Als ich aus der Dusche stieg, fand ich vorn bei der Tür einen Stapel Kleidung vor, den mir jemand dorthin gelegt haben musste. Es handelte sich um ein zweifelsfrei von Nighton stammendes, blaues T-Shirt, dessen Ärmel mir weit über die Ellbogen hingen, und eine gelbe Jogginghose mit aufgedruckten Blümchen. Die gehörte zu einhundert Prozent Penny, nur sie trug solch scheußliche Hosen.
Zuerst nahm ich das T-Shirt in die Hände und starrte es an. Dann hob ich den Blick und musterte mich im Spiegel. Kurz zögerte ich noch, nur um daraufhin einem Impuls folgend mein Gesicht in dem Kleidungsstück zu versenken. Umgehend stiegen mir die Partikel jenes Geruchs in mein Riechorgan, an dem ich so hing. Dieses Schnuppern artete recht schnell in ein exzessives Schnüffeln aus, das ich erst stoppte, als mir ein wenig schwarz vor Augen wurde. Eine Grimasse ziehend hielt ich das Shirt auf etwas Abstand, ehe ich rosa wurde und es schnell anzog.
Oh Mann. Ich war so am Arsch.
Nachdem ich mich vollständig angezogen und meine Haare trockengeföhnt hatte, verließ ich das Bad. Meine Laune war inzwischen etwas besser, was der Dusche zu verdanken war. Vor dem Badezimmer stand ich jedoch etwas verloren da, da ich nicht wusste, was ich nun tun sollte. Einerseits wollte ich nach Hause, andererseits aber auch nicht. Langsam beunruhigte es mich, dass ich so häufig auf Dämonen traf. Dabei handelte es sich garantiert nicht um Zufälle. Immerhin war das vorhin schon der dritte unbeseelte Dämon gewesen, der in meiner unmittelbaren Nähe aufgetaucht war. Oder wollten sie in Wahrheit zu Sam? Immerhin hatten die Angriffe erst begonnen, seit er sich mir gezeigt hatte.
»Was geht ab, Jeff?«
Evelyns Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Ich fuhr zusammen und schaute in ihre Richtung. Sie kam gerade aus der Küche, ein Glas mit Minze und einer durchsichtigen Flüssigkeit in der Hand haltend. Auf ihrer Nase trug sie eine riesige Sonnenbrille und auf dem Kopf ein Basecap, unter dem ihre Haare hervorquollen. Ein paar rote Spritzer verunstalteten das übergroße, blaue Football-Trikot der Patriots, das um ihren Oberkörper schlabberte. War Evelyn etwa ein heimlicher Bewunderer von Football?
Sie grinste mich breit an und stichelte, bevor ich sie für meinen neuen Spitznamen zurechtweisen konnte: »Habe schon gehört, was passiert ist. Da fand dich wohl jemand zum Kotzen!«
Ich hingegen fand das gar nicht so lustig.
»Haha, sehr witzig. Wo sind denn alle?«
Evelyn zeigte nach draußen und antwortete salopp: »Samelope sind beim Tümpel, nach Hinweisen suchen. Oder doch lieber Pemuel? Semmy? Ich bin noch unschlüssig.«
Damit hingegen brachte sie mich direkt zum Lachen. »Pemuel ist super. Und Nighton? Ist der auch weg?«
Wieder wies Evelyn nach draußen, an dem Strohhalm ihres Getränks schlürfend.
»Der spielt Metzger.«
Das verstand ich nicht. Als ich Evelyn nur verwirrt ansah, nickte sie mit dem Kopf in Richtung des Ausgangs und riet, es mir selbst anzusehen. Gesagt, getan. Das Band der Jogginghose zubindend lief ich aus dem Haus raus. Sobald ich einen Fuß über die Türschwelle gesetzt hatte, befiel mich wieder dieses befremdliche Gefühl von vor ein paar Tagen. Als würde das Haus mich nicht gehen lassen wollen. Dieser Gedanke ließ mir die Haare zu Berge stehen, doch der Anblick dessen, was sich da auf dem Vorplatz Harenstones abspielte, lenkte mich vorerst ab.
