Als ich mich vom Baumstumpf hochdrückte, taumelte ich und musste sofort wieder zu Boden sinken. Der Schwindel raubte mir fast das Bewusstsein. Es war mir kaum möglich, die Augen offenzuhalten, um nicht direkt wieder umzukippen.
Warum nur war ich hier gelandet und nicht im Himmelsturm? Der sollte doch die Verbindung zwischen allen Punkten sein, so wie der Dunkelturm. Und ich hatte so fest an ihn gedacht!
Ich schob diese Frage zur Seite und stemmte mich ein weiteres Mal in die Höhe. Alles, was ich wollte, war zu Nighton zu kommen. Nur noch zu ihm. Mit einer Hand, die ich fest gegen die Wunde an meinem Hals presste, ging ich zum Zaun und blickte mich vorsichtig um. Die Umgebung wirkte fast vertraut – die verschnörkelten Rinden der Bäume, das violette Blätterdach, das zarte Leuchten der blauen Glühwürmchen… Ich war eindeutig in Oberstadt. Aber warum in diesem Käfig? Und noch wichtiger: Wie kam ich hier wieder raus?
»Ist da jemand?«, krächzte ich. Keine Antwort. War klar.
Mit einem letzten Rest an Kraft hob ich den Blick und ließ meine Augen über die Kuppel aus Tauen gleiten, die mich umgab. Sie wölbte sich wie ein leuchtender Dome über mir, an dessen höchstem Punkt eine Öffnung klaffte, umwabert von rötlichen Schwaden. Meine Sinne schrien Alarm. Ein Ausweg würde das nicht sein – eher eine weitere Falle.
Ich drehte mich zurück zum Zaun und wollte gerade noch einmal rufen, da tauchte wie aus dem Nichts eine messerscharfe, weiß glänzende Klinge aus Stoff auf, die mir blitzartig entgegengestreckt wurde. Der Schreck ließ mich stolpern und instinktiv zurückweichen.
Draußen vor dem Zaun stand eine Frau mit silbernem Haar, die mir vage bekannt vorkam. Ein gleißendes Licht umspielte ihren Körper, und ich sah entsetzt mit an, wie sich schimmernde Bahnen aus Stoff langsam durch die Maschen des Zauns drängten, mit zielstrebiger Entschlossenheit direkt auf mich zu.
»Sprich deine letzten Worte!«, forderte sie mich auf. Ihre Stimme hallte zweistimmig, durchdrang den Käfig und ließ meine Haare sich aufstellen.
Ich stolperte weiter zurück, meine Gedanken wirbelten im Kreis. »Warte, bitte!«, rief ich verzweifelt. Die Stoffbahnen hielten inne, aber nur für einen Moment.
Dann traf mich der Blick ihrer kühlen, blauen Augen – durchdringend und gnadenlos, als würde er mich röngten wollen. »Du siehst aus wie ein Mädchen, das ich vor kurzem kämpfend in Unterstadt gesehen habe. Aber das Mädchen ist an der Seite des Yindarin, nicht in einem Abfangnetz für Teleporte aus Unterstadt.« Ihre Augen verengten sich misstrauisch. »Also – ein Gestaltwandler, nicht wahr?«
Ich wich weiter zurück, doch die Worte sprudelten aus mir hervor: »Ja, doch, ich habe dich auch gesehen, du hast Nighton die Speere aus dem Körper gerissen!« Die Stoffbahnen zögerten, bevor sie auf mich zusteuerten und mich wie Pfeilspitzen fixierten.
»Das hättest du auch von Weitem beobachten können«, zischte der Engel misstrauisch, und die Stoffspeere ruckten bedrohlich auf mich zu. Ich hob die Arme über meinen Kopf und erwartete den Stoß, als eine sanfte Berührung an meinem Hals meine Aufmerksamkeit fesselte. Ich blinzelte, öffnete die Augen und sah, wie die Stoffbahnen sich zurückzogen, ein Band blutverschmiert.
Die Frau fuhr sich mit dem blutigen Band über die Lippen, schloss die Augen und murmelte, fast beiläufig: »Tatsächlich. Menschlich … wenn auch mit einer undefinierbaren Note.«
Ein scharfes Geräusch, wie das Ziehen einer Klinge, durchschnitt die Luft, und mit einer einzigen Bewegung durchtrennte der Engel die Taue des Zauns. Eine Öffnung entstand, kaum breit genug für eine Person. Sie winkte mir zu, mich zu beeilen, bevor das Geflecht sich schloss.
