In dem Moment, in dem mein Gehirn verzweifelt nach einem Ausweg suchte, tauchte am anderen Ende der Kristalloberfläche das blaue Geschöpf auf und erstarrte bei meinem Anblick. Riesige Muskelpakete spannten sich über dem Körper des Wesens. Eine Art stummer Verständigung ging zwischen uns vor, wie es nur in solchen Momenten möglich ist, in denen die Zeit fast stillzustehen scheint.
»Bitte!«, flüsterte ich und legte einen Finger auf den Mund, wohl wissend, dass das vermutlich zwecklos war. Und natürlich war es das.
»Gil, komm hoch!«, rief das Wesen, ohne den Blick von mir zu nehmen. Weiter unten hörte ich den als Gil bezeichneten Dämon aufseufzen, dann ertönte ein Rauschen, und er kam direkt neben dem blauen Riesen auf.
Sein gelangweilter Blick streifte mich zunächst nur, bis er dann, als wäre ihm ein Geistesblitz gekommen, plötzlich die Augen aufriss. Er hatte offenbar erkannt, wer und was ich war.
Im Gegensatz zu dem blauhäutigen Dämon hatte er helle, fast bleiche Haut. Sein Haar war eine wilde, dunkle Lockenmähne, die ihm in alle Richtungen vom Kopf abstand, als hätte er gerade erst beschlossen, das Bett zu verlassen. Dunkle Ringe unter seinen Augen erzählten von schlaflosen Nächten oder den Strapazen dieser Umgebung. Sein Gesicht war scharf geschnitten und seltsamerweise von einem erstaunten, fast belustigten Grinsen belegt, während er mich musterte. Dabei fragte ich mich, was es zu grinsen gab.
Weiterhin fiel mir auf, dass er sich für einen Dämon ziemlich komisch kleidete.
Er trug ein staubiges, abgenutztes, aber irgendwie schickes Outfit – eine Mischung aus Goth und Boho, als hätte er einfach alles angezogen, was er gerade zur Hand hatte, ohne darüber nachzudenken. Eine dunkle Jacke, die etwas zu groß wirkte, hing lose über seinen schmalen Schultern, und seine Jeans war total durchlöchert. Merkwürdige Tattoos bedeckten seine Handrücken, die ich aber nicht erkennen konnte, da er sie in die Hosentaschen gesteckt hatte.
»Mein lieber Parok, ich glaube, ich habe einen Fiebertraum!«, bemerkte er, zog die Hände aus den Taschen und stützte sie in die Seiten. »Das gibt sicher eine Belohnung für uns. Und wehe, da sind keine Kippen drin!« Aus irgendeinem Grund schien er das Ganze lustig zu finden. Aber vielleicht war das seine Masche, mit dummen Witzen für sich einen Hauch Normalität in diese Situation zu bringen.
Er machte schon einen Schritt auf mich zu, da begann ich hastig zu sprechen.
»Ich kann euch befreien, euch beide, wenn ihr mir helft.«
Parok lachte trocken auf und wiederholte: »Uns befreien?«
»Ja! Helft mir, diesen Kristall zu zerstören und den Yindarin zu befreien, und ich verspreche euch, wir werden euch gemeinsam aus der Stadt herausschaffen!«
Gil verschränkte die Arme und musterte mich skeptisch, eine Mischung aus Belustigung und Argwohn in den Augen.
»Nimm's mir nicht krumm, Mädchen, aber du siehst aus, als müsste man für dich sogar die Wasserhähne zudrehen. Wie willst du-«, er gluckste, »-den Kristall denn zerstören? Erzählst du ihm deine Lebensgeschichte, in der Hoffnung, er wird weich?« Seine Worte waren spöttisch, aber es schwang etwas mit, das mich glauben ließ, dass er nicht ganz so unnahbar war, wie er tat. Dennoch reizte mich sein provokantes Getue, also funkelte ich den Dämon verärgert an und zischte: »Ja, wirklich witzig, aber ich habe Wichtigeres zu tun, also-«
»War doch nur Spaß! Hat denn hier keiner Humor?«, fiel Gil mir ins Wort und trat näher. Instinktiv wich ich zurück, was ihn jedoch nur zu einem Kopfschütteln brachte. Mit einem genervten Seufzen lenkte er ein: »Na fein, Spaß beiseite. Du willst den Kristall vernichten? Gern, ich bin nicht für Bergbau geeignet und das Ding geht mir schon seit zwei Jahren auf die Nerven. Ich will hier raus, so wie vermutlich jeder. Aber welche Garantie haben wir außer dein Wort?« Herausfordernd und abwartend zugleich hob er beide Augenbrauen hoch.