Nighton kniete neben der zusammengesunkenen Leiche des Wasserdämons, der mich eben noch attackiert hatte. Jemand musste ihn eben, als ich geduscht hatte, bis hier hin gebracht haben. Nur warum? Was wollte Nighton herausfinden?
Der steckte mit dem Arm bis zum Anschlag in den Eingeweiden des Monstrums und wühlte darin herum. In der Luft lag ein widerlicher Geruch nach Schwefel und Fäulnis, der mich den Atem anhalten ließ. Die von oben herabbrennende Sonne machte das Ganze nicht gerade erträglicher.
»Was machst du da?«, wollte ich angeekelt wissen und hielt mir die Nase zu. Nighton warf mir einen Blick zu, sagen tat er allerdings nichts. Stattdessen wurde seine Miene immer konzentrierter. Evelyn tauchte neben mir auf und setzte sich rittlings auf einen Stuhl, den sie aus der Küche mitgebracht und verkehrt herum auf die Veranda gestellt hatte.
»Ich liebe dieses fantastischen Duft«, seufzte sie.
»Ja, absolut großartig«, stimmte ich sarkastisch zu.
Mit einem ekelerregenden Schmatzen zog Nighton seinen Arm aus dem Bauchraum des Würgers hervor. Dabei nahm er haufenweise Gedärme, grüne Suppe und schlabbrige Brocken mit. Mir drehte sich der Magen um. Evelyn rief Nighton zu: »Und, Meistermetzger, was gefunden?«
Nighton reagierte nicht sofort. Er erhob er sich, schüttelte seinen Arm etwas, um das Gröbste loszuwerden und stieg über die Tentakel hinweg.
»Nicht wirklich. Er hat noch alle Organe, also hat ihn keiner mit Nekromantie hergezwungen. Ich verstehe das nicht. Er war weder von einem fremden Willen besessen noch anderweitig gesteuert. Das ergibt einfach alles keinen Sinn«, antwortete er nachdenklich auf Evelyns Frage und steuerte auf den Gartenschlauch zu, mit dem er ein kleines Messer, seinen Arm und zum Schluss sein Gesicht abzuspülen begann. Stumm schaute ich ihm dabei zu, ehe ich meinen Blick auf den toten Dämon lenkte. Hatte Nighton all meine bisherigen Angreifer so auseinandergenommen?
»Komisch«, fand auch Evelyn, mehr schien ihr dazu allerdings nicht einzufallen.
Sobald Nighton fertig war, stellte er das Wasser ab und richtete sich auf. Sich das Wasser aus dem Gesicht streifend schlug er an Evelyn gewandt vor: »Warum gehst du nicht Penny und Sam helfen? Die brauchen ziemlich lange.«
Evelyn zog eine Grimasse. »Sag doch einfach, dass du mit Jen allein sein willst.« Kopfschüttelnd und ohne eine Antwort abzuwarten erhob sie sich, drückte mir ihr Glas in die Hand und schoss in übernatürlichem Tempo von der Veranda und außer Sicht.
Etwas verdutzt sah ich ihr hinterher. Nighton tat es mir gleich, doch dann griff er nach einem Handtuch, das neben dem aufgerollten Wasserschlauch lag und meinte: »Das war tatsächlich nicht mein Ziel, falls du das denken solltest.«
Ich zuckte nur mit den Schultern, das Glas in den Fingern drehend. Nighton schwang sich das Handtuch über die Schulter und kam auf mich zu. Kurz vor mir blieb er stehen, mich eingehend musternd.