Ohne eine Sekunde zu zögern, stieg ich durch die Öffnung und war endlich draußen. Kaum trat ich ins Freie, schlossen sich die Stränge wieder wie ein lebendiges Gitter hinter mir, als hätte es den Bruch nie gegeben. Nun konnte ich die Frau endlich richtig betrachten. Die lebendigen Stoffbahnen fielen an ihr hinab, schimmerten in reiner, gleißender Weiße, die mein verdrecktes, blutiges Äußeres in einem erbärmlichen Licht dastehen ließ. Ich sah zu ihr auf, halb geblendet und gleichzeitig fasziniert. Sie hatte ein glattes, ebenmäßiges Gesicht, schmale Lippen und leicht geneigte, stahlblaue Augen, die mich mit einer unheimlichen Durchdringung musterten.
»Es ist wohl unnötig, dass ich mich weiter über dich wundere«, sagte sie mit einem merkwürdigen Lächeln. »Über dich hört man einiges, Yindarin-sin.« Ihre Stimme klang wie ein helles Glockenspiel in der Stille des Waldes. Ich versuchte zu antworten, doch meine Kehle war wie zugeschnürt.
»Mein Name ist Elisae«, stellte sie sich mit sanfterer Stimme vor, »Anführerin der Seraph und Hüterin dieses Waldes.« Sie schien auf meine Reaktion zu warten, doch ich konnte nur erschöpft nicken.
Mit einem prüfenden Blick trat sie näher und legte mir eine ihrer angenehm kühlen Hände an die Stirn. »Für einen Mensch hast du eine sehr hohe Temperatur«, stellte sie sachlich fest. Ihr Blick glitt weiter zu meinem Hals. »Was hat dich verletzt?« Ein Schatten legte sich über ihr Gesicht, und ich bemerkte, wie sich die Stoffbahnen zu einer Art Stab formten, der sie noch mächtiger wirken ließ.
Schmerz bohrte sich plötzlich wieder in meine Kehle, und ich keuchte: »Es … es war Selene.« Ein kalter Schauder lief mir über den Rücken.
Elisae zuckte kaum merklich zusammen. »Vom Schloss der Dämonengöttin also kommst du.« Sie runzelte die Stirn. »Ich sehe keinen Teleporter an dir. Wie hast du das geschafft?«
Ich stöhnte gequält. »Können wir das … später klären?«, stammelte ich. »Ich muss zu Nighton und brauche Hilfe … oder zumindest ein Krankenhaus–« Schmerz, einhergehend mit Schwäche, durchzog mich wieder, und ich krümmte mich, unfähig, weiterzusprechen.
»Natürlich«, erwiderte Elisae, ihre Augen wurden weicher. »Der Yindarin wird schon längst auf der Suche nach dir sein. Doch bevor wir losgehen, lass mich dir ein wenig Linderung verschaffen.« Behutsam legte sie ihre Hand an meinen Hals, und eine Welle warmen Wassers schien durch meinen Körper zu fließen.
»Heilen kann und darf ich dich nicht vollständig«, erklärte sie leise, als das Brennen in meiner Kehle nachließ und das Blut zu fließen aufhörte. »Meine Kräfte gehören dem Wald, und wenn ich sie zu weit beanspruche, verliere ich die Fähigkeit, das Wispern der Bäume zu verstehen.« Sie hob den Blick zum Blätterdach und ihre Augen schlossen sich für einen Moment, als wollte sie den Klang des Waldes in sich aufnehmen. Ein Rauschen erfüllte die Luft, tief und eindringlich, das sich in den Baumwipfeln wie ein Echo verlor und ein Frösteln über meine Haut jagte. »Die Bäume haben uns so viel zu sagen.« Sie sah mich wieder an und lächelte. »Nun, komm, Menschenmädchen. Es ist nicht weit.«
Mit einem knappen Nicken setzte sie sich in Bewegung, ihr Stab schwang leicht in ihrer Hand. Mit schleppenden Schritten folgte ich Elisae, die sich mühelos durch den dicht bewachsenen Wald bewegte. Die Erschöpfung zog an mir, und jeder Atemzug war eine Last. Nach einer Weile, die sich endlos dehnte, hob ich die Stimme: »Wo genau bin ich hier gelandet?«
»Im Lebenswasserwald, östlich der Ebene der Lichter. Das Rauschen in der Ferne – das ist der Naurin im Norden.« Sie warf einen kurzen Blick über die Schulter, als könnte sie mein Erschöpfung spüren. »Das Herz von Oberstadt liegt im Südwesten. Aber hat man dir nicht gesagt, dass Oberstadt seit dem Erstarken der Menschen kein normales Teleportziel mehr ist? Nur sehr wenige Teleporter, darunter der des Yindarin, können die Schutzbarriere durchdringen. Wer es dennoch wagt, landet hier, gefangen. Du hattest Glück, dass ich auf einem routinemäßigen Kontrollflug war.«
Ich nickte mechanisch und kämpfte mich weiter. Worte fühlten sich wie ein übermäßiger Kraftaufwand an.
