Als ich den kreisrunden Turm betrat, verschlug es mir den Atem. Von außen hatte er wie ein gewöhnlicher weißer Turm aus Marmor gewirkt. Innen hingegen war er überraschenderweise vollkommen anders, als ich es erwartet hatte.
Seine Wände bestanden zum Teil aus regenbogenfarbenem Glas, das das Licht des außerhalb herrschenden Sonnenuntergangs in Tausend Farben brach. Es gab es nur einen einzigen Raum und seine Decke war so hoch, dass sie im diffusen Licht kaum noch auszumachen war. Überall huschten funkelnde Lichtkugeln umher, wie winzige Sterne, die das Turmzimmer in warmes Licht tauchten. An allen möglichen Stellen standen, hingen oder lagen ungewöhnliche Gegenstände, die ich bisher höchstens in Filmen gesehen hatte. Ich kann nicht einmal beschreiben, was ich alles sah, weil es so viel war.
Kristallkugeln und Spiegel standen auf kunstvoll geschnitzten Podesten und zeigten nicht nur die Zukunft, sondern auch andere Welten, wie eine felsige Höllenlandschaft oder ein weites, grünes Tal. Entlang der Wände befanden sich reihum einige vollgestopfte Bücherregale mit Wälzern und Pergamentrollen verschiedenster Art. Was hier für ein Wissensschatz liegen musste, konnte ich wohl nur erahnen.
In der Mitte des Raumes befand sich eine gigantische Sternenkarte, deren Konstellationen sich ständig änderten. Sie schien die Bewegungen der Himmelskörper in Echtzeit zu zeigen und war von einem Detailreichtum, die mich in Staunen versetzte. Ich glaubte sogar, die Erde zu sehen - sicher war ich mir aber nicht.
Die Mundwinkel anerkennend hinabziehend und dabei nickend drehte ich mich mehrfach um die eigene Achse. Hier könnte ich mir mein Leben auch vorstellen. Na ja, also bestimmt keine sechshundert Jahre lang, aber so ein, zwei Wochen...
In einer Ecke des Turms, abgeschirmt durch hohe Paravents, befand sich eine bescheiden eingerichtete Ecke. Dort standen ein Bett, ein Schreibtisch und Regale, die mit mystischen Artefakten und uralten Schriftrollen gefüllt waren. Den Seher endeckte ich überdies auch sofort. Er saß in einem Ohrensessel mit hoher Rückenlehne, der vor einem Kamin stand. Offenbar hatte er mich nicht bemerkt, oder er tat, als wäre ich nicht da.
Azmellôn hatte die äußere Erscheinung eines Mannes Mitte Vierzig, trug schwarzes, zu einem Zopf zusammengefasstes Haar und ein schwarz-blaues, robenähnliches Gewand. Er hielt den Kopf auf ein Buch auf seinem Schoß gesenkt und fuhr mit den Finger Zeile für Zeile über die Buchseiten.
Ich spürte Unsicherheit in mir aufsteigen. Sollte ich mich bemerkbar machen?
Zum Glück, oder Unglück, wie man es nimmt, nahm mir der Seher diese Entscheidung ab. Zuerst brach er in einen bemitleidenswerten und alles andere als gesund klingenden Hustenanfall aus, ehe er aufsah, das Gesicht dem Kamin zudrehend.
»Ich kenne deine Schritte nicht«, raunte er. Dann ruckte sein Kopf zu mir herum. Ich hatte schon vorgehabt, mich ihm ein wenig zu nähern, doch beim Anblick seines Gesichts blieb ich abrupt stehen. Ein Gänsehautschauer überzog mich und ich beeilte mich, Nightons Warnung zu folgen und den Seher nicht anzustarren. Dort, wo man normalerweise Augen hat, hatte dieser Mann nämlich nichts außer zwei vernarbten Löchern.