Ich schluckte. »Gar keine. Nur mein Wort.«
Gil schnaubte, kicherte und schaute Parok an, der den massigen Kopf schüttelte und brummte: »Ich halte es für sicherer, sie den Wachen zu melden. Was, wenn wir hier rauskommen und der Yindarin bereits in den Weiten des Jenseits versenkt wurde? Dann ist unsere Freiheit dahin und man tötet uns.«
Gil nickte und schickte mir einen entschuldigenden Blick.
»Der Dicke hat Recht. Tut mir leid, Menschenmädchen, wir-«
Hektisch rief ich: »Halt! Wollt ihr für immer hier unten mit der Gewissheit versauern, es nicht mal versucht zu haben? Was, wenn der Yindarin noch am Leben ist? Ihr würdet das auf ewig bereuen!« Mein Herz pochte in meiner Brust, als ich versuchte, die beiden umzustimmen. Der Blaue war nach wie vor dagegen, das spürte ich. Aber dieser Gil wirkte unentschlossen. Argwöhnisch hakte er nach: »Und du gibst uns dein Wort, dass der Yindarin, wenn er noch lebt, alles daransetzen wird, uns unsere Freiheit zu sichern?«
Ich nickte fest entschlossen und fügte hinzu: »Natürlich. Wenn er erfährt, dass ihr einen großen Teil dazu beigetragen habt, dass mir nichts passiert ist und ich ihn dadurch retten konnte, wird er euch auf jeden Fall helfen. Ich kenne ihn.«
Gil nickte langsam, ehe er seinen Blick in meinen bohrte, als wollte er den Wahrheitsgehalt meiner Worte überprüfen. Schließlich wandte er sich Parok zu. Achselzuckend sagte er: »Weiß nicht, wie du das siehst, aber ich mache mit. Es ist so scheiß-eintönig hier, ich brauche mal wieder Spaß. Und eine Zigarette.«
Parok schnaufte. Sein Blick wanderte prüfend zwischen mir und seinem Freund hin und her, ehe er knurrte: »Wie sieht dein Plan aus, Menschenfrau?«
Ich zog die Phiole aus meiner Hosentasche und hielt sie in die Höhe. Gil und Parok machten große Augen, als sie den Inhalt erkannten.
»Ist das Höllenfeuer?«, hauchte Parok und kam näher. Gil klatschte aufgeregt in die Hände und rief: »Hölle, ja, das ist Höllenfeuer! Meine Oma hat immer gesagt-«
»Halt dein Maul, Gil, niemanden interessiert, was deine Oma gesagt hat!«, fuhr Parok ihm über den Mund und versetzte Gil einen leichten Stoß, der nur beleidigt grummelte.
Ohne auf die beiden einzugehen, erklärte ich: »Ich muss es auf den Kristall anwenden und es dabei schaffen, nicht zu sterben.«
Parok sah sich um, deutete auf die Ketten und schlug vor: »Wir lösen die Ketten und du wirfst den Sud auf den Kristall. Und mit einer der losen Kette fliehen wir.«
Nachdenklich betrachtete ich die Ketten. Auf den Gedanken war ich noch gar nicht gekommen, aber es schien eine Möglichkeit zu sein.
»Und wie sollen wir hier herauskommen?«, wandte ich ein. »Durch das Portal können wir nicht fliehen, auf der anderen Seite kämpft-« Ich brach ab. Nein, Penny kämpfte nicht mehr. Das hatte ich bei dem Gespräch zwischen Parok und Gil nur zu deutlich gehört.
»Auf der anderen Seite wartet vermutlich eine von Selenes Scherginnen darauf, mich mitzunehmen.« Bei dem Gedanken wurde mir schlecht.
Gil schnappte nach Luft, als wäre ihm etwas Bedeutsames eingefallen. Paroks Zwischenruf, er solle gefälligst leiser sein, ignorierte er.
»Ach, ich wusste, ich kenne dein Gesicht irgendwoher! Du bist der Yindarin, der sich für den Riesendämon geopf...«
»Ja«, war meine knappe Antwort, denn ich hatte keine Lust, über meine Vergangenheit zu sprechen. Es gab deutlich dringendere Angelegenheiten!
