Am nächsten Tag holte Nighton mich nach der Schule ab. Er stand vor den Toren des Gebäudes, und allein sein Anblick ließ meinen Puls in die Höhe schießen. Die Stimmung zwischen uns war seltsam – wie eine schwer greifbare Spannung, die in der Luft hing und mich erdrücken wollte. Schon seit gestern Abend hatte ich gespürt, dass er etwas auf dem Herzen hatte, doch er hatte geschwiegen.
Genau wie ich.
Weder als ich gestern Abend ins Bett fiel, noch heute Morgen, bevor er mich zur Schule brachte, hatte einer von uns beiden den Mund aufgemacht. Aber in dem Moment, als ihn vor der Mauer stehen sah, mit in die Hosentaschen geschobenen Händen und diesem entschlossenen Ausdruck in den Augen, wusste ich: Heute Nachmittag war es so weit. Heute würde er reden.
Genau wie ich.
Mir war mehr als bewusst, dass ich es ihm sagen musste, dass ich … was Uriel mir verraten hatte. Es führte kein Weg dran vorbei, gab keine Ausflüchte, keine weiteren Stunden zum Nachdenken. Seit ich es erfahren hatte, gab es kaum Raum für andere Probleme, nicht mal für Anna oder Selene und ihre Pläne. Alles schien in den Hintergrund gerückt zu sein. Und verdammt nochmal, ich hatte solche Angst. So viel Angst, dass mir seit gestern Abend durchgehend hundsübel war. Vielleicht wegen der Schwangerschaft, aber vielleicht auch wegen dem Gedanken daran, wie Nighton reagieren würde. Darüber zerbrach ich mir ohne Unterlass den Kopf. Würde er wütend werden? Oder enttäuscht sein? Sich freuen? Oder alles auf einmal? Wie sollte das bloß was werden? Ich – ich konnte doch jetzt kein Kind kriegen, WIR konnten nicht… oder?
Aber zugleich war ich stinksauer. Auf diesen iditotischen, großmauligen Plan, sich TI zu stellen, als ob er unverwundbar wäre. Diese Mischung aus Panik, Wut und purer Überforderung war wie ein Felsen, der auf meiner Brust lag und mich keine Sekunde durchatmen ließ. Ich hatte die Nacht kein Auge zugetan und war allein heute Morgen dreimal in die Schultoiletten gerannt, um mich zu übergeben. Meine Lehrerin hatte sogar besorgt vorgeschlagen, dass ich nach Hause gehen sollte, aber das kam nicht infrage. Was hätte das gebracht? Vor meinem eigenen Leben konnte ich schließlich nicht fliehen.
Der vertraute Waldweg nach Harenstone zog sich länger als sonst. Jeder Schritt hinter Nighton fühlte sich an, als würde ich auf etwas zulaufen, das ich nicht kontrollieren konnte.
Die Übelkeit meldete sich wieder. Ich presste die Lippen aufeinander und hielt eine Hand leicht vor den Bauch, nicht, weil er sichtbar war, sondern weil der Gedanke an das, was in mir heranwuchs, mich verrückt machte. Ich hätte Nighton gern angeschrien, gefragt, warum er so ruhig vor mir herging, während in mir das reinste Chaos tobte.
Als wir durch die Tür von Harenstone traten, wurde es nicht besser. Die vertraute Kühle des Gemäuers war nahezu erdrückend. Kaum hatte ich meinen dicken Wintermantel halbherzig von den Schultern gestreift, drehte Nighton sich zu mir um.
Sein Blick traf mich, direkt und durchdringend. Mein Magen verkrampfte sich augenblicklich, und ich musste mich zwingen, ihm nicht im Schwall vor die Füße zu brechen. Ich wandte den Kopf ab und hing meinen Mantel an den Haken, als könnte ich mich so der Intensität seiner Augen entziehen.
»Jennifer«, begann er, und allein wie er meinen Namen aussprach, gab mir den Rest.