»Und, wieder alles gut?«, wollte er wissen und legte den Kopf schief. Von dem Spöttischem, Schadenfreudigem, das er vorhin noch an den Tag gelegt hatte, war nicht mehr viel übrig. Stattdessen wirkte er besorgt, als hätte er Angst, es mit seinem Verhalten übertrieben zu haben. Bevor ich antworten konnte, fügte er mit gerunzelter Stirn und die Luft einsaugend hinzu: »Jedenfalls riechst du jetzt deutlich besser.«
»Hmpf«, brummte ich. »Im Gegensatz zu dir, meinst du wohl.«
Damit entlockte ich Nighton ein Lächeln.
»Stimmt«, gab er zu. »Tut mir leid, dass dir das passiert ist. Aber wenigstens hattest du die zwei Knallköpfe dabei, auch wenn sie den Würger deutlich früher hätten bemerken müssen.« Er machte eine sehr ernste Miene, während er die Verandatreppe erklomm.
»Irgendetwas braut sich da zusammen. Das war jetzt der dritte Dämon, der in deiner unmittelbaren Nähe auftaucht und bei dem sich nicht rausfinden lässt, wo er herkam. Das gefällt mir gar nicht. Aber wir kommen schon nach dahinter. Jedenfalls habe ich mir das fest vorgenommen.«
Ich schwieg. Einerseits verstand ich, dass er es herausfinden wollte, andererseits würde das bedeuten, dass er wahrscheinlich öfter in meiner Nähe sein würde. Doch war ich da bereit für? Würde ich das jemals sein? Sollte ich dem Ganzen nicht einfach eine Chance geben? Immerhin schien meine Sicherheit auf dem Spiel zu stehen.
Nighton ließ mir den Vortritt ins Haus. Drinnen verschwand er für ein paar Minuten ins obere Stockwerk und ich hörte es in den Wasserrohren rauschen. Anscheinend nahm er eine Dusche. Ich stellte das Glas ins Waschbecken, setzte mich an den Tresen in der Küche und betrachtete die Messersammlung, die dort ausgelegt war. Es waren dutzende Klingen aller Art, gehüllt in ein braunes Etui. Manche waren lang und schmal, andere breit und kurz. Kein Messer glich dem anderen, doch sie alle wirkten sehr tödlich. Eines tat es mir besonders an: Ein handlanges Messer ohne Griff, dafür mit geteilter Klinge und kleinen Widerhaken. Es hatte etwas Fieses an sich, als sei es für Hinterhalte gemacht.
Für einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, die Waffe anzufassen, was ich kurz darauf auch tat. Das Metall fühlte sich angenehm kühl an. Andächtig wog ich das Messer in den Händen. Ob es schon Leben beendet hatte? Und wenn ja, wie viele?
»Pass auf, dass du dich nicht-«
Ich erschrak und ließ das Messer fallen. Instinktiv griff ich danach, da ich es auffangen wollte. Blöderweise bekam ich die Klinge so zu greifen, dass sie mir tief in den Handballen schnitt. Das tat so weh, dass ich aufjaulte und die Waffe fallenließ, die scheppernd auf dem Tresen landete und davon schlitterte, eine blutige Spur hinterlassend.
»- schneidest«, beendete Nighton aufseufzend seinen Satz. Ich hatte ihn nicht runterkommen hören. Manchmal vergaß ich einfach, wie gut er sich anpirschen konnte.
»Scheiße!«, fluchte ich.
Mein Hand umklammernd und eine schmerzverzerrte Grimasse ziehend rutschte ich vom Hocker und schaute umher, auf der Suche nach etwas, das ich auf den klaffenden Schnitt pressen konnte. Heißes Blut quoll aus ihm hervor, lief an meiner Hand hinab und tropfte auf meine Füße.
Da kam schon Nighton an. Er griff gezielt nach meiner Hand und drückte ein Geschirrhandtuch drauf. Seine Hand war so heiß, dass seine Berührung beinahe schmerzte. Mich so festhaltend schüttelte er mit einer Mischung aus Tadel und sanfter Belustigung den Kopf.