Azmellôn schien mein Stocken bemerkt zu haben, denn sein Mund verzog sich zu einem Grinsen. Mit einem Knall klappte er das Buch zusammen und stand auf. Erstaunlich zielstrebig kam er auf mich zu. Offenbar wusste er genau, wo hier was stand, was ihm das Navigieren im Turm bestimmt erleichterte.
Fast wäre ich zurückgezuckt, als er so auf mich zugeprescht kam. Doch kurz vor mir hielt der große, dünne Mann an und legte den Kopf schief, als würde er lauschen,
»Nein. Ich kenne weder deine Schritte noch deine Aura. Aber du bist eine junge Menschenfrau, dem Kindsein beinahe entstiegen. Ein Mensch ... ein Mensch? Nein, nicht gänzlich, wie mir scheint. Da ist etwas an dir - etwas... Übernatürliches. Wie seltsam! Deine Seele, einst eine leere Hülle, dann von Macht gefüllt, kurz darauf zerrissen, doch nur teilweise. Deine Erscheinung riecht nach - hm, was ist das? Ich rieche Zitrone, Jasmin, Orangenblüten ... und einen Hauch von erdgemachtem Honig.«
Verwirrt hob ich eine Augenbraue an. Azmellôn beschrieb gerade exakt die Zusammensetzung meines Parfüms. Was für eine übermäßig gute Nase musste er haben, um die Inhaltsstoffe meines Dufts so perfekt zu erschnüffeln?
Azmellôn hob das Kinn an und schaute an die Decke.
»Ich spüre Angst in deiner Aura. Verlustängste, Versagensängste, Todesängste - du quillst über, geleitet und kontrolliert durch deine Emotionen. Deinen Kopf scheinst du selten zu benutzen.«
Ich schnaubte auf. Nett! Und leider gar nicht mal so unwahr.
»Aso wenn ich eine psychologische Beurteilung haben wollen würde, wäre ich zu meinem Psychiater gegangen«, kommentierte ich voller Ironie. Meine anfängliche Scheu war längst verflogen.
Azmellôn lachte auf. »Und die spitze Zunge im Gepäck. Jetzt weiß ich, wer du bist. Willkommen, Jennifer. Gut, dass du meinem Aufruf gefolgt bist.« Ich wusste nicht, ob das ein Witz war. Er hatte doch bestimmt schon vorher herausgefunden, wen er vor sich hatte.
Erneut schüttelte es den Seher und er hielt sich an meiner Schulter fest, womit ich nicht gerechnet hatte. Toll fand ich das auch nicht, denn dieser Husten klang echt übel.
»Sind Sie krank?«, fragte ich besorgt. Aber der Seher verneinte nur hustend und erklärte dann außer Atem: »Meine Zeit neigt sich dem Ende zu, das ist alles.« Er ließ mich wieder los und lief zu einem Regal mit verschiedenen Fläschchen, Flakons, Reagenzgläsern und Kolben, in dem er zu suchen begann. Ich beobachtete ihn dabei, mich fragend, was ich eigentlich hier sollte.
»Hören Sie-«, begann ich, »-warum sollte ich herkommen?«
»Eins nach dem anderen. Geduld ist eine Tugend, Jennifer«, murmelte Azmellôn, ganz in seine Suche vertieft. Ich rollte mit den Augen und verschränkte die Arme. Ein Fläschchen in der Hand haltend, drehte Azmellôn sich halb zu mir um und zeigte auf mich.
»Und das ist eine sehr unhöfliche Geste. Ich kann deine Augäpfel in ihren Höhlen schaben hören. Links-rechts-Bewegungen sind kurz, abgehackt, hoch-runter klingt weich, aber eine kreisende Bewegung, wie du sie vollzogen hast, schabt unnatürlich laut.«
Nun war ich doch ein wenig beeindruckt.