»Ich … ich muss auf Klo!« Die Worte platzten aus mir heraus, bevor ich überhaupt richtig darüber nachdenken konnte. Die Panik loderte in mir auf, heiß und erstickend, und ich rauschte an Nighton vorbei, ohne ihn anzuschauen. Ich konnte ihm jetzt nicht in die Augen sehen. Nicht, wenn ich das Gefühl hatte, dass mein Kopf jeden Moment explodieren würde.
Meine Beine fühlten sich wackelig an, aber ich zwang sie, mich die paar Schritte zum Bad hinten bei der Treppe zu tragen. Kaum war ich drinnen, schloss ich die Tür hinter mir und lehnte mich dagegen, die Augen fest zusammengekniffen, als könnte ich so die überwältigende Angst aussperren. Aber sie war schon da, noch lauter und schrecklicher, als ich befürchtet hatte.
Meine Atmung wurde hektisch und flach. Die Luft im Bad schien sich gegen mich zu verschwören, sie blieb mir im Hals stecken, egal, wie verzweifelt ich nach ihr schnappte. Der Boden unter meinen Füßen kippte, und ich ließ mich taumelnd in der Mitte des Raumes auf die Knie sinken, während die Welt um mich herum zu einem Mischmasch verschwamm.
Atme! Atme doch normal, verdammt!
Es ging nicht. Es ging einfach nicht. Mein Brustkorb schien wie zugeschnürt, mein Kopf dröhnte, und Tränen brannten in meinen Augen. Die vertraute, grauenhafte Hilflosigkeit von früher – als die Schatten der unbeseelten Dämonen mich heimsuchten, als ich noch nicht wusste, dass alles real war – überrollte mich mit gnadenloser Wucht.
Ich hörte Nighton erst, als es zu spät war, um mich zusammenzureißen.
»Jennifer?« Seine Stimme war nah, besorgt und leise, aber sie schnitt durch das Chaos in meinem Kopf wie ein Messer. Ich wollte laut »Nein!« schreien, doch da öffnete sich schon die Tür, und dann war er da. Ich konnte hören, wie Nighton scharf die Luft einsog. Er blieb nur für einen Herzschlag in der Tür stehen, bevor er die Entfernung zu mir in zwei schnellen Schritten überbrückte.
»Oh verdammt, Jen!«, stieß er hervor. Seine Stimme war rau vor Schreck, aber er ging sofort vor mir in die Hocke und packte vorsichtig meine Arme. Sein Griff war fest, aber nicht schmerzhaft, als er meine Arme über meinen Kopf hob. Ich ließ es einfach geschehen.
»Ruhig.« Nightons Ton war jetzt weich, beinahe sanft, und ich konnte nicht anders, als in seine moosgrünen Augen zu sehen, die mir doch sonst auch so viel Halt gaben. Nur eben nicht jetzt. »Nicht hyperventilieren. Atme mit mir. Ein, langsam … und wieder aus.«
Ich wollte ihm klarmachen, dass es nicht ging, dass ich es versuchte, aber alles, was aus meiner Kehle kam, war ein ersticktes Keuchen. Seine Hände an meinen Armen blieben ruhig, fest und beruhigend.
»Du kannst das«, murmelte er, den Blick unerschütterlich auf mich richtend. »Es ist alles in Ordnung. Niemand tut dir etwas.«
Nach einer Ewigkeit – oder vielleicht nur ein paar Sekunden – begann sich die Luft langsam ihren Weg zurück in meine Lungen zu bahnen. Zitternd, stoßweise, aber sie war da.
Nighton ließ meine Arme vorsichtig sinken, seine Hände ruhten nun an meinen Schultern, während er mich weiterhin ansah. »Sehr gut. Ganz ruhig. Weiter so.«
Und dann brach alles aus mir heraus. Die Tränen, die ich den ganzen Tag schon zurückgehalten hatte, überrannten mich. Ich schluchzte lautlos, unfähig, das Zittern in meinem Körper aufzuhalten, während ich meine Hände vors Gesicht schlug, um mich irgendwie zu verbergen. Was auch immer das jetzt noch bringen sollte.