»Tollpatsch«, nannte er mich. Etwas in seiner Stimme bereitete mir Gänsehaut, sodass ich den Blick abwenden musste. Mit einem Mal wurde ich an den Moment im Hyde Park erinnert. Nur war diesmal ein kleiner Teil von mir froh, dass Nighton mich nicht losließ.
»Drück du, ich schaue, ob ich etwas zum Verbinden finde«, forderte er mich auf und ließ mich los. Ich tat, was er gesagt hatte und schaute Nighton dabei zu, wie er aus der Küche verschwand. Innerlich verfluchte ich mich. Warum konnte ich nicht aufpassen?
Meine Hand fest gegen meinen Leib pressend, nahm ich den Dolch mit spitzen Fingern und legte ihn ins Waschbecken. Da kam Nighton zurück und zeigte auf den Hocker.
»Setz dich besser«, schlug er vor und stellte eine Flasche Desinfektionsmittel, eine Mullbinde und eine Packung mit etwas hin, das ich nicht identifizieren konnte. Langsam lief ich auf ihn zu und setzte mich auf den Hocker. Nighton stellte sich sehr dicht vor mich, ergriff mein Handgelenk und zog meinen Arm ein wenig nach oben, bis mein Handrücken auf dem kühlen Stein des Tresens auflag.
»Bleib so.«
Während er die Wunde penibel reinigte und sie mit zwei schmalen, etwa fünf Zentimeter langen Streifen zuklebte, beobachtete ich ihn. Das alles erinnerte mich so sehr an damals, als er den Biss des Wyrm verbunden und ich mich so sehr vor ihm gefürchtet hatte. Jetzt ging er allerdings sanfter mit mir um als damals. Mir wurde zudem bewusst, dass ich es genoss, von ihm angefasst zu werden. So schnell konnten sich Dinge ändern, hm? Noch vor einer Woche hatte ich seine Berührung nicht ertragen und nun bekam ich Gänsehaut dabei.
Nighton entging meine Grübelei nicht. Beim Wickeln der Mullbinde um meine Hand rückversicherte er sich plötzlich scherzhaft: »Du hattest hoffentlich nicht vor, mich mit diesem Templerdolch abzustechen?«
Damit entlockte er mir ein müdes Auflachen.
»Und wenn doch?«, gab ich zurück. Ein Grinsen bahnte sich auf Nightons Zügen an. Eine potthässliche Schleife in die Mullbinde machend entgegnete er: »Dann hätte ich vermutlich nicht den Hauch einer Chance.«
Ich sagte nichts dazu, ich schnaubte nur einmal und senkte den Blick auf meine andere Hand hinab. Aus irgendeinem Grund wünschte ich mir meine frühere Unbeschwertheit zurück, die Fähigkeit, mit ihm zu lachen. Das fehlte mir. Sehr. Doch ich wusste auch, dass ich ihm einfach noch nicht wieder vertraute.
An diesem Punkt entschied ich, das Thema auf die Dämonenangriffe zu lenken. Ich wollte Nighton zwar glauben, dass er nichts mit Selene zu tun hatte, doch das hieß nicht, dass die Zwillinge hier nicht ihre Finger drin hatten.
Also mutmaßte ich gerade heraus, während Nighton die Verpackungen in den Müll unter dem Spülbecken warf: »Vielleicht haben die Zwillinge etwas mit den Dämonenangriffen zu tun.« Über den Verband streichend versuchte ich, mich an die Gestalt heute Morgen bei der Schule zu erinnern. Nighton furchte die Stirn und stemmte die Hände in die Seiten.
»Dorzar und Riakeen? Kann ich mir nicht vorstellen. Was sollten die noch von dir wollen?«
»Sag du's mir«, rutschte es mir heraus. Kurz glaubte ich zu sehen, wie Nighton seinen Kiefer anspannte, doch als ich genauer hinschaute, war das typische Anzeichen für seinen Ärger verschwunden. Nighton gab einfach nur ein Grummeln von sich und griff nach dem Lappen, der auf dem Spülbeckenrand lag. Den befeuchtete er, um damit mein Blut vom Tresen wegzuwischen. Ich nutzte den Moment, um mein Handy zu holen und ihm die Nummer zu zeigen, von der aus mich die Nachrichten erreicht hatten. Nighton hielt in der Wischbewegung inne, nahm mein Handy entgegen, betrachtete das Display kurz und machte ein ratloses Gesicht.
