Die Sonne stand schon recht hoch, als wir die Auffahrt zu meinem Haus hinaufliefen. Auch hier hatte es in der Nacht geregnet. Das Wasser hatte Rinnen in den Kies gewaschen.
Auf dem Weg kam uns Gabriel entgegen. Aus einem sehr beunruhigenden Grund haftete frisches Blut auf seiner Rüstung. Er tauschte einige leise Worte mit Nighton und wollte dann an mir vorbeilaufen. Ich startete den Versuch, den Erzengel aufzuhalten, doch er hatte nur ein knappes Nicken für mich übrig und verschwand einfach so, indem er in die Luft sprang und davonschoss. Ziemlich sprachlos blieb ich stehen und schaute dem davonfliegenden Gabriel hinterher. Was war das denn gewesen? Irrte ich oder mied Gabriel mich? Doch ich bekam keine Zeit, intensiver darüber nachzudenken, denn da scholl ein gequälter Schrei aus dem Haus, der mich herumfahren ließ.
»Was war das?«, stieß ich entsetzt hervor. Das hatte nach Sam geklungen! Nighton presste die Kiefer aufeinander, blieb aber stumm. Mit zwei Schritten hatte ich ihn eingeholt, stürmte an ihm vorbei, die Veranda hoch, durch die Haustür und in den Flur. Dort wäre ich beinahe gestolpert. Hier lag einiges herum, von Schuhen über Waffen bis hin zu Jacken und blutigen Bandagen. Ich musste auch gar nicht suchen, denn da ertönte derselbe Schrei, diesmal ganz nah. Er kam aus dem Wohnzimmer. Ich stieß die Doppeltür zu meiner Rechten auf und platzte in den Raum hinein. Sofort stach mir Eisengeruch in die Nase.
Auf dem einen Sofa, gebettet auf Decken, lag Sam. Er wälzte sich mit schmerzverzerrter Grimasse hin und her, während Penny und auch Evelyn, die Nighton eben vorgeschickt hatte, mit ihm rangen, um ihn unten zu halten. Schweißperlen überdeckten Sams entblößten Oberkörper, auf dem fünf tiefe, parallele Schnittwunden prangten. Sie zogen sich von seiner rechten Gesichtshälfte diagonal runter zu seiner linken Hüfte. Bei dem Anblick schlug ich die Hände vor den Mund und musste die Tränen niederringen, die mir in die Augen stiegen.
»Was ist passiert?«, rief ich. Da schob Nighton mich zur Seite und eilte Penny und Evelyn zur Hilfe. Deutlich müheloser als die anderen beiden beförderte er Sam runter auf die Decken.
»Liegenbleiben, Samuel, es ist gleich vorbei«, beschwor er Sam mit ruhiger Stimme, dessen Unterkiefer umfassend und nach unten drückend, sodass sich Sams Mund öffnete. Dann nickte er Penny einmal zu, die offensichtlich viel geweint hatte, denn ihre Augen waren völlig verquollen. Mit zitternden Fingern langte sie nach einer Phiole vom Couchtisch und begann, deren Inhalt Sam einzuflößen. Der verschluckte sich mehrfach, doch nach einigen Sekunden erschlaffte sein Widerstand. Er entspannte sich und ich konnte mitansehen, wie sich seine Augen nach innen verdrehten. Kurz bekam ich die schreckliche Angst, er könnte tot sein, doch da fing sein Brustkorb an, sich in schnellen aber regelmäßigen Abständen zu heben und zu senken. Evelyn atmete durch, Sam loslassend. Penny hingegen hob den Kopf und starrte mich an. In ihren Augen begannen sich erneut Tränen zu bilden. Voller Bitternis stieß sie hervor: »Das ist deine Schuld!«
Ich starrte sie an. Mein Hirn hatte ihre Worte gehört, aber nicht verstanden. Meine Schuld? Warum sagte sie so etwas?
»Was? Meine? Aber ich - ich habe doch gar nichts-«
Nighton unterbrach mich und wies Penny direkt zurecht: »Es ist nicht ihre Schuld, hör auf, ihr ein schlechtes Gewissen zu machen.«
Penny schnappte nach Luft. Inzwischen liefen ihr die Tränen sturzbachartig über die Wangen. Ohne Vorwarnung griff sie nach unten und schleuderte mir erst ein T-Shirt, gefolgt von zwei dünnen Sweat-Shirts und einer Leggings entgegen. Das alles gehörte mir! Wo hatte sie das her?