»Jennifer…« Nightons Stimme klang angespannt, aber es lag so viel Wärme darin, dass es mir fast wehtat. Seine Hände fanden ihren Weg zu meinem Rücken, und ehe ich mich versah, zog er mich vorsichtig an sich. Sein Griff war sanft, fast zögerlich, als hätte er Angst, mich in diesem Moment zu zerbrechen.
»Was immer es diesmal ist, wir kriegen das gemeinsam hin.« Sein Atem streifte meine Schläfe, und ich spürte, wie er sich kaum merklich anspannte, bevor er weitersprach. »Du musst es mir aber sagen.«
Seine Worte trafen etwas in mir. Der Knoten in meinem Inneren wurde größer, und ich wusste, dass ich jetzt nichts mehr zurückhalten konnte. Langsam löste ich mich aus seinen Armen. Nicht, weil ich seine Nähe nicht ertrug – sondern weil ich ihn ansehen musste. Er legte seine Hände auf meine Knie und schaute mich erwartungsvoll an, mit einem Hauch von Sorge dabei. Meine Hände zitterten, als ich sie in meinem Schoß verschränkte, und ich zog einmal tief die Nase hoch, bevor ich die Worte über meine Lippen brachte, die alles verändern würden.
»Ich bin schwanger.«
Die Worte schwebten einen Moment zwischen uns.
Nighton blinzelte einmal. Dann ein zweites Mal. Und dann … nichts. Kein Wort, keine Bewegung. Er starrte mich nur an, sein Blick undurchdringlich wie eine Mauer. Die Sekunden zogen sich schier ins Unendliche, während sich mein Magen erneut zusammenzog.
»Sag was«, bat ich mit brüchiger, fast flehender Stimme, und ich hasste mich dafür.
Sein Kiefer spannte sich an, und plötzlich löste er seine Hände von meinen Knien, als hätte er sich verbrannt. Ich zuckte unwillkürlich zusammen. Seine plötzliche Distanz zerkratzte mir das Herz mehr, als ich erwartet hatte. Aber er blieb dicht vor mir sitzen, stand nicht auf, ging nicht weg. Nur seine Haltung wurde unsagbar angespannt, und seine Schultern versteiften sich.
Ich spürte, wie die Panik in mir hochkroch, doch bevor sie mich ein zweites Mal überwältigen konnte, senkte Nighton den Blick auf den Boden. »Das ist unmöglich«, murmelte er rau. Als er weitersprach, war ein Bruch in seiner Stimme, der mich wie ein Schlag traf. »Du bist steril. Ich auch. Wir können gar nicht…«
Tja, das hatte ich auch gedacht.
»Uriel hat es mir gestern Abend gesagt.« Ich klang hohl, eher mechanisch, als ich erklärte, was Uriel gesagt, und wie ich es mir in der Nacht zusammengereimt hatte. Von den Überresten meines Menschen-Daseins vor meiner Zeit als Yindarin, das wohl durch meine Auferstehung doch nicht so funktionslos geworden war, wie wir angenommen hatten, redete ich. Man hatte mir zwar gesagt, dass ich durch meine Verwandlung in einen Yindarin steril geworden sei – aber entweder hatte das nicht gestimmt, oder bei Sekeeras Opferung an Nighton hatte sich das alles rückgängig gemacht. Und über meine Vermutung, dass Nighton bei seinem Aufstieg zum Yindarin überhaupt nicht unfruchtbar geworden war, sprach ich auch. Ich redete, aber ich war mir nicht sicher, ob Nighton mir wirklich zuhörte.
Als ich verstummte, mahlte er mit dem Kiefer und seine Finger ballten sich auf seinen Oberschenkeln zu Fäusten. Schließlich sagte er tonlos: »Du weißt, dass ein Kind keinen Platz in unserer Welt hat.« Seine Worte kamen langsam, fast wie ein Befehl, doch es lag etwas Verletzliches darin.
Ich nickte. »Ich weiß.« Meine Stimme war so leise, dass ich mich selbst kaum hörte.