»Die Nummer kenne ich nicht. Aber warte, ich schicke sie mir kurz«, murmelte er, und ich tolerierte es, bevor ich verstand, was das bedeutete. Plötzlich runzelte Nighton die Stirn und schaute mich aus verengten Augen an. Dann setzte er seinen Das-ist-jetzt-nicht-dein-Ernst-Blick auf und beschwerte sich entrüstet: »Nerviger Creep? Etwas Besseres ist dir nicht eingefallen? Erst letzte Woche hast du-« Er bremste sich aus, bevor er uns beide an den Moment in den U-Bahn-Tunneln erinnerte, als ich ihn so wüst beschimpft hatte. Sofort stellte sich eine komische Stille ein, die ich jedoch zügig beendete. Trocken erklärte ich: »Ich fand schon letztes Jahr, dass diese Bezeichnung deine hervorstechendsten Eigenschaften am besten zusammenfasst.«
Nighton wirkte erleichtert darüber, dass ich mich nicht an den Gedanken an letzte Woche aufhing. Er schnaubte also nur als Antwort, kommentierte es aber nicht. Das nahm ich als Anlass, eine Theorie aufzustellen.
»Es könnte an Sam liegen. Der war bei allen Angriffen dabei. Vielleicht wollen die Dämonen ja ihn.« Ich zwirbelte eine lose Haarsträhne zwischen den Fingern.
Nighton legte mein Handy auf dem Tresen ab und schüttelte direkt den Kopf, ehe er überzeugt entgegnete: »Nein, das bezweifle ich. Er ist nicht von Interesse für die Dämonen. Da steckt eindeutig mehr dahinter. Ich hoffe, dass es das vorerst war. Ich habe wirklich überhaupt keinen Kopf gerade, mir untunterbrochen Sorgen um dich zu machen.«
Bitte? Was war denn das für eine blöde Aussage? Ich hatte auch keine Lust, andauernd angegriffen zu werden und dann auf Hilfe angewiesen zu sein!
»Hast du etwa einen vollen Terminkalender?«, zischte ich. Nighton stützte sich mit den Unterarmen auf dem Tresen ab. Ein leichtes Grinsen huschte über sein Gesicht, das dem von draußen in seiner Schelmigkeit recht nah kam.
»Ja, ich bin ziemlich ausgebucht zurzeit.« Er blickte zu mir auf und ich sah das Grinsen breiter werden. Ich grinste nicht, im Gegenteil, ich schaute nur noch finsterer.
Nighton seufzte und versuchte, mich zu beschwichtigen, indem er mir versicherte: »Ich mache nur Spaß.«
Da schien ihm etwas einzufallen, denn er fuhr direkt fort.
»Apropos Sam. Ich weiß nicht, wie die anderen beiden auf die Idee kommen, ihn demnächst ersetzen zu wollen. Penny hat da so was verlauten lassen. Sam wird in der nächsten Zeit weiterhin ein unauffälliges Auge auf dich werfen. Vielleicht stelle ich ihm noch jemanden zur Seite. Nur zur Sicherheit. Allerdings werden das weder Penny noch Evelyn sein.«
Bei seinen Worten zog ich eine Grimasse. Nicht unbedingt wegen seiner geplanten Aufstockung, sondern weil es mir ein unwohles Gefühl bescherte, den Sockendieb weiterhin als meinen Aufpasser zu haben. Eigentlich hatte ich mich mit dem Gedanken, Penny und Evelyn an meiner Seite zu haben, schon angefreundet.
»Warum muss es denn unbedingt Sam sein?«, fragte ich missmutig.
