?«
Uriel überlegte kurz. »In deinem Tempo? Mittags. Morgen.« Sie schickte mir einen aufmunternden Blick und setzte sich wieder in Bewegung. Ich stöhnte nur laut auf und setzte den Fuß auf die nächste Stufe. Morgen Mittag?! Wie sollte ich das denn schaffen?
»Jennifer, bleib stehen. Jennifer? Halt!«
Eine feste Hand schloss sich um meinen Arm. Aus meinem ermüdenden Trott herausgerissen, stolperte ich leicht und sah blinzelnd zu Gabriel auf, der mich prüfend ansah und mein Handgelenk nicht losließ.
»Entschuldige«, murmelte ich und wollte wieder an ihm vorbeigehen, doch er hielt mich sanft zurück und verstärkte den Druck seiner kühlen Finger an meinem Arm. »Einen Moment«, sagte er und kramte nach seiner Taschenuhr. Mit zwei Fingern prüfte er plötzlich meinen Puls und runzelte die Stirn. »Dein Herzschlag rast.« Sein Griff festigte sich noch ein wenig, und er beobachtete mich aufmerksam. »Und dein Blutdruck… du hast keinen Marathon gemacht, aber dein Körper verhält sich, als würdest du das hier seit Tagen ohne Rast durchstehen.«
Ich atmete ein wenig flacher, doch er ließ mein Handgelenk nicht los. Stattdessen legte er für einen Moment seine Finger vorsichtig an die Innenseite meines Handgelenks, schloss die Augen und wirkte konzentriert – und dann hielt er inne. Irgendetwas schien ihn zu treffen, wie ein unsichtbarer Schlag, der ihn innehalten ließ. Sein Gesicht versteinerte, und sein Blick wanderte kurz von meinem Handgelenk zu meinem Gesicht, und obwohl er die Fassung wahren wollte, bemerkte ich ein kaum wahrnehmbares Zucken in seinen Augen. Doch er verbarg es geschickt und ließ mein Handgelenk los, als hätte er sich verbrannt. Seine Augen glitten für einen Moment unruhig zur Seite, ehe er sich zusammenriss.
»Was ist los?«, fragte ich verwirrt. Doch Gabriel winkte ab und entgegnete ohne eine Emotion dabei: »Wir machen jetzt Rast. Du musst dich ausruhen.« Dabei sah er mich so durchdringend an, dass ich mich unwillkürlich fragte, ob ich etwas falsch gemacht hatte. »Dein Körper braucht es.«
Damit wandte er sich zu seinen Geschwistern um, die im Hintergrund schon dabei waren, auf einer kleinen Plattform ein Lager zu errichten. Ich hielt kurz inne und musterte Gabriels Kehrseite, verunsichert von seinem Verhalten. Es war, als ob er etwas versuchte zu verbergen, aber was?
Ein eisiger Windstoß schnitt mir unter die Jacke, und das lenkte mich vorerst ab. Hier oben war der Wind deutlich schneidender. Meine Augen tränten, sodass ich kaum etwas erkennen konnte. Nicht, dass der Blick hier oben mich wirklich interessierte. Die Erschöpfung lastete zu schwer auf mir, um die fremde Welt um mich herum wahrzunehmen, geschweige denn zu genießen. Wenigstens hatten wir den dichtesten Nebel bereits vor ein paar Stunden hinter uns gelassen – ein kleiner Trost.
Ich entfernte mich von den Stufen. Die Plattform lag abseits der endlosen Treppe und war umgeben von mageren Büschen, die sich trotz des kargen Bodens an die Felsen klammerten. Der Abgrund rundherum war steil und schien mich mit jeder Böe herauszufordern. Michael hatte seine Plattenrüstung abgelegt und sich gegen den Felsen gelehnt, während Raphael es ihm gleichtat und sich gerade die schweren Stiefel von den Füßen zog. Gabriel war bemüht, ein kleines Feuer zu entzünden, und Uriel saß im Schneidersitz am Boden, den Blick gedankenverloren ins Flackern der Flammen gerichtet. Jason kramte derweil in einem Reisebeutel herum.
Inzwischen war die Nacht hereingebrochen, und über uns breitete sich ein tiefschwarzer Himmel aus, bedeckt von Millionen funkelnder Sterne. Keine bekannten Sternbilder waren zu erkennen, nur endlose Weite und Fremdheit. Ein dumpfes Heimweh kroch in mir hoch, und ich dachte unwillkürlich kurz an meine Familie. Schwermut und Traurigkeit wollten in mir aufsteigen, doch ich verbannte beides. Daran wollte ich jetzt nicht denken.