Nighton hob den Blick nicht, aber ich konnte sehen, wie er kämpfte – mit seinen Gedanken, mit seinen Gefühlen. Seine Schultern sanken leicht, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Dann hob er endlich den Kopf, und ich erstarrte, als ich den verräterischen Glanz in seinen Augen sah. Waren das etwa … Tränen? Ich fühlte es in meinem Herz stechen. Nighton, der sonst nie tief in seine Gefühlswelt blicken ließ, sah aus, als würde er wirklich gleich selbst weinen.
»Ich habe mir geschworen, nie wieder …« Er brach ab, holte tief Luft, und schloss kurz die Augen, bevor er weitersprach. »Nie wieder ein Kind in diese Welt zu setzen. Nicht nach … damals.«
Ich wollte ihn trösten, ihm die Hand auf die Wange legen, ihm sagen, dass ich verstand – und das tat ich auch. Ich verstand ihn so gut, dass es schmerzte. »Ich will das genauso wenig wie du«, flüsterte ich schließlich. »Ich weiß nicht mal, was es heißt, Mutter zu sein. Ich … ich hatte nie eine Mutter, Nighton. Wie sollte ich wissen, wie das geht? Und … sieh uns doch an. Wir und unsere Lebensumstände sind nicht für sowas gemacht.«
Seine Augen verengten sich leicht, und ich sah, dass meine Worte ihn trafen. Ein Teil von ihm wollte mir Trost spenden, ich konnte es sehen. Aber er war mindestens genauso überfordert wie ich.
Er nickte langsam, mehr zu sich selbst als zu mir, und sah dann wieder auf den gefliesten Badezimmerboden. »Was machen wir jetzt?«, flüsterte er. Er klang furchtbar resigniert, und ich wusste, dass er die Antwort bereits kannte, genauso wie ich.
»Ich … ich weiß es nicht.« Meine Kehle schnürte sich zu, und ich spürte die Tränen wieder keimen. Natürlich wusste ich es. Es gab nur eine richtige Möglichkeit, aber ich konnte sie nicht aussprechen.
Nighton stützte den Kopf in eine Hand. »Ich will es nicht …« Fast kam es mir vor, als wäre dieser Satz mehr für ihn selbst als für mich bestimmt. Dann hob er den Blick an, und ich sah in seinen Augen eine Qual, die mich mitten ins Herz traf. »… aber genauso wenig will ich es verlieren.«
Ich schluckte schwer. Es gab nichts, was ich darauf sagen konnte, nichts, was die Situation weniger kompliziert oder weniger schmerzhaft machen würde. Also legte ich ihm stattdessen eine Hand auf den Arm, eine stumme Geste, mit der ich alles sagen wollte, was ich mit Worten nicht konnte.
Nighton sah einen Augenblick auf meine Hand, dann schüttelte er sich kurz, holte tief Luft, richtete sich auf, und als er weitersprach, klang er wie der Mann, den ich kannte. Ruhig, kontrolliert. Von der eben noch dagewesenen Verletzlichkeit war nichts mehr zu bemerken.
»Ich sehe zwei Möglichkeiten. Gabriel oder ein Menschenarzt.«
Ich zögerte. »Und … was ist mit Adoption?«
Nightons Blick veränderte sich wieder. Er wirkte nicht wütend, nicht einmal überrascht, sondern … enttäuscht. Nicht von mir, sondern von der ganzen Situation. Er schüttelte den Kopf, und sein Gesicht wurde hart. »Das ist keine Option.«
»Warum nicht?« Ich wusste, dass ich ihn nicht überzeugen wollte – ich wollte es nur verstehen.
»Weil es unser Kind wäre. Unser Blut. Unser Schatten würde auf ihm liegen.«
Ich schluckte, während er weitersprach. »Denk nach, Jennifer. Selbst wenn wir das Kind einem Menschenpaar geben, wird es nie sicher sein. Es wird immer eine Verbindung zu dir geben. Oder zu mir.« Seine Stimme wurde leiser, aber sie verlor nichts von ihrer Eindringlichkeit. »Wir beide sind keine Unbekannten. Und das Kind würde für immer in unserer Welt gefangen bleiben, egal wie sehr wir versuchen, es herauszuhalten.«
Langsam nickte ich. Er hatte recht. Natürlich hatte er Recht. Die Vorstellung, das Kind zur Adoption freizugeben, schien mir plötzlich naiv.