»Weil er aktuell entbehrlich ist. Er ist das schwächste Glied in der Kette und bevor ich ihn auf einer Mission gefährde, weiß ich ihn lieber in deiner Nähe«, erklärte Nighton geduldig.
Ich stöhnte auf. »Sehe ich ja alles ein, aber kann das nicht jemand anders machen? Ich finde es einfach komisch, dass er-« Ich verstummte gerade noch rechtzeitig. Nighton legte lauernd den Kopf schief. Seine grünen Augen blitzten mich wachsam an.
»Dass er?«
Ich lehnte mich nach hinten, verschränkte wieder die Arme und machte ein finsteres Gesicht. Nein, das sollte ich ihm nicht auf die Nase binden. Also wich ich aus: »Ich will ihn da eben nicht. Bei Sam ist es mir unangenehm.«
Nighton wirkte ehrlich irritiert. Er hakte nach: »Bisher war das doch auch kein Problem. Es ist doch nur Sam, ich dachte, ihr wärt befreundet?«
Ja, waren wir auch, aber neuerdings klaute er meine Socken, und wer weiß, was noch folgen würde! Aber das konnte ich Nighton nicht sagen. Hm. Vielleicht würde es helfen, hier vorerst aufzugeben und Sam zu konfrontieren?
»Sind wir, aber - ja, na gut, dann soll er es halt machen.«
Nighton holte tief Luft und schüttelte den Kopf, als würde ich ihn überfordern. »Gut, ich habe ihn eh schon instruiert.«
Dazu sagte ich nichts, ich brummte nur »Hmpf« und schaute zur Seite. Nighton musterte mich für einen Augenblick. Er lachte leise auf, sich die Nasenwurzel reibend und stöhnte: »Ich hätte gerne eine Anleitung für dich und deine Geräusche.«
Bevor ich mir darauf etwas einfallen lassen konnte, schaute Nighton zur Seite, als würde er etwas hören. Ich wollte schon nachfragen, da ging die Haustür auf und in der nächsten Sekunde schlitterte Penny in die Küche. Atemlos schnatterte sie drauf los: »Wir haben was gefunden, schaut mal!«
Sie klatschte etwas auf den Tresen, bei dem Nighton und ich uns fast simultan vorbeugten, um den kleinen Gegenstand zu begutachten.
»Was ist das?«, wunderte ich mich. Bei dem Ding handelte es sich um einen kleinen, schwarzen Kasten, nicht größer als ein Autoschlüssel. Er war gänzlich bedeckt von einer Schicht aus Algen und Schleim, unter der man in regelmäßigen Abständen eine kleine, rote Leuchte blinken sah. Doch das war nicht alles. Dutzende, merkwürdige Metalldrähte hingen aus dem Kasten raus, die mich ein wenig an Spinnenbeine erinnerten. Sie waren dünn, glänzend und manche von ihnen zuckten ein wenig, was ich gruselig fand. Was war das nur für ein Ding?
Alarmiert furchte Nighton die Stirn. »Ich habe nicht den blassesten Schimmer«, antwortete er. In seiner Stimme schwang Besorgnis mit. Er hob den Blick an, schaute zuerst zu mir und dann zu der aufgeregten Penny, hinter der nun auch Sam und Evelyn eintrudelten.
»War das in dem See?«, wollte er von den Dreien wissen, die kollektiv nickten. »Ich habe es gefunden!«, warf Sam sich in die Brust. Keiner interessierte sich für sein nach Lob heischendes Gehabe, am allerwenigsten Nighton, der das Gerät fixierte. Dann atmete er einmal tief ein und befahl in seinem üblichen Kommandoton: »Ihr nehmt dieses Ding und bringt es nach Oberstadt zu Gabriel. Wenn einer was damit anfangen kann, dann er. Und später treffen wir uns bei der Themse und heben das Felouka-Nest von letzter Nacht vollständig aus. Du nicht, du kennst deinen Auftrag.« Der letzte Satz galt Sam, der eine Grimasse zog und den anderen beiden eher schleichend folgte, die bereits losgestürmt waren. Nighton hatte Penny noch beim Sprechen das Gerät zugeworfen.