Ich ließ mich schwer auf einen Felsen sinken und spürte, wie die Erschöpfung sich in meinen Gliedern ausbreitete. Da vibrierte ein ausgeprägtes Knurren durch meinen Magen, das man wahrscheinlich bis zum Schloss hören konnte. Mit zusammengepressten Lippen legte ich eine Hand auf meinen Bauch, in der Hoffnung, das peinliche Geräusch irgendwie zu dämpfen. Natürlich nicht mit viel Erfolg. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie Jason mich ansah, ein Grinsen auf den Lippen, und genau wusste, dass ich in diesem Moment lieber unsichtbar wäre.
Da fiel mir zum Glück ein, dass Nighton mir die Tasche gepackt hatte. So umsichtig, wie ich ihn kannte, hatte er bestimmt etwas zu essen hineingetan. Sofort stellte ich die Tasche auf den Boden und wühlte darin herum. Und tatsächlich, ganz unten befand sich ein kleines Päckchen, das ich vorsichtig herausnahm und öffnete.
Zum Vorschein kamen einige Riegel der Sorte Aprikose-Mohn, die ich ziemlich liebte, eine Tüte mit getrockneten Mangos und eine kleine Flasche Wasser. Ein gerührtes Lächeln stahl sich auf meine Lippen. Aber das war noch nicht alles: Da war ein gefalteter Zettel. Neugierig öffnete ich ihn und las die Worte, die so typisch für Nighton waren: »Damit du als frischgebackener Yindarin nicht direkt die nächste argentinische Rinderherde ausmerzen gehst ;)«
Ein warmes, kribbelndes Gefühl breitete sich in mir aus, und ich konnte mir das Grinsen kaum verkneifen. Wie süß von ihm! Ein kleiner Teil von ihm war irgendwie doch hier, und in diesem Moment fühlte ich mich, als wäre er mir näher als all die Erzengel um mich herum.
In den folgenden Minuten hing jeder seinen eigenen Gedanken nach. Das Knacken des Feuers und das leise Knistern des Windes in den Büschen waren die einzigen Geräusche. Ich kaute zufrieden an einem der Fruchtriegel, als Uriel die Stille brach und mich ansah. »Erzähl mir von dir, Jennifer«, bat sie. »Ich habe dich als Letzte kennengelernt und bin gespannt, was für Pläne du als Yindarin hast.« Sie hob leicht das Kinn und in ihren Augen lag dabei ein abwartender Ausdruck. »Hast du schon eine Vision für deine Zukunft?«
Ich schnippte ein paar Krümel von meiner schwarzen Jeans, nahm mir ein paar Sekunden zum Nachdenken und wählte meine Worte vorsichtig.
»Ehrlich gesagt, das Einzige, was ich im Moment will, ist, überhaupt wieder ein Yindarin zu sein. Ich will nicht länger in Angst vor Selene und Asmodeus leben. Danach – na ja, wer weiß, was dann kommt.« Meine Antwort kam selbst mir ausweichend vor, aber ich verspürte keine Lust auf tiefere Einblicke. Schnell schob ich mir den Rest meines Fruchtriegelns in den Mund. Uriel legte den Kopf leicht schräg und musterte mich. »Ah, ich verstehe. Auch an Nachwuchs schon gedacht?«
Die Frage fiel wie ein Stein in die Stille.
Ich verschluckte mich augenblicklich an meinem Mundinhalt und hustete, um die Panik herunterzuwürgen. Sogar Raphael hob irritiert die Augenbrauen, während Michael seiner Schwester einen langen Blick zuwarf, der nichts Gutes verhieß.
»Wow«, würgte ich hervor. »Das ist jetzt schon... ziemlich direkt, oder?« Ich spürte, wie mir die Hitze ins Gesicht schoss. Als hätte ich nichts Besseres zu tun, als hier, vor einer Runde Erzengel, über meine Zukunftspläne – und dann auch noch in dieser Hinsicht – zu sprechen.