Gil überlegte und schaute dann zur Höhlendecke, ehe er sich am Kopf kratzte und behauptete: »Es gibt noch einen zweiten Ausgang. Aber den erreicht man nur durch Fliegen, und ich bin schon ewig nicht mehr in der Luft gewesen.« Er zeigte auf eine etwas erhellte Stelle an der Decke. Ich hätte die nie als zweiten Ausgang gedeutet.
»Dann werden wir eine einzige Kette lösen. Das sollte reichen. Wir schwingen uns an ihr an die Wände der Grube und du wirfst dieses Gebräu. Höllenfeuer reagiert heftig auf Yagransin, es sollte den Kristall also innerhalb weniger Sekunden verschlingen. Während das passiert, wird Gil uns nach da oben fliegen. Ich werde jetzt versuchen, die Kette da zu lösen«, schlug Parok vor und nickte Gil auffordernd zu, der nicht so ganz überzeugt wirkte, sich aber fügte. Parok ging zu der Kette, die mir am nächsten war. Ich murmelte mehr zu mir selbst als zu sonst wem: »Ich hoffe, das funktioniert.«
Dann trat ich an den Rand und ging in die Hocke. Freddie, der sich die ganze Zeit unter meinem Shirt versteckt hatte, kam hervor und kullerte zu Boden. Ich strich ihm über das weiche Fell und suchte die Höhle nach Angel ab. Doch ich entdeckte sie nirgendwo.
Gil kam zu mir und ließ sich neben mir in den Schneidersitz sinken.
»Du rauchst nicht zufällig?«, erkundigte er sich.
»Nein«, entgegnete ich. Gil merkte, dass ich etwas suchte und folgte meinem Blick. Neugierig wollte er wissen, wonach ich Ausschau hielt, und als ich es ihm beantwortete, lachte er lauthals auf und erhob sich.
»Vergiss es«, riet er mir. »Die kleine Gruselblondine kriegst du hier nicht raus. Eher muss die Höhle verschwinden. Sie ist quasi Eins mit dem alten Gestein, also versuch es gar nicht erst. Allerdings, und das ist gerade viel wichtiger...« Er ging neben mir in die Hocke und fuhr sich mit der Hand über den ungepflegten Bart. Im Hintergrund machte Parok sich am Metallstift der Kette zu schaffen machte. Ich behielt die Wachen im Blick, falls die sich bewegen sollten.
»Ich weiß nicht, ob ich euch beide tragen kann.« Ich wandte ihm meinen Blick zu. Das war wahrscheinlich der erste ernste Kommentar, den die Plaudertasche von sich gegeben hatte.
Parok hielt kurz inne, dann straffte er sich und werkelte weiter. Ich erwiderte nichts darauf, denn ich wusste nichts zu sagen. Stattdessen fragte ich: »Warum seid ihr nicht längst geflohen, wenn es einen Ausgang gibt und man nur da hoch fliegen muss?«
»Weil wir nicht weiter als bis zur Stadt kämen. Die olle Schlangenpriesterin hat eine Teleportbannzone auf die Stadt und ihr Umfeld gelegt. Und wegfliegen kann man auch nicht, weil man sonst von Harpunen aufgespießt wird. Stell dir vor, man würde kleine Hackbällchen auf einen Spieß stecken. Ist kein schöner Anblick. Man würde uns schnappen, bevor wir auch nur den Hafen erreichen.«
Das erklärte einiges. Ich wollte gar nicht daran denken, was man mit mir tun würde, wenn Nighton und Penny tatsächlich schon tot waren. Als sich der Gedanke bildete, kniff ich fest beide Augen zu und drängte ihn mit aller Macht beiseite. Nein, sie waren nicht tot!
Ich hörte Parok ächzen.
»Gleich haben wir es«, keuchte er, und mit einem heftigen Ruck riss er den Metallstift aus der Verankerung, die die Kette und den Kristall verband. Beinahe riss ihn die schwere, schlenkernde Kette vom Kristall, doch er schaffte es, sie festzuhalten. Ein ohrenbetäubendes metallisches Klappern hallte durch die Höhle, was die Aufmerksamkeit der Höllenkühe erweckte.
Im selben Augenblick brach das Chaos los.