An mich gewandt verkündete er: »Komm, ich bringe dich nach Hause.« Seine Anspannung war beinahe greifbar. Auch ich fühlte mich nicht gerade wohl. Das Alles konnte auf keinen Fall etwas Gutes bedeuten. Hoffentlich konnte Gabriel etwas mit dem Kasten anfangen und etwas Licht ins Dunkel bringen.
Den Fleck anstarrend, den das Gerät auf dem Tresen hinterlassen hatte, machte ich einen Gegenvorschlag: »Lass mich helfen! Ich kann doch mit zur Themse kommen.«
Meine Worte bewirkten, dass Nighton mich verblüfft musterte.
»Was?« Er runzelte die Stirn. »Du willst mitkommen? Zu einer Dämonenjagd?« Sein Tonfall machte mir klar, dass er das für einen Scherz hielt. Ich beabsichtigte allerdings mitnichten, zu scherzen. Ohne eine Miene zu verziehen nickte ich und behauptete überzeugt: »Wenn ihr alle dabei seid, passiert mir schon nichts.«
Kurz hielt Nighton mit mir Blickkontakt, als wollte er abschätzen, ob ich das wirklich ernst meinte. Erst nach einigen Augenblicken schüttelte er den Kopf.
»Auf gar keinen Fall«, lehnte er entschieden ab.
Nun war ich diejenige, die verdutzt die Stirn runzelte. Wieso war er so dagegen? Vielleicht wäre ich ja eine richtig gute Hilfe! Wenn man mich lassen würde. Glaubte jedenfalls ich. Also zog ich die Du-kannst-mir-hier-gar-nichts-Karte.
»Ich finde nicht, dass du in der Position bist, Yindarin, über mich zu bestimmen«, wandte ich ein und setzte meinen drohendsten Blick auf. Doch Nighton schien ganz und gar nicht aufgeben oder sich von meiner Mimik einschüchtern lassen zu wollen. Er schaute mir zwar noch mehrere Sekunden in die Augen, offenbar nach den passenden Worten und einem angemessenen Ton suchend, doch seine Antwort bestand dann einfach nur aus einem bemüht ruhigen: »Nein.« Dennoch glitzerte bei dieser Antwort etwas in seinen Augen, das ich mir nur als schrumpfende Geduld erklären konnte. Das versetzte mich erst richtig in Diskutierlaune.
»Doch!«
»Also ich verstehe dich nicht. Du gerätst seit ein paar Tagen andauernd in Gefahr und willst dich ihr jetzt offen aussetzen? Und ich soll dabei zusehen? Das kannst du vergessen, Jennifer. Tut mir leid, ich weiß, dass dir das nicht gefällt, und es fällt mir ohnehin schwer, dir zurzeit überhaupt irgendetwas abzuschlagen. Aber das? Das geht nicht.«
Unbeeindruckt von seiner angestrengten Geduld verschränkte ich beide Arme vor dem übergroßen Shirt und murmelte: »Das ist unfair. Du schließt mich aus.« Mit meiner Beschwerde erreichte ich nur, dass mein Gegenüber nun völlig konfus die Stirn runzelte.
»Halt mal-«, begann er mit einer Mischung aus Unglauben und Belustigung in der Stimme, »- verstehe ich das richtig? Weil ich dich, einen Menschen, nicht mit auf eine riskante Dämonenjagd nehmen will, schließe ich dich also aus?« Obwohl das eine rhetorische Frage war, beantwortete ich sie mit einem überzeugtem: »Ja!«
Einige Augenblicke lang betrachtete Nighton mich. Seine Überforderung sprang mich richtig an. Da ich nichts mehr sagte, stöhnte er auf und gestand: »Ich weiß gerade ehrlich gesagt nicht, wie ich mit dir umgehen soll. Ich will dich beschützen, das scheint falsch zu sein, es nicht zu tun aber auch. Ich versuche wirklich dazuzulernen, aber ein großer Teil von mir kommt gerade total an sein Limit. Warum - warum reagierst du so?«
Mit einem genervten Laut warf ich die Arme in die Luft.