Michael schüttelte leicht den Kopf. »Uriel, wo bleibt dein Taktgefühl? Das ist weder der Moment noch der Ort für solche Fragen.« Seine Worte waren leise, aber ein Hauch von Ärger lag darin. Dann sah er mich an, und in seinem Gesicht schwang etwas von der väterlichen Sorge mit, die ich von ihm fast schon gewohnt war. »Du musst meiner Schwester vergeben, Jennifer Ascot. Uriel weilt nicht oft in Gesellschaft.«
Uriel schnaubte darüber, während ich nur nickte und auf meine Finger sah. Innerlich wollte ich am liebsten weglaufen. Diese Szene würde ich garantiert so schnell nicht vergessen.
Die Stille, die nach Uriels Frage folgte, hing wie eine drückende Last in der kühlen Luft. Raphael versuchte, das Gespräch aufzulockern und blickte zu Uriel, ein freches Grinsen auf den Lippen. Ich war erstaunt, dass sein gemeines Gesicht überhaupt zu so einer muskulären Verzerrung im Stande war.
»Was ist eigentlich mit dir, Uriel? Was hast du in Alaska so getrieben?« Er zog einen Flachmann hervor. Uriel lächelte, und für einen Moment blitzte in ihrem Blick die Wildheit jener fernen, ungezähmten Landschaft auf. »Ich habe dort gelebt, gejagt und geliebt«, antwortete sie leise, fast als spräche sie zu sich selbst. »Alaska ist ein wunderschönes, raues Land. Wilder und freier als Oberstadt, auch wenn nur wenige Orte an die Erhabenheit des Wolkentors heranreichen.« Ihr Blick verlor sich für einen Augenblick, als sähe sie Alaska direkt vor sich.
Raphael lachte auf. Es war ein raues, freudloses Lachen, das ihm schon deutlich ähnlicher sah. »Geliebt, ja? Wen? Den Fischer etwa?« Ein Grinsen zog über sein Gesicht, bis Uriels aggressiver Blick es schrumpfen ließ.
»Von dieser Art Gefühle verstehst du rein gar nichts, Bruder!«, knurrte sie und zog einen großen Trinkschlauch sowie ein Trinkhorn aus ihrer Tasche, das neben Raphaels Flachmann wie ein Relikt aus einer anderen Welt wirkte. Sie öffnete den Schlauch, und ein süßlich-würziger Duft erfüllte die Luft. Er passte zu ihr und ihrem offenbar wilden Lebensstil. Sie nahm einen tiefen Schluck, bevor sie das Horn mir reichte.
»Trink, Mensch. Das wird dich wärmen. Hier oben wird es noch kälter werden.«
Zögernd ergriff ich das Horn und nahm einen kleinen Schluck. Der Geschmack war süß und schwer, fast überwältigend, aber die Wärme, die die Flüssigkeit brachte, war angenehm. Ich nickte ihr dankbar zu und gab es zurück.
Dann richtete Uriel den Blick auf Jason, der bisher schweigend dagesessen hatte. In ihrer Stimme lag eine Herausforderung, als sie fragte: »Und du, Azrael? Wie hast du die letzten Jahrhunderte verbracht?«
Jason hob den Kopf, und für einen Moment blitzte in seinen goldenen Augen etwas Dunkles auf. »Ich habe mir überlegt, wie ich jeden einzelnen von euch töten könnte«, antwortete er leise, aber jedes Wort war wie ein Hieb. Michael richtete sich augenblicklich auf, und seine Stimme war hart, als er ihn zurechtwies. »Es reicht, Azrael. Dein Hass auf uns hat lange genug gedauert.«
Aber Jason war schon auf den Beinen, und seine Augen funkelten vor Zorn. »Das bestimme immer noch ich!« Er zwängte sich zwischen Michael und mir hindurch, die Fäuste geballt und sein Gesicht vor Wut verzerrt. Noch bevor ihn jemand zurückhalten konnte, verschwand er in der Dunkelheit. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis ich das leise Rauschen von Flügelschlägen hörte. Er war fort.
Ich spürte, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildete. Langsam wandte ich mich zu den anderen um, die mit verschlossenen Gesichtern ins Feuer blickten. Irgendwann hielt ich die Stille nicht mehr aus und fragte leise: »Warum ist er so wütend auf euch?«
Die Erzengel tauschten bedeutungsvolle Blicke, bevor Michael schließlich antwortete. Er sprach, als läge das Gewicht einer längst vergangenen Schuld noch immer auf seinen Schultern.