Die Bullenwächter galloppierten von allen Brücken und sonstigen Zugängen aus auf uns zu. Dabei stießen mit ihren Hörnern wehrlose Arbeiter in den Abgrund, die ihnen im Weg standen. Ich hatte nicht viel Zeit, das schrecklich zu finden, denn Gil packte mich und schleifte mich zu Parok, der vor Anstrengung stöhnte. Das mitansehen zu müssen war entsetzlich, aber ich hatte keine Zeit, mir deswegen den Kopf zu zerbrechen. Gil zog mich hastig zu Parok, dessen Stöhnen vor Anstrengung die Luft füllte.
Dann ging alles einfach nur sehr schnell. Es gab keinen Moment, um nach Angel zu suchen oder auch nur wegen ihr zu protestieren. Sogar Freddie, der sich in der Aufregung nicht von meiner Schulter rühren konnte, war gerade noch rechtzeitig unter mein Shirt gerollt.
Gil packte nun selbst die Kette und riss mich mit. Parok brüllte vor Schmerz und versetzte der Kette einen mächtigen Stoß, sodass die mit uns dran vom Kristall wegschwang. Anstatt mit an die Kette zu springen, blieb er jedoch auf dem Kristall stehen. Gills Stimme klang voller Panik, als er Paroks Namen rief.
Jetzt.
Ich klammerte mich an der Kette fest, griff hastig in meine Tasche und schleuderte die Phiole mit aller Kraft gegen den Edelstein. Der letzte Blick auf Parok zeigte uns ein schmerzliches Lächeln, ein paar unklare Lippenbewegungen und eine ehrende Verbeugung in meine Richtung. War das sein Plan gewesen? Hatte er etwa von Gil gehört, wie der von seinen begrenzten Möglichkeiten sprach, als es darum ging, zu fliegen? Aber warum hatte er sich für mich geopfert? Er kannte mich doch gar nicht, ich war eine Wildfremde, sonst nichts!
Die Phiole zersplitterte beim Aufprall auf den rauen Kristall. Eine angsteinflößende Stille folgte. Dann, wie ein zischendes Flüstern, entzündete sich ein winziger Funke, der sich rasch zu einer gewaltigen Explosion aufblähte. Millionen Kristallsplitter schossen in alle Richtungen, begleitet von einem ohrenbetäubenden Rumoren. Die Gerüste stürzten ein, alle Arbeiter fielen schreiend in die Tiefe. Kinder, Frauen, Männer. Selbst die Höllenstiere blieben nicht verschont. Die riesige schwarze Feuerkugel, die sich rasch um den letzten Rest des Kristalls schloss, schickte feurige Geschosse durch die Höhle. Die haltenden Ketten rissen ab und eine gewaltige Druckwelle entlud sich in die Höhle, die die Kette, an der Gil und ich hingen, aus ihrer Verankerung in der Felswand riss.
Ich schrie auf, als wir im freien Fall waren.
Doch der Dämon erwies sich als Meister der Reaktion. Innerhalb eines Wimpernschlags breitete er seine mächtigen Schwingen aus, packte mich fest und stieß sich mit mir von der Kette ab. Wir flogen wie ein Geschoss der Öffnung in der Höhlendecke entgegen, unser Aufstieg war steil und unaufhaltsam.
Ich klammerte mich an Gil, während seine Schwingen uns immer höher trugen. Er keuchte schon schwer, und ich betete, dass er durchhielt. Während unseres Aufstiegs wanderte mein Blick nach unten. Von dem einst gigantischen Kristall war nichts mehr übrig. Nun stürzten auch die Gerüste an den Wänden ein, Brücken zerbrachen und fielen in den Abgrund, während die nutzlos gewordenen Ketten nur noch schlaff an den Wänden hingen. Einige Überlebende klammerten sich verzweifelt an Felsen und schrieen um Hilfe. Die Wachen, die sich aus der Grube kämpften, brüllten uns hinterher. Doch Gil hielt unermüdlich auf die rettende Öffnung in der Decke zu.
Und da sah ich sie: Angel. Das kleine Mädchen stand inmitten der Trümmer, ihr Gesicht strahlte durch das Chaos und ich glaubte, sie winken zu sehen. Ich versuchte, an Gil zu zerren und ihn auf das Mädchen aufmerksam zu machen, doch er ignorierte meine Bemühungen und flog direkt durch das Loch. Angels Gesicht wurde immer kleiner, und ich konnte nichts tun.
Dann geschah das Unvorstellbare: Wir tauchten ins Wasser ein. Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag: Die Höhle lag unter Wasser, und eine unsichtbare Barriere musste das Wasser davon abhalten, sie zu fluten. Wir waren die ganze Zeit unter Wasser gewesen?