»Es gibt keinen Ort, keine Familie, die es vor dem schützen kann, was wir sind«, fügte er hinzu. »Und ich werde nicht zulassen, dass irgendwer anders für unser Chaos bezahlt.«
Ich nickte weiter. Dann murmelte ich: »Dann wähle ich Gabriel.«
Nighton nickte selbst und stand langsam auf, bevor er sich zu mir hinunterbeugte und mir eine Hand entgegenstreckte. Als ich sie nahm und aufstand, ließ er sie einen Moment länger als nötig in seiner, bevor er mich losließ.
Jetzt war es also raus.
»Hast du das wirklich nicht früher bemerkt? Es gab doch bestimmt Anzeichen!«, fragte er. Seine Stimme war plötzlich scharf, sogar fast anklagend. Das erschreckte mich. Ich starrte ihn an, schockiert über die plötzliche Härte, aber ich konnte auch die Verzweiflung in seiner Stimme hören. Er war nicht wütend – nicht wirklich. Er war … hilflos. So wie ich. Also beschloss ich, ruhig zu bleiben.
»Es gab keine Anzeichen«, widersprach ich leise, den Kopf schüttelnd. »Alles war völlig normal, wirklich. Ich verstehe es doch selbst nicht. Uriel hat nur gesagt, dass es bei übernatürlichen Kindern anders läuft. Ich – ich hatte meine Periode, so wie jeden Monat davor auch, und-«
»Stopp«, fiel Nighton mir ins Wort. Seine Augen weiteten sich. »Sag das nochmal!« Auf einmal war seine Stimme von einer Intensität durchdrungen, die mich beinahe zusammenzucken ließ.
Verwirrt die Stirn runzelnd wiederholte ich: »Ich hatte meine Perio-«
»Nein, nicht das! Das davor!«
»Uriel hat gesagt, dass es bei übernatürlichen Kindern anders läuft.«
Er blinzelte, einmal, bevor er sich ohne ein weiteres Wort zu mir beugte, meinen grauen Pullover lupfte und mir eine Hand auf den Unterleib legte. Ich erstarrte. Was – was sollte das? Seine Berührung war leicht, beinahe vorsichtig, aber den Blick, den er mir dabei zuwarf, war unnachgiebig und fordernd zugleich.
»Was tust du?«, fragte ich perplex und starrte Nighton an. Mein Herz hämmerte wild, doch er reagierte nicht.
Seine Augen schlossen sich für einen Moment, sein Gesichtsausdruck wurde konzentriert, als ob er nach etwas suchte, was nur er wahrnehmen konnte. Dann riss er plötzlich die Hand weg, als hätte er einen Stromschlag abbekommen, und stieß ungläubig hervor: »Nein, nein, nein, das ist unmöglich! Das-«
»Was denn?«, rief ich. Meine Verwirrung schlug in Angst um. Nighton schüttelte den Kopf, den Blick nicht von meinem Unterleib nehmend. »Das ist ein Yindarin.«
Seine Worte schlugen ein wie ein Donnerschlag. Er machte Anstalten, mir erneut die Hand auf den Bauch zu legen, doch ich schlug sie instinktiv beiseite, während ich meine eigene über meinen Bauch legte. Natürlich spürte ich rein gar nichts, aber das, was er da gerade gesagt hatte, sorgte dafür, dass mir die Luft wegblieb.