»Wir haben als Geschwister eine Entscheidung getroffen, die ihn teuer zu stehen kam, und er hat uns das nie verziehen.« Sein Blick blieb auf das Feuer gerichtet.
Ich beugte mich leicht vor, meine Hände unter mein Kinn gelegt. »Was für eine Entscheidung?«
Michael seufzte. »Vor Jahrhunderten liebte Azrael eine Dämonin. Ihr Name war Mary. Die Verbindung zu ihr hat ihn so sehr verändert, dass er für eine Zeit seine Pflicht als Erzengel vernachlässigte. Doch sie war manipulativ, schlich sich in seinen Verstand und wollte – beinahe hätte ihre Dämonenarmada den Altar des Himmels überrannt. Wäre es ihr gelungen, hätte sie das Reich zerstören können.« Er schüttelte den Kopf.
Meine Gedanken überschlugen sich bei dieser Erzählung. Jason hatte einmal geliebt, mit einer Leidenschaft, die ihn dazu brachte, alles zu riskieren. Diese Vorstellung von ihm traf mich unerwartet, und ich spürte ein tiefes Mitgefühl für ihn.
»Mary war sein blinder Fleck«, fuhr Michael fort, »und es endete bei der dunklen Festung der Dämonengöttin. Sie wurde tödlich verwundet und er versuchte verzweifelt, zu ihr zu gelangen, doch es wimmelte nur so von Dämonen. Keiner von uns griff ein. Wir ließen sie sterben und zwangen ihn, sie zurückzulassen.«
Ich biss mir auf die Lippe, um das aufsteigende Gefühl des Mitgefühls und der Empörung niederzuringen. Wie furchtbar musste es für Jason gewesen sein, seine Liebe sterben zu sehen, während seine eigenen Geschwister tatenlos zusahen?
Raphael warf mir einen Blick zu, der Bände sprach, bevor er verächtlich grollte: »Lass es. Der Mensch versteht das nicht. Ihr fehlt die Weitsicht, zu begreifen, dass man unter Geschwistern Entscheidungen trifft, die nicht leicht sind.«
Bitte?! Ich hatte mich wohl verhört! Ich schnappte nach Luft, fühlte, wie das Blut in meinen Adern zu kochen begann, und bevor ich es verhindern konnte, brach die Wut über diese Worte aus mir hervor. »Oh, erspar mir den Vortrag über Geschwisterliebe! Du hast keine Ahnung! Ich habe selbst Geschwister, ich weiß, was es heißt, für jemanden da zu sein. Im Gegensatz zu dir, du hast doch nur Ahnung vom Knochenbrechen!«
Raphael schickte mir ein düsteres Lächeln und legte eine Hand auf seinen Streithammer. »Du hast Recht, Yindarin-sin, und glaube mir, wenn ich dir sage, dass ich mit diesen Hammer jederzeit gerne wieder dein Inneres nach Außen kehren würde.«
»Raphael!«, fuhr Michael seinem Bruder harsch über den Mund. »Ich dulde es nicht, dass du diesem Menschenkind drohst! Hast du vergessen, was sie für uns getan hat?«
»Ja, was hat sie denn getan?«, erwiderte Raphael angriffslustig. »Was hat sie so Besonderes getan, das ich Achtung vor ihr haben sollte? Ist Selene vernichtet? Erstrahlt Oberstadt in neuem Glanz? Ist die gewaltsame Ära der Dämonen beendet? Kriecht Unterstadt zu Kreuze? Nein! Es ist schlimmer den je! In Oberstadt läuft ein Verräter herum, der Eloria und wer weiß wen noch manipuliert hat, die dunkle Göttin hat Asmodeus erweckt, Unterstadt schmiedet Pläne und ihr setzt eure Hoffnungen in dieses... dieses Mädchen da, das sich an der Seite eines dahergelaufenen Niemands räkelt! Sie ist es nicht wert, die Gabe der Göttlichen zu empfangen, und ich sage es immer wieder!«
Mir stand der Mund offen. Ich wollte etwas sagen, irgendwas, aber mir fiel nichts ein. Ich spürte, wie meine Hände zitterten, unfähig, auf seine verletzenden Worte zu reagieren.