Da ich keine Gelegenheit gehabt hatte, vor dem Eintauchen Luft zu holen, spürte ich sehr bald einen immensen Druck auf meinen Lungen lasten. Das Wasser war zuerst tiefschwarz, doch es wurde rasch heller, bis ich die glitzernde Wasseroberfläche sehen konnte. Gil schwamm ihr mit kraftvollen Zügen entgegen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der der Druck in meinen Lungen fast unerträglich wurde, durchbrachen wir endlich die Oberfläche. Ich schnappte befreit nach Luft, während Kälte und Wind in meine Haut schnitten. Anstatt mich loszulassen, flog Gil weiter, völlig in seine Anstrengungen vertieft. Doch dann sackte er auf einmal ein Stück ab.
Ich schrie seinen Namen. Das schien ihn wach zu rütteln, denn er ließ mich los. Damit hatte ich nicht gerechnet. Die zehn Meter, die zwischen mir und der Wasseroberfläche lagen, boten mir keine Zeit zum Schreien. Schon fiel ich ins Wasser. Panisch um mich schlagend tauchte ich auf und japste nach Luft. Ich sah, wie weiter oben Gils Schwingen zu Asche und vom Wind davon getragen wurden, während er ebenfalls an Höhe verlor und nicht weit weg ins Wasser fiel.
Doch auch er tauchte schnell wieder auf und kämpfte sich zu mir. Das wilde Meerwasser drang mir ständig in Mund und Nase und machte es schwer, mich über Wasser zu halten.
Gil packte meinen Arm und zog mich weit über die Oberfläche. Das bot mir endlich die Gelegenheit, durchzuatmen und mich umzusehen. Wir waren gar nicht weit von den Stegen und Stelzen entfernt, auf denen die Stadt thronte.
»Dahin!«, keuchte ich und zeigte auf ein paar Felsen, die unweit der Stege aus dem Wasser ragten. Gil nickte erschöpft.
»Halt dich fest«, befahl er, und zog mich auf seinen Rücken.
Mit kräftigen Zügen schwamm er los. Ich ließ den Blick schweifen und hoffte inständig, dass jetzt kein Glynwyd auftauchen würde, um uns zu fressen. Doch wir hatten Glück.
Als wir die Felsen erreichten, sprang der Dämon an die raue Wand. Wie ein Affe kletterte er nach oben. Auf den Stegen angekommen, ließ er mich runterrutschen. Das war zu viel für meinen gebeutelten Körper. Ich verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Selbst Gil schnappte nach Luft und ließ sich keuchend neben mir nieder.
»Das ist nichts für meine Raucherlunge«, stöhnte er und stupste mich an. »Hey, alles in Ordnung bei dir, Mensch? Du bist mein Ticket aus der Stadt raus, also sag mir bitte etwas Positives.«
Ich hustete heftig und spuckte etwas Salzwasser aus.
»Mein Name ist Jennifer!«, keuchte ich und stemmte mich auf die Beine. Gil folgte meinem Beispiel und nickte mir zu.
»Ich bin Gillean. Gil reicht aber.« Sein Blick wurde dunkler, und ich sah plötzlich eine tiefe Traurigkeit in seinen Augen.
»Er war mein Freund. Mein Einziger da unten«, murmelte er mit unerwarteter Schwere, während er auf das Wasser starrte. Klar war, dass er von Parok sprach.
»Es tut mir sehr leid«, murmelte ich aufrichtig und legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter.
Gil betrachtete meine Hand, dann mein Gesicht, und seine Stirn zog sich in Falten. Schließlich sagte er: »Parok hat einen unfassbar hohen Preis für unser Entkommen gezahlt, Jennifer. Ich hoffe, für dich, dass der Yindarin noch lebt.«
Ich nickte düster und wandte meinen Blick zur Stadt, die nun still und leer vor uns lag. So viel Schreckliches war passiert, es hatte so viele Tote gegeben - doch an denen durfte ich mich nicht aufhängen. Es stand genug anderes auf dem Spiel.
»Dann sollten wir keine Zeit verlieren«, meinte ich entschlossen. Wenigstens waren wir im Inneren der Kuppel rausgekommen. Andersrum wäre es schwierig geworden.
»Dann schieß mal los, wie lautet dein Plan?«, fragte Gil nach einigen Sekunden und ließ den Blick über das Wasser wandern.