»Ein … ein Yindarin?«, murmelte ich, halb zu mir selbst, während ich einen Schritt zurücktat. Dabei schüttelte ich ungläubig den Kopf und drehte mich leicht weg, als ob ich damit der Realität entkommen könnte. »Das kann nicht sein.«
Doch tief in mir spürte ich, dass es wahr war. Die Tragweite dieses Moments traf mich wie eine Faust in den Magen, und meine Stimme bebte, als ich das aussprach, was offensichtlich war: »Das bedeutet … wir können – wir dürfen es nicht … beenden.«
Nighton schwieg, seine Augen unverwandt auf mich gerichtet. Ich fühlte, wie sein Blick mich durchbohrte, aber ich konnte ihn nicht ansehen. Meine Gedanken überschlugen sich mehrfach, sodass ich eine Hand gegen meine Stirn presste, als würde das helfen. »Warum ich?«, raunte ich, wieder eher zu mir als zu Nighton. »Ich bin ein Mensch. Ich … ich verstehe das nicht. Und Yindarin sind doch so selten. Warum bin ich mit einem …?«
»Das würde ich auch gern wissen.« Nighton verschränkte die Arme und hatte fast bitter geklungen, als er sich langsam wieder aufrichtete. »Aber ich vermute, dass es mit der Balance zu tun hat. Du konntest sie nicht wiederherstellen, und mein Dasein scheint nicht zu zählen. Die Welt gerät immer weiter ins Ungleichgewicht.«
Er hielt inne, musterte mich mit einem Blick, der so viele unausgesprochene Gedanken barg, dass mir ganz anders wurde. »Vielleicht hat es mit dir zu tun – mit dem, was du geworden bist. Oder besser gesagt … was du nicht geworden bist«, überlegte Nighton.
Verwirrt sah ich ihn an und hakte nach: »Wie meinst du das?«
Nighton lehnte sich ans Waschbecken. »Das Ritual oben mit den Erzengeln«, sagte er tonlos. »Als du versucht hast, wieder ein Yindarin zu werden. Vielleicht hat das, was da oben ist, dich noch als das erkannt, was du einmal warst. Ein Überbleibsel deines Yindarin … etwas, das es wert ist, einen neuen Yindarin zu tragen. Ich kann mir vorstellen, dass bei der Übertragung des Yindarin nicht nur eine Seele in Selene, sondern auch eine in un- … in dieses Kind transferiert wurde. Vielleicht sahen irgendwelche höheren Mächte da oben, dass es der einzige Weg ist, die Balance wiederherzustellen. Ein gänzlich neuer Yindarin.«
Seine Worte ließen mich schwindelig werden, als ob der Boden unter meinen Füßen plötzlich weggerissen wurde. Die Bedeutung dessen, was er sagte, traf mich mit voller Wucht.
»Das … das ist ein schlechter Scherz«, stammelte ich. Ich lehnte mich ebenfalls an das Waschbecken, die Hand immer noch auf meinem Bauch. Ich fühlte nichts – keine Übelkeit, keinen Unterschied, nichts.
»Jen.« Nightons nahe Stimme holte mich zurück in die Realität, und als ich zu ihm aufsah, war sein Gesicht ernst, sein Blick schwer. »Du weißt, was das bedeutet, oder?«
Ich schluckte und senkte den Blick. Ich konnte es erahnen … wollte es aber nicht aussprechen. Trotzdem nickte ich stumm.
»Übernatürlicher Körper, übernatürliches Kind, übernatürliches Schicksal.« Er holte tief Luft und griff nach meiner Hand. »Wir haben keine Wahl. Du musst eine Menschenfrau aussuchen.«
Meine Augen weiteten sich, als ich das hörte, und ich starrte ihn an. Daran hatte ich ja noch gar nicht gedacht. Oh Gott, nein. »Heißt das …« Meine Stimme brach ab, und ich musste schlucken, bevor ich die Worte aussprechen konnte. »Heißt das, ich muss eine unschuldige Frau zum Tode verdammen und ihre Familie ins Unglück stürzen? So wie Siwe es getan hat?«
»Ja«, war Nightons nüchterne, emotionslose Antwort. »So ist der Lauf der Dinge.«
Ich legte mir beide Hände an die Schläfen und stöhnte. Alles fühlte sich falsch an – so verkehrt, dass mein Kopf wieder zu explodieren drohte. Jetzt ging es plötzlich nicht mehr darum, alle Möglichkeiten in Betracht zu ziehen, wie zum Beispiel eine Adoption, was eine gewollte Abkehr vom Kind gewesen wäre, sondern um eine Entscheidung, die absolut überlebensnotwendig war – für jeden von uns. Ein paar Sekunden verharrte ich so, während die Gedanken in meinem Kopf wie ein Tornado kreisten. Mit einer solchen Entwicklung hatte ich gar nicht gerechnet.