Der Seher fuhr schnaufend wieder zu dem Regal herum, bis er das gefunden hatte, wonach er gesucht zu haben schien. Er entkorkte eine kleine Phiole, hustete noch einmal und entleerte den Inhalt in seinen Rachen. Kurz schüttelte er sich wie ein nasser Hund, dann kam er zu mir zurück und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Stirnrunzelnd überlegte er: »Wo waren wir? Ach ja. Erzähl doch mal. Wie erging es dir in deinem Leben?«
Wollte er jetzt Smalltalk betreiben?
»Gut, danke«, antwortete ich knapp, da ich keine Lust hatte, ins Detail zu gehen. Ich wollte endlich erfahren, wieso ich hier war!
»Hm. Eine ausweichende Antwort, ich verstehe. Du scheust tiefergehende Konfrontationen, das kann ich sehen. Ich verstehe Siwes Worte nun etwas besser. Sie sagte, du seist nicht die Einfachste.« Er verschränkte die Arme hinter dem Rücken und fing an, auf- und abzugehen.
»Aber gut, ich verstehe deine jugendliche Ungeduld. Du willst wissen, weshalb du hier bist. Ich sage es dir. Letzte Nacht hatte ich eine sehr berunruhigende Vision. Für gewöhnlich träume ich das, was die Zukunft bringt, und schreibe es ins Buch der Prophezeiungen hinein. Die Vision letzte Nacht jedoch war ... rau. Wild. Unvorhergesehen, kryptisch, und ich befürchte, sie hat mit deinem Leben zu tun.«
Okay, das klang alles andere als gut.
Er hob die Hände und es schien fast, als wolle er nach etwas in der Luft greifen, das nur er sehen konnte. Doch er ließ beide Hände direkt wieder sinken.
»Ich denke, ich habe ihn gesehen«, murmelte Azmellôn mehr zu sich selbst als zu mir. Verwirrt runzelte ich abermals die Stirn und hakte nach: »Wen?«
Die vernarbten Löcher richteten sich auf mich.
»Asmodeus. Deinen leiblichen Vater dämonischen Blutes. Einer der Primals.«
Diese Nachricht ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. So genau konnte ich mir meine Reaktion auf diese Information nicht erklären, immerhin hatte ich noch nie Berührungspunkte mit diesem Ober-Dämon gehabt. Dennoch jagten sich plötzlich dutzende Gedanken durch meinen Kopf. Die ganze Zeit über hatte ich verdrängt, dass ich ja noch einen Vater hatte.
Was tat er gerade? Plante er etwas? Wollte er zu mir? Wollte er mir etwas tun? Suchte er mich? Wie er wohl sein mochte? Und wollte ich das überhaupt herausfinden?
Azmellôn schien mir meine Anspannung anzumerken. Er zog einen Schemel mit Troddeln heran und sagte auf ihn deutend: »Setz dich.«
Ich ließ mich langsam auf den Schemel sinken. Dann schob der Seher seinen eigenen Sessel heran und nahm mir gegenüber Platz.
»Du hast viele Fragen über Asmodeus, das kann ich sehen. Deine Mutter scheint dir nichts über ihn gesagt zu haben, was ich an ihrer Stelle auch nicht getan hätte. Unwissenheit kann ein Segen sein. Auch ich weiß nicht viel mehr über diesen Dämonen, auch wenn ich Siwe damals half, seine unheilige Seele in die Abgründe eines Höllenkreises zu verbannen. Ich kann dir nur so viel sagen: Dieser Dämon ist gefährlich, so wie die Dämonengöttin. Wenn nicht noch schlimmer! Deine Mutter verfiel ihm damals in einer schwachen Sekunde und brachte damit Schande über sich, die sie natürlich tilgte, indem sie dich zeugte - den Yindarin. Nun, den ehemaligen. Jetzt bist du ja leider ein Mensch.«
Ich öffnete den Mund, aber ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte. Eine Sache hatte der Seher mir bereits beantwortet: Dieser Mann schien niemand zu sein, den ich kennenlernen wollte.
»Um was ging es in der Vision?«, fragte ich mit leiser Stimme.