»Ich muss zuerst zu dem Ort, wo man den Yindarin und den Engel über den Abgrund schießen will, was immer das bedeuten soll«, antwortete ich und hob ratlos die Schultern an. Gil zog die Augenbrauen zusammen und schlüpfte aus seiner triefnassen Jacke, um sie auszuwringen. Währenddessen erklärte er: »Die Party wird auf der Glasterrasse am hinteren Hof steigen. Es gibt eine Treppe, die dorthin führt. Aber die wird voll von Glotzern sein. Wo ich mich selbstredend nicht zuzähle. Und dann? Was tust du, wenn du dort bist?«
»Improvisieren«, war meine knappe Antwort. Ich wollte schon losstürmen, da hielt der Dämon mich zurück und rief bestürzt und ziemlich vorwurfsvoll zugleich: »Was? Das ist alles? Dir ist wohl entgangen, dass wir mieserable Voraussetzungen haben, um uns mit den Saerperi anzulegen! Du zählst nicht und ich bin dehydriert, habe seit dreizehn Monaten keine Nahrung zu mir genommen, weder ess- noch rauchbare, und im Zutreten bin ich auch nicht gerade der Hit. Ich bin eher der, der viel redet, von daher sieht's dürr aus, wortwörtlich.«
»Was, wirklich? Das ist mir ja noch gar nicht aufgefallen!«, entgegnete ich voller Ironie, ehe ich entschieden hinzufügte: »Ich muss es einfach schaffen. Es gibt keinen Platz für Wenn oder Aber.« Ich wollte gerade weitergehen, als ich Gil trocken lachen hörte. Der langhaarige Dämon lief ein paar Schritte den Steg entlang und hielt dann inne.
»Weißt du, was lustig ist?« Er breitete die Arme zu den Seiten aus. »In fünfundsiebzig Jahren habe ich noch nie jemandem ohne Gegenleistung geholfen, und jetzt wird mein beschissenes Leben wahrscheinlich bei dem Versuch enden, einem lausigen Yindarin den Arsch zu retten.«
Ich starrte ihn wütend an und presste heraus: »Und wo ist die Pointe? Ich finde es nicht witzig, was also gibt es zu grinsen? Du kennst Nighton und Penny nicht, wie kannst du dir da ein Urteil erlauben? Wenn du Angst hast, dann geh doch! Ich komme auch allein zurecht!«
Gil hörte auf zu lachen, stemmte die Hände in die Hüften und betrachtete mich mit bemüht ernsthaftem Blick.
»Pardon, Madam, ich wollte nicht über deinen hochgeschätzten Yindarin herziehen. Nun auf, auf, ohne mich kommen Sie keine zehn Meter weit«, behauptete er näselnd und machte eine gesichtsausdruckslose Geste, als wäre er ein steifer Butler aus einem aristokratischen Haushalt.
Ich stöhnte frustriert über dieses Verhalten und warf die Hände in die Luft.
»Weißt du was?«, begann ich, »Wenn du so weitermachst, werde ich dich am Ende noch vermissen. Als Witzfigur!«
Damit stampfte ich an der aufmüpfigen Plaudertasche vorbei. Während ich ging, hörte ich Gil hinter mir trocken murmeln: »Dafür musst du das hier erst mal überstehen, du irre Kuh. Und wenn dir das echt gelingen sollte, geht all das hier als größter Akt der Verzweiflung in meine Biographie ein.«
Ich wollte es nicht, aber er entlockte mir ein Lachen. Einen Fuß auf die Stufen vor mir setzend hielt ich an und sagte spöttisch über die Schulter: »Echt jetzt? Ist das der beste Spruch, den du draufhast? Wenn ich mein Vorhaben hier also packe, dann wird das für dich der größte Akt der Verzweiflung werden, den du erlebt hast? Na, das sagt einiges über dein bisheriges Leben aus. Ist ja lachhaft.« Ich schnaubte leise. »Und glaub mir, diese Biographie wird sowieso nichts wert sein, wenn du den ganzen Tag nur leeres Zeug laberst, statt zu helfen.«
Mit einem nachdrücklich ernsten Blick wandte ich mich ab und setzte meinen Weg fort. Die letzten Bemerkungen des Dämons verschwammen im Hintergrund, während ich mich auf das konzentrierte, was vor mir lag. Penny und Nighton brauchten mich, und ich war fest entschlossen, sie nicht enttäuschen.