»Oh Gott«, stöhnte ich schließlich. »Ich werde Mutter. Mit Neunzehn. Wir werden Eltern. Oh Gott, ich glaube es einfach nicht!«
Nighton jedoch schüttelte düster den Kopf und stieß sich vom Waschbecken ab. »Nein«, widersprach er direkt, und sein Ton hatte etwas Endgültiges, als würde er ein Urteil fällen. Blinzelnd sah ich ihn an, wartete, dass er weitersprach. »Ein Menschenpaar wird Eltern. Wir nicht. Vielleicht … in achtzehn Jahren. Wenn der neue Yindarin auferstanden ist. Bis dahin haben wir nichts mit ihm zu tun.«
Bei diesen Worten schoss ein anderer Gedanke wie ein Projektil durch meinen Kopf, der mir abermals die Kehle zuschnürte.
Selene.
Mein Atem stockte, und eine Welle eisiger Angst durchflutete mich. Ich nahm langsam die Hände von meinen Schläfen und sah Nighton aus geweiteten Augen an, der bei meinem Blick fragend die Stirn runzelte. »Was … was ist, wenn Selene davon erfährt?«, wisperte ich entsetzt. Dass mir das erst jetzt kam! »Was, wenn sie erfährt oder sogar schon weiß, dass ich mit einem Yindarin schwanger bin? Was, wenn sie ihm was tun will?«
Es auszusprechen, machte es real – was wirklich unheimlich war. Sofort grub sich die Angst wie Krallen in meine Eingeweide, und ich fühlte mich wie eingefroren. Der Gedanke, dass sie es herausfinden könnte, dass sie diesem kleinen, unsichtbaren Etwas – diesem Kind – etwas antun könnte … es war wie ein Alptraum. Ich konnte nicht genau sagen, was ich fühlte, aber es war überwältigend. Furcht? Sorge? Schutz?
Aber … wie konnte ich eigentlich so denken? Noch vor ein paar Minuten war ich bereit gewesen, das Ganze gemeinsam mit Nighton zu beenden – das Kind … nicht zu behalten. Und jetzt? Jetzt brachte mich allein schon der Gedanke, dass Selene ihm etwas antun könnte, beinahe um den Verstand. Warum?
Ich schluckte hart und schlang die Arme um den Oberkörper.
Doch dann bewegte Nighton sich langsam. Er trat einen Schritt näher zu mir, hielt vor mir an, und ich hob instinktiv den Blick, um zu ihm aufzusehen.
Der Blick, der in seinen Augen lag, war eine Mischung aus kalter Entschlossenheit und glühender Intensität, die mich fast einknicken ließ.
Er neigte sich leicht zu mir, seine gräulich aufglimmenden Augen bohrten sich in meine, und als er sprach, war seine Stimme tief und leise - fast ein Knurren. Und doch hörte ich, wie Sekeera zugleich sprach.
»Das soll sie mal versuchen.«
Die Worte vibrierten geradezu in der Luft, durchdrangen mich bis ins Mark und ließen mir eine Gänsehaut über den Rücken laufen. Da war keine Unsicherheit ihn ihm, kein Schmerz über das Erlebte, keine Spur von Zögern. Nur pure, neu entfachte Entschlossenheit.
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Ich konnte nur flach atmend zu Nighton aufsehen, während mein Herz durch meine Brust stolperte, und doch fühlte ich mich seltsam sicher. Als ob er allein mit diesen Worten eine Mauer zwischen mir, dem Kind und der gesamten Hölle errichtet hätte.