»Weil du mich mal wieder bevormundest, was ich schon immer gehasst habe, damals, als ich ein unerfahrener Yindarin war und jetzt, wo ich ein Mensch bin. Der bin ich nur, weil ich dir meinen, Achtung, Anmerkung, MEINEN Yindarin überlassen habe! Also finde ich, dass du kein Recht hast, mir etwas vorzuschreiben.«
Nightons Gesicht bekam einen Ausdruck irgendwo zwischen hilflos und verzweifelt. Er vergrub die Hände in seinen duschfeuchten Haaren.
»Ich versuche nur, an deinen Verstand zu appellieren, an den ich eigentlich sehr fest glauben möchte. Selbst wenn ich dem zustimmen würde, weiß ich genau, dass du nicht auf mich hören würdest, weil du in deinem sturen Köpfchen meinst, es besser zu wissen. Das weißt du genauso gut wie ich.«
Damit, dass er leider Recht hatte, machte er mich noch wütender. Wäre ich ein Yindarin, hätte ich mich niemals davon abhalten lassen, das zu tun, was ich wollte. Aber nun ja. Ich war nun mal ein sterblicher Mensch. Wohl ein Faktor, die mich in Nightons Augen ungeeignet machte.
»Fein. Diesmal gebe ich mich geschlagen«, presste ich hervor, woraufhin Nighton nach Luft schnappte und ungläubig hervorstieß: »Diesmal? Du hast noch öfter vor, damit anzukommen? Oh nein, das kannst du vergessen. Ich nehme dich weder heute noch wann anders mit!« Entsetzt schüttelte er den Kopf. Ich hingegen grollte herausfordernd zurück: »Das werden wir ja noch sehen!«
Wir starrten uns an und uns beiden war klar, dass keiner zurückweichen würde. Nighton war trotzdem der Erste, der das Wort ergriff. In den Flur zeigend bat er mit erneut bemüht ruhiger Stimme: »Bitte, die Zeit drängt. Hol deine Sachen, ich bringe dich jetzt nach Hause.« Dabei schabte er gewaltig an der Grenze zu dem Kommandoton, den er gern bei meinen Freunden anwendete. Doch damit war er ganz falsch bei mir. Die Augen verengend entgegnete ich: »Und wenn nicht?« Aus irgendeinem Grund bekam ich richtig Lust, ihn zu provozieren, was mir mit diesem Satz auch bestens gelang.
Nighton fixierte mein Gesicht. Hinter seinen Augen konnte ich es arbeiten sehen. Ich war mir ziemlich sicher, dass er mir gern eine Menge Dinge gesagt hätte, die er sich gerade verkniff. Immerhin war das Eis unter uns sehr dünn. Er schloss kurz die Augen, holte tief Luft und bat mich, nun sichtlich angestrengt davon, Ruhe bewahren zu wollen: »Ich will mich nicht mit dir streiten, wirklich nicht. Aber wir zwei werden jetzt zu dir nach Hause aufbrechen, und das kann auf zwei Arten passieren: Entweder wir gehen beide zu Fuß oder du verlässt Harenstone über meiner Schulter. Deine Wahl.«
Ich ballte die Hände zu Fäusten und funkelte ihn an. Es kostete mich einiges an Kraft, mich davon nicht beeindrucken zu lassen. Dennoch war mir bewusst, dass er seine Drohung wahrmachen würde. Hatte er schon mal. Also tat ich das, was ich eben schon angekündigt hatte: Ich gab auf.
»Na gut!«, presste ich hervor und stand auf. Diesen Kampf hatte ich vielleicht verloren, aber ich war mir sicher, dass noch einige Schlachten darauf warteten, geschlagen zu werden. Und ich hatte vor, sie zu gewinnen.