Nach einer scheinbar endlosen Strecke brach das Zwielicht des Waldes plötzlich auf, und wir standen am Rand der Ebene der Lichter. In Oberstadt war die Nacht eingekehrt. Zur Rechten, vor den schroffen Berghängen des Nebelgebirges, hob sich der imposante Löwenkopf ab. Über die Ebene huschten bunte, sanft flackernde Lichter, die über das Gras glitten und ihm eine fast lebendige Bewegung verliehen. Der Anblick hatte etwas Magisches, doch der Gedanke, hierzubleiben, war undenkbar. Alles in mir drängte mich nach vorne, ich musste zu Nighton, und außerdem allen sagen, was passiert war. Dass Asmodeus erweckt worden war.
Mit einem schweren Atemzug richtete ich meinen Blick in die Ferne, wo das Dach des Schlosses im Mondlicht glitzerte. Die Häuser der Stadt schienen auf einmal viel größer, lebendiger, als ich sie in Erinnerung hatte. Diese Stadt hatte ihre Größe und ihren Glanz verborgen – vielleicht genauso wie ich.
»Komm«, sagte Elisae sanft, als hätte sie meine Gedanken erfasst, und führte mich über die weite Ebene. Ich folgte ihr, die kühle Nachtluft half mir, nicht auf der Stelle zusammenzubrechen.
Wir liefen weiter, und mit jedem Schritt wuchs die Stadt um uns herum. Irgendwann erstreckte sich eine breite Hauptstraße vor uns, die den Palast und den Himmelsturm verband. Links und rechts von uns zogen Häuser an uns vorbei, in denen überall Licht brannte. Winzige Glühwürmchen tanzten um die leuchtenden Laternen, die die Straßen erhellten. Selbst durch die Müdigkeit spürte ich den Zauber Oberstadts – eine friedliche Ruhe, die sich durch die Nacht zog, unberührt und fast zeitlos.
Erst am Fuß der Treppen zum Schloss hielt Elisae an. Sie musterte mich kurz, dann richtete sie den Blick zum Himmelsturm. »Ich spüre den Yindarin«, sagte sie, mehr zu sich selbst als zu mir, und wies auf das erhabene Schloss. »Er ist bei der Obersten. Du musst auf der Stelle zu Gabriel. Er wird dir sicher helfen.«
Ich wollte antworten, doch meine Stimme versagte. Elisae legte mir eine kühle Hand auf die Schulter, und ihre Augen strahlten eine beruhigende Ruhe aus. »Bleibe stark, Jennifer Ascot.« Im nächsten Augenblick verwandelten sich die Bahnen ihres Kleides in lebendige Stoffbänder, die sie umgaben und in ein reines, weißes Leuchten hüllten. Sie löste sich in eine schwebende Gestalt auf und glitt wie eine Wolke gen Himmel, verschwand lautlos in die Dunkelheit.
Nun stand ich allein am Fuße der Stufen, das Schloss der Engel vor mir, den Weg zurück im Dunkel hinter mir. Die Angst, dass ich vielleicht doch nicht bis nach oben gelangen würde, legte sich wie ein kalter Stein auf meine Brust, doch ich zwang mich, meine Beine vorwärts zu bewegen. Ich sammelte die letzten Reste meiner Kraft, klammerte mich an mein wichtiges Vorhaben, als ich Stufe für Stufe erklomm. Der Weg zog sich in die Länge, jeder Schritt war eine Qual. Mein Fieber war zweifellos gestiegen; als ich meine Hände ansah, wirkte meine Haut fahl, fast grau. Alles in mir schrie danach, zur Ruhe zu kommen. Doch das musste warten.
Oben vor dem Portal angekommen blieb ich stehen, rang nach Luft und drückte meine blutigen Finger auf die Wunde an meinem Hals, die wie Feuer brannte. Trotz der Qualen fühlte ich, dass ich nun wirklich angekommen war. Ein Wunder, dass ich es überhaupt bis hierher geschafft hatte.
Im Inneren des Schlosses hörte ich Stimmen. Ich konnte Isaras schneidende Töne heraushören, scharf und drängend, und dann, die tiefe, vertraute Stimme, die mir in dieser Dunkelheit ein Leitstern war: Nighton. Es klang, als würde er heftig mit Isobel diskutieren, und ich spürte, dass es meinetwegen war. Sie stritten, weil ich nicht hier war.