»Ich sah einen dunklen Raum aus grauem Stein. Eine Zeichnung an einer fugenlosen Wand, dann Blitze, und plötzlich war da Blut. Dein Blut. Du warst nicht alleine, bei dir waren noch andere Wesen, und um euch herum herrschte ein dumpfer Chor aus Trommeln. Die Bedeutung kann ich nur erahnen, aber eine Sache weiß ich mit Sicherheit.« Er beugte sich vor und ich sah, wie sich seine Finger in die Armlehnen seines Sessels krallten.
»Du bist in Gefahr, Jennifer Ascot. In sehr, sehr großer Gefahr.«
Mein Puls schoss in die Höhe.
Gefahr.
Schon wieder? Durch Asmodeus? Ja, durch wen sonst. Aber wie, wenn er in der Hölle festsaß? Und wie hatten Selene und ihre Speichellecker da ihre Finger drin? Dorzar hatte doch sowas erwähnt, dass sie mich noch brauchen würden - aber wofür genau?
»Ich-«
Auf einmal schlug Azmellôn mit beiden Fäusten auf die Lehnen seines Sessels und riss den Kopf in den Nacken. In seinen Augenhöhlen fing es an zu glühen, während er mit merkwürdig hallender Stimme rief:
»Verweigere dich der Flucht in die Fremde, wenn du nicht willst, dass man dir Zwierlei nimmt und dich sechsfach vergiftet.
Und der zur Jahrhundertwende lebende Yindarin mit dem grauen Auge wird der dunklen Seite gegenübertreten, das Himmelsreich im Rücken, er wird sich seinem Schicksal stellen und durch den engsten Verwandten der Finsternis fallen.
Erlebe die Auferstehung aus Asche und Mondblumen, gerissen aus dem Jenseits. Erobere deinen Platz zurück, verdrängte das trügerische Gesicht der Jüngeren, das den Älteren blendet.
Die Himmel werden fallen, so lasse das geschriebene Wort auf weißem Hintergrund verlauten und öffne die Tore, auf dass das verschwundene Kind die Dunkelheit in die Knie zwingt.
In einem Sturm aus Staub und Blut geraten Licht und Schatten an den Ursprung, während der Baum fällt und das Monster seine Zähne bleckt.
Befreie die Seherin. Bringe sie in das heilige Land. Beschütze das Herz.«
Ich starrte Azmellôn aus aufgerissenen Augen an. Ich war fassungslos und voller Angst zugleich. Was war das denn gewesen? Eine Prophezeiung? Aber - wieso hatte er dieselben Worte wie damals genannt, die von meinem Tod durch Selene handelten? Ging seine Prophezeiung etwa weiter? War ich immer noch nicht sicher vor ihr?
Mein Mund wurde trocken und der Wunsch, davonzulaufen, keimte in mir.
»Was soll das alles bedeuten? Sterbe ich? Was für eine sechsfache Vergiftung? Und was meinen Sie mit Auferstehung? Werde ich wieder zum Yindarin? Ist sowas möglich? Und - Seherin? Gibt es noch eine?«
Azmellôn antwortete nicht. Er sackte in sich zusammen und stöhnte leise, ehe er ausatmete, den Kopf anhob und aufstand.
»Geh nun, Jennifer, ich muss das niederschreiben, bevor diese Zeilen aus meinem Kopf verschwinden. Das Buch verlangt es. Ja, jetzt«, murmelte er.
»Aber-«
»Nein! Die Niederschrift ist so wichtig, die Zukunft wird dir die erhofften Antworten bringen. Halte dich fern von kaltem Beton.«
Verwirrt erhob ich mich und brachte einigen Abstand zwischen mich und den Seher, nickend, was der natürlich nicht sehen konnte. Mit wackelnder Stimme erwiderte ich: »Ich muss sowiesio gehen. Danke, dass Sie mir das mit Asmodeus gesagt haben.«
Das war mir hier zu unheimlich. Und ich musste unbedingt mit Nighton sprechen.