Doch bevor ich auch nur Luft holen konnte, erhob Michael sich, ballte die Hände zu Fäusten und baute sich vor Raphael auf. »Ich sagte, genug!« Seine Stimme war wie ein tiefes Donnergrollen, und die Kraft darin ließ Raphael verstummen. »Vergiss dich nicht! Dieses Mädchen ist keine deiner Untergebenen, über die du urteilen kannst, wie es dir passt! Jennifer Ascot hat in ihren jungen Jahren mehr Mut und Standhaftigkeit gezeigt, als du es in den Jahrtausenden deiner Geschichte jemals getan hast!«
Raphael zog die Augenbrauen zusammen und öffnete den Mund zu einer Erwiderung, doch Michael ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Du sprichst von Respekt, als ob du der Einzige bist, der ein Urteil fällen kann! Aber in all deiner vermeintlichen Weisheit und Kälte siehst du nicht, was direkt vor dir steht. Es war ihr Verdienst, dass die dunkle Göttin im letzten Jahr gescheitert ist – und das zu einem Preis, den du dir nicht vorstellen kannst.«
Ich wollte etwas dazu sagen, aber ich konnte nur zuschauen - und die Schlammschlacht war noch nicht zuende. Raphael schüttelte grinsend den Kopf, doch da schaltete sich nun auch noch Uriel ein.
»Raphael, du siehst nur das, was du sehen willst.« Ihr Blick war kühl und ruhig, aber die Entschlossenheit darin ließ keinen Zweifel daran, dass sie auf meiner Seite stand. »Dieses Menschenkind ist nicht hier, um deinen Idealen zu entsprechen oder dein kleines Bild von Perfektion zu bestätigen. Sie ist hier, weil sie an unserer Seite kämpfen will, während du dich hinter deinem Stolz versteckst.« Sie sah ihm direkt in die Augen. »Du hältst dich für den Einzigen, der Entscheidungen trifft und Opfer bringt? Die Wahrheit ist, dass du das Konzept von Zusammenhalt nie verstanden hast. Und wenn jemand hier das Geschenk der Göttlichen verdient, dann ist es Jennifer, nicht jemand, der den Weg eines Kriegers mit Hass und Wut verwechselt.«
Ich spürte, wie sich meine Starre allmählich löste und ein unwillkürliches Gefühl der Dankbarkeit in mir aufstieg. Sie verteidigten mich. Sie standen für mich ein, und das mit einer Überzeugung, die ich nicht erwartet hatte.
Raphael ließ seinen finsteren Blick über die Runde schweifen, seine Kiefer angespannt, die Augen zu schmalen Schlitzen verengt. Der Zorn und die Frustration in seinen Augen wirkten wie eine Flamme, die jeden Moment auflodern und jeden hier verschlingen könnte. Mit einem bitteren Lächeln zog er die Hand von seinem Hammer zurück und richtete sich zu voller Größe auf.
»Ihr werdet schon sehen, wohin euch diese naive Verbundenheit führt«, grollte er. »Aber erwartet nicht, dass ich für die Folgen bereitstehe, wenn alles auseinanderbricht.« Er funkelte Michael und Uriel einen letzten Moment lang an und stand dann auf. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und schritt in die Dunkelheit, seine Silhouette verschmolz bald mit den Schatten der umstehenden Felsen. Ein paar Augenblicke später hörte ich das leise Rascheln von Flügelschlägen, und schließlich verschluckte die Stille der Nacht ihn vollständig. Offenbar hatte er es Jason gleichgetan.
Gabriel warf einen Kieselstein, den er die ganze Zeit schweigend in der Hand gedreht hatte, über die Schulter. »Damit wäre dann ja alles gesagt, nicht wahr?«, schnaubte er. In seiner Stimme lag eine Art Bitternis, die ich nicht ganz einordnen konnte. Er sah mich an und fügte hinzu: »Du solltest den Rest der Nacht lieber mit Schlafen verbringen. Du hast die Energie nötig.« Damit stand auch er auf und ließ uns allein. Michael brummte etwas in seinen nicht vorhandenen Bart, bevor er mir zunickte und sich wieder setzte. Aufseufzend ließ ich die Schultern sinken und spürte, wie ein Gähnen in mir aufstieg. Ich konnte die bleierne Müdigkeit nicht mehr ignorieren, die sich in meinen Knochen eingenistet hatte. Es war sinnlos, weiter wach zu bleiben und mich in all diese Gedanken und Gefühle zu verstricken – vor allem hier, mitten in den Schatten der Nacht und in den Schatten ihrer Konflikte.