Die Welle der Erleichterung, die mich überkam, war fast schmerzhaft. Er war da, er war tatsächlich hier. Der Klang seiner Stimme allein gab mir für einen Moment das Gefühl, dass ich es wirklich geschafft hatte, dass die Erlösung nur noch wenige Schritte entfernt war.
Ich lauschte einen Moment, um zu Atem zu kommen.
»Es ist mir so gleich, dass du Oberstadts Kapazitäten schonen willst! Ich gehe jetzt nach Unterstadt und hole sie, ganz egal, was du sagst! Ich bin der Yindarin, und ich tue, was ich will!« Nightons Stimme hallte durch den Thronsaal, und ich spürte die Wucht seines Zorns bis hierher.
Hinter ihm erhob sich ein Gemurmel, Stimmen schwollen an und ebbten wieder ab, flüchtige Kommentare, die wie Schatten durch die Luft glitten. Isara entgegnete Nightons Drohung mit einem scharfen Befehlston, der wie ein Peitschenhieb durch die Menge fuhr: »Das wirst du nicht! Ich verbiete es! Du bist vielleicht der Yindarin, aber ich bin deine Oberste, Nighton, und du hast mir zu gehorchen!«
Die Spannung im Saal nahm greifbare Formen an, so dicht, dass ich es fast körperlich spüren konnte. »Und wenn du deinen Ton mir gegenüber nicht mäßigst«, fuhr die erstaunlich erwachsen klingende Isara fort, »werde ich zu drastischeren Maßnahmen greifen müssen!«
Ein nervöses Raunen ging durch die Anwesenden, und ich hörte ein gequältes Seufzen, das jemandem entwich.
»Maßnahmen, Isara?« Nightons Stimme triefte vor Spott. »Was denn so? Mich mit deiner gestelzten Ausdrucksweise zu Tode langweilen? Ich gehe jetzt und nehme so viele Engel mit, wie ich will! Du bist niedliche fünfzehn Jahre alt, Kleine, also spiel dich nicht so auf, nur weil du in die verdammte Position deiner Mutter gerutscht bist!«
Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ein aufgeregtes Durcheinander brach aus, alle Stimmen auf einmal, ein einziges Chaos. Der Druck in meinem Kopf schwoll an, und ich wusste, dass ich handeln musste – jetzt oder nie. Ich spürte jede Faser meines Körpers brennen, aber es blieb keine Wahl.
Mit meiner letzten Kraft sammelte ich mich, zwang meine Arme hoch und stieß die schweren Flügel des Portals auf. Das Gemurmel erstarb augenblicklich. Ich lehnte mich an die geöffneten Türen, meine Handflächen hinterließen blutige Abdrücke auf dem kalten Material, während ich keuchend versuchte, aufrecht zu bleiben. Frisches Blut lief in dünnen Rinnsalen meinen Hals hinunter und zeichnete dunkle Linien auf meiner Haut. Schwer atmend hob ich den Kopf und sah in den Saal.
Alle Augen waren auf mich gerichtet, entsetzt, starrend, verwirrt. Jedes Gesicht war auf mich fixiert, als wäre ich ein Geist oder eine verlorene Seele, die gerade zurückgekehrt war. Tharostyn, Gil, Gabriel, die Himmelswache, Greah – und mittendrin, umringt von Ratsmitgliedern und Wachen, stand Nighton, seine Augen grellgrün und schattig vor Zorn, als er mich sah. Ein Flackern der Erleichterung blitzte in seinem Blick auf, das er nicht verbergen konnte, auch wenn er seine Beherrschung in diesem Augenblick fast vollständig verlor. Daneben stand Isara, ihre Miene war reglos, doch ihr Gesicht war vor Zorn gerötet.
»Bei den Göttern!«, hörte ich Tharostyn hervorstoßen.
Und in diesem Moment übermannte mich die Schwäche endgültig. Die Welt begann zu verschwimmen, meine Knie gaben nach, und bevor ich realisierte, was geschah, kippte ich wie ein gefällter Baum nach vorn. Der kühle Steinboden rückte in Sekundenschnelle näher, und ich konnte nicht einmal die Hände heben, um den Aufprall abzufedern. Mein Kopf schlug hart auf, und ein dumpfer, schmerzvoller Knall durchzog meinen Schädel, doch ich war schon zu weit weg, um den Schmerz wirklich zu begreifen. Alles fühlte sich an wie in Watte gepackt, gedämpft und unwirklich.