»Oh, warte noch einen Moment«, bat Azmellôn, ging zu einem der Regale und tastete sich vor, bis er anscheinend das gefunden hatte, wonach er gesucht hatte. Er kam zu mir zurück und reichte mir ein leeres Blatt Papier. Ich musterte es zweifelnd.
»Ein Blatt?«
»Die richtige Person muss es an der richtigen Stelle anwenden, um den Durchgang öffnen zu können. Die Seherin wird hiermit Erlösung finden. Sie wird unsere Rettung unterstützen, wenn die Himmel fallen. Verstecke das Papier. Um es zu offenbaren, bedarf es blaues Licht aus Unterstadt und Flüssigkeit voll von Schmerz«, erklärte der Seher in einem Ton, als würde er über das Wetter von morgen sprechen, drehte sich um und ging zurück zu seinem Podest, auf dem ein angekettetes Buch lag. Dieses schlug er auf. Von da an war ich Luft.
Ich stopfte mir das Papier in die Tasche und rannte aus dem Turm. In meinem Kopf flog alles umher.
Nighton stand gedankenverloren auf der Brücke und schaute auf, als ich aus dem Turm geplatzt kam.
»Na, das ging aber schnell«, bemerkte er, sobald ich die Tür hinter mir zugeschlagen hatte. Sein Lächeln verrutschte, als er erkannte, wie blass ich war.
»Was ist? Was hat er gesagt?«, wollte er sofort wissen und kam auf mich zu. Ich wusste jedoch gar nicht, wo ich anfangen sollte. Mir schwirrte der Kopf, was durch die schmerzhaft vertraute Umgebung hier nicht besser wurde.
»Ich will hier weg«, murmelte ich, mir die Stirn reibend, und Nighton verstand sofort. Gemeinsam begaben wir uns auf den Weg zurück ins Schloss, wo Nighton mich unweit des Thronsaals zu einer Sitznische führte.
Besorgt musterte er mich.
»Also, was hat er denn nun gesagt?«, drängte er, sobald er sich mir gegenüber niedergelassen hatte.
Ich versuchte mich daran zu erinnern, was der Seher mir alles auf den Weg mitgegeben hatte und erzählte ihm alles.
Nightons Gesichtsausdruck versteinerte sich, als ich ihm das von der Vision mit dem Stein und dem Blut schilderte. Als ich geendet hatte, starrte er nur verbissen auf einen Punkt neben meinem Kopf.
»Heilige Scheiße«, murmelte er dann mit tonloser Stimme. »Ich habe ja alles erwartet, aber nicht so was. Asmodeus? Der hat uns ja gerade noch gefehlt.«
»Hast du ihn mal gesehen?«, fragte ich eindringlich, doch Nighton schüttelte nur den Kopf.
»Nein. Aber gehört habe ich von ihm. Und von dem Tag, an dem Siwe ihn zusammen mit Nedeya und Azmellôn in die Hölle geschickt hat. Aber alles in allem klingt es ganz danach, als würde jemand versuchen, ihn zu erwecken.«
»Selene?«, fragte ich angstvoll und musste an Dorzars Worte denken. Daran, dass sie noch eine Verwendung für mich hatte. Etwa diese?
Nighton nickte düster. »Von früher weiß ich noch, dass Selene den Primals absolut hörig ist. Sie scheinen etwas zu planen, und sie muss ihnen helfen. Aber wenn Selene ihn wirklich erwecken will, dann werden sie dich dazu brauchen.«
Ich stöhnte. »Klar, natürlich mich. Passt ja zu dem, was Dorzar sagte. Bestimmt hat er deswegen nach diesem Öl gesucht.«
»Ja, das kann sehr gut sein, und außerdem-«
Nighton erstarrte mit offenem Mund. Ich konnte sehen, wie es in seinem Hirn ratterte, und wie er offensichtlich eins und eins zusammenzählte. Dann sprang er plötzlich auf und griff sich an den Kopf.