Stimmen drangen durch die Entfernung zu mir, gedämpft und besorgt, Schritte näherten sich rasch. Noch bevor ich den Aufprall vollständig verarbeiten konnte, spürte ich Hände an meinen Schultern, die mich halb umdrehten, aufrichteten und sanft und doch fest in eine sitzende Position zogen. Ich wollte etwas sagen, wollte erklären, was passiert war, aber die Worte blieben in meiner Kehle stecken, schwer und unerreichbar, wie ein verzweifelter Gedanke, der in der Dunkelheit verloren ging.
»Selene hat-«
»Ist gut. Nicht reden.«
»Nein, du verstehst nicht! Bitte, du musst mir zuhören!«
»Beruhige dich!«
»Nein!«, keuchte ich, riss die Augen auf, verkeilte meine Finger in Nightons Shirt und starrte ihn verzweifelt an. Die Worte brannten auf meiner Zunge, drängten sich heraus, und die Panik in meinem Blick ließ ihn innehalten.
Inzwischen ruhte die Aufmerksamkeit des gesamten Saals auf mir, auch die von Isara, die ebenfalls herangetreten war. Ihr Gesicht spiegelte kühle Besorgnis, doch die Spannung in ihren Schultern verriet, dass selbst sie die Dringlichkeit spürte. Ich tastete nach der offenen Portalhälfte, suchte Halt und brachte die Worte schließlich hervor, laut genug, dass sie jeder hören konnte.
»Selene hat Asmodeus erweckt.«
Eine lähmende Stille legte sich wie eine Decke über den Raum, fast greifbar, als würde die Luft jeden Atemzug ersticken. Dann brach ein schallendes Lachen aus den Reihen der Ratsmitglieder hervor – ein weißhaariger Engel prustete höhnisch und einige andere stimmten ein, als hätten sie auf diese Gelegenheit gewartet.
»Menschen! So ein Unfug! Das kann die Göttin unmöglich getan haben!« Mit einem Finger zeigte er verächtlich auf mich, und in seiner Haltung lag pures Misstrauen.
Ein Funke Wut flammte in mir auf. »Unfug, ja? Und wie–« Ich zog meinen Pullover so weit herunter, dass der gesamte Saal freie Sicht auf die tiefe, klaffende Wunde in meiner Halsbeuge hatte. »– erklärt ihr euch das hier?!«
Schockiertes Gemurmel setzte ein, das durch den Raum raste wie ein Feuer. Nightons Gesicht wurde bleich, als er die Verletzung sah.
Doch der Engel schüttelte nur unbeeindruckt den Kopf, sein Gesicht blieb dabei reglos und seine Miene unverändert abweisend. »Wahrscheinlich hast du dir die selbst zugefügt, um deine Geschichte dramatischer wirken zu lassen. Menschen sind bekannt für ihre Spitzfindigkeit. Denkt nur an jene, die versuchen, uns zu erforschen! Oder bist du vielleicht ein Spitzel der Dämonengöttin, der gekommen ist, um uns zu untergraben?«
Ich öffnete den Mund für eine bissige Antwort, doch eine donnernde Stimme übertönte mich, rau und erfüllt von unverhohlener Wut.
»Schluss jetzt!« Nighton schoss dem Engel einen Blick zu, der ihn wie eine Flamme durchbohrte, und der Engel wich unwillkürlich einen halben Schritt zurück.
Dann wandte er sich zu mir und löste meine zitternden Finger von der Tür. Seine Stimme war auf einmal wieder leise, fast beruhigend. »Wir verarzten dich erst mal«, murmelte er und beugte sich hinab, um mich hochzuheben. Doch genau in diesem Moment begann das Feuer in seinen Schalen um uns herum zu flackern, als ob ein unsichtbarer Sturm im Anzug wäre.
Ein beunruhigtes Gemurmel erfüllte den Raum, als alle sich hektisch umsahen. Die Temperatur stieg, die Luft wurde drückend, und ein flimmernder Schimmer legte sich wie ein roter Schleier über die Fackeln. Eine unheilige Hitze begann, den Raum zu durchziehen, drückend und scharf, als wäre sie nicht von dieser Welt. Heißer Wind fuhr durch den Saal, und die bodenlangen Vorhänge flatterten wild, als drohte ein Sturm sie mit sich zu reißen. Das Feuer züngelte noch höher, schlug wie ein unkontrollierbares Tier aus den Schalen, umtanzte uns mit einem unheilvollen Leuchten. Etwas war in Bewegung gesetzt worden, das fühlten wir alle.
Die Unruhe schwoll an. An der Decke ballten sich rote, pulsierende Gewitterwolken, und in der Mitte des Saals begann die Luft zu flimmern und sich zu verdichten. Ich sah es ganz genau: Dort materialisierte sich jemand.