»Natürlich! Wie konnte ich nur so blöd sein!«
Fragend schaute ich ihm zu, wie er sich das Haar raufte. Ich verstand noch weniger als Bahnhof. Nighton setzte sich wieder hin und schaute mir aufgeregt ins Gesicht.
»Die Wand unten im Keller des Hauses - du weißt schon, die da so gar nicht reinpasst - Blut von meinem Blut! Azmellôn hat doch eine Wand gesehen, sagtest du! Ich wette, dass das Portal zu der Höllendimension, in der Asmodeus sich befindet, hinter dieser Wand steckt! Selene muss vorhaben, mit deinem Blut einen Zugang zu öffnen! Verstehst du? Blut von meinem Blut! Du bist sein Kind, du trägst sein Blut in dir, das wird er brauchen, um wieder aufzuerstehen. Genauso wie man Nathral-Öl braucht, um den Boden zu entweihen - es passt alles zusammen!«
Langsam begriff auch ich. Das war übel...
»Ja aber - das heißt ja dann-«, begann ich, doch Nighton fiel mir ins Wort.
»Das heißt, dass du keinen Fuß mehr in dieses Haus setzt, bis wir dieses Portal endgültig geschlossen haben!«, knurrte Nighton wütend und schlug sich mit der Faust in die Handfläche. »Kein Wunder, dass keiner hinter das Geheimnis dieser verfluchten Wand gestiegen ist - inaktive Portale kann man nicht erspüren. Und jetzt wundert es mich auch nicht mehr, wie Harenstone auf dich reagiert hat - das Portal hat nach dir gerufen. Nach deinem Blut.«
»Aber wieso sollte Siwe mir ein Haus hinterlassen, in dem sich das Portal zu meinem Vater befindet, für das ich auch noch der Schlüssel sein soll?« Ich stützte den Kopf in beide Hände. Das war mir einfach alles zu hoch.
Nighton öffnete den Mund mehrmals, aber dafür schien auch ihm keine Erklärung einzufallen.
»Ich weiß es nicht«, gab er zu und schaute auf seine Hände. »Das sind gute Fragen, auf die ich keine Antwort habe. Vielleicht irre ich mich auch und in der Wand ist gar kein Höllenportal. Aber die Puzzlestücke passen einfach zu perfekt zusammen. Hör zu.«
Er beugte sich vor. Sein Gesicht befand sich nun so nah vor meinem, dass ich fast alle Schlieren seiner Augen darin konnte. Ernst sagte er: »Es ist extrem wichtig, dass du diesmal tust, was ich dir sage. Selene darf dich auf keinen Fall in die Hände bekommen, Asmodeus darf nicht erweckt werden. Du ziehst wieder bei deiner Familie ein. Du erzählst ihr nicht, wieso du plötzlich wieder bei ihnen wohnst. Penny, Evelyn und Sam werden dich begleiten und in deiner Nähe bleiben, genau wie Niv und Melvyn. Ich werde derweil mit den Erzengeln versuchen, die Wand zu zerstören.« Sein Gesichtsausdruck verdüsterte sich. »Parallel allerdings muss ich einer wichtigen Sache nachgehen, die Isara mir eben aufgetragen hat. Das kann ich leider nicht aufschieben, weil es da um ein Yagransin-Depot geht. Sobald das im Umlauf ist, muss ich mich mit meiner Unverträglichkeit warm anziehen.«
Ich runzelte die Stirn.
»Heißt das, du kommst nicht mit nach London?«
Nighton lächelte schmerzlich und entegnete: »Sobald ich mich um alles gekümmert habe, komme ich nach. Und dann überlegen wir uns, wie es weitergeht. Wir kriegen das schon alles irgendwie hin, Jennifer. Immerhin haben wir jetzt herausgefunden, was mit dieser Wand ist - und damit sind wir schon mal einen Schritt weiter.«