»Doch, ist es! Deine Zuneigung ist Sam so wichtig, Jennifer, dass er gestern Abend wie ein Besessener losgerannt ist, um herauszufinden, wer deine bescheuerten Socken geklaut hat! Da hast du deinen Beweis, dass er es nicht war! Das hat Sam im Park gefunden, irgendwer hat versucht, deinen Geruch dort zu verteilen. Er wollte dir zeigen, dass er nichts mit diesem Schwachsinn zu tun hatte, und das hat ihn gestern Abend in die Arme eines Baphomet getrieben, einem Ziegendämon, der gerade auf dem Weg zu dir war! Auch er hatte dieses verfluchte Gerät in seinem Fleisch stecken.« Ihr Kopf wirbelte zu Nighton herum, während sie auf mich zeigte. »Sie zieht Unglück an wie ein Scheißhaufen die Fliegen, natürlich ist das alles ihre Schuld, wessen denn sonst?!«
»Schluss damit!«, warnte Nighton Penny wütend, doch sein Einschreiten kam zu spät. Pennys Worte hatten ihren Mund verlassen wie Bomben einen Flugzeugträger, und jede einzelne war präzise eingeschlagen. Nie hätte ich erwartet, aus ihren Mund so harte Worte zu hören. Worte, die leider Wahrheitsgehalt besaßen.
Ich wich zurück, den Kopf schüttelnd und mir die Arme um den Oberkörper schlingend, um den ungeheuren Druck in Zaum zu halten, der sich meiner bemächtigte.
Evelyn runzelte im Hintergrund die Stirn, auf Sam hinabsehend. Plötzlich mischte sie sich tonlos ein: »Ihr irrt euch alle. Es ist meine Schuld.«
Pennys zornerfüllter und zugleich verständnisloser Blick richtete sich auf Evelyn. Die fuhr fort, Sam nicht aus den Augen lassend.
»Hätte ich gewusst, was ich damit lostrete, hätte ich dir, Jen, nie davon erzählt, dass ich die blöde Socke gefunden habe. Penny, sie lag nun mal da, Sam war - ich meine, ist ihr Wächter, es war eine lose Vermutung, dass er auf sie stehen könnte, was ich lustig fand. Wie hätte ich darauf kommen sollen, dass jemand sie entwendet hat, um Geruchsspuren zu legen?«
Nighton schaute zu mir und setzte einen ungläubigen Gesichtsausdruck auf. »Warte, das war der Grund, wieso du Sam nicht mehr in deiner Nähe haben wolltest? Eine Socke?«
Ich stöhnte und rief: »Es war nicht nur eine blöde Socke, ich hatte Angst, dass da mehr sein könnte, und das wollte ich nicht, weil er - du - Penny, ich weiß ja, dass du seit langem auf Sam-« Ich verstummte. Die Wut in Pennys Augen wuchs. Scheinbar war das ihr großes Geheimnis gewesen. Nur hatte längst jeder davon gewusst. Also alle bis auf Nighton. Der bewies mal wieder Talent für schlechtes Timing, furchte die Stirn, schaute auf Sam hinab und dann zu Penny, ehe er auf Sam wies und mit genauso ungläubiger Stimme hinterfragte: »Halt, du und Lockenkopf? Seit langem? Ehrlich jetzt?«
Da fuhr Penny aus der Haut. Ihre Tattoos flackerten durch und sie verwandelte sich zu Anteilen in ihren Engel, während sie wütend schrie: »Ach, halt dein Maul, Nighton, du hast es ein ganzes Jahr nicht hinbekommen, was mit Jennifer anzufangen, zeig jetzt ja nicht auf andere!«
Stille kehrte ein.
Nighton verengte die Augen, fixierte Penny und öffnete leicht den Mund, während Penny schweratmend zurückstarrte. Dennoch konnte ich ihr ansehen, dass sie ihren Ausbruch bereute. Doch nun war es raus.
Evelyn beendete die Situation, indem sie sich vernehmlich räusperte.
»Habt ihr es langsam? Wir sollten mit dem Streiten aufhören und uns lieber um Sam kümmern! Er hat bewiesen, dass er es nicht war. Einigen wir uns darauf, dass wir uns alle nicht richtig verhalten und aus einer kleinen Socke ein riesiges Drama gemacht haben. Ich-«, sie wies auf sich, »- kann meine verdammte Klappe nicht halten, Penny, du bist eine gemeine Ziege, Jen, du hast einen unfassbaren Hang dazu, alles zu übertreiben, Nighton, von dir fange ich besser gar nicht an und Sam hat jetzt ganz andere Probleme. Er braucht Heilung. Er braucht Gabriel.«
Penny schniefte, eine unangenehm berührte Miene aufsetzend und zugleich jeden Blick in meine Richtung meidend. Ich hatte die letzten Minuten einfach nur dagestanden und dem Streit wie gelähmt gelauscht. Pennys Worte spukten immer noch durch meinen Kopf.
Nighton nickte langsam und stimmte Evelyn zu, ehe er sich erhob und seine Hände an seiner Hose abwischte.
»Kaum zu glauben, dass ich das sage, aber du hast Recht. Gabriel ist schon auf dem Weg. Er holt Michael dazu.«
Er lenkte seinen Blick zu Penny, die damit anfing, Sam heilen zu wollen. Einen Moment lang beobachtete er ihre verbissenen Bemühungen, dann schlug er mit unerwarteter Sanftheit vor: »Lass gut sein, Penny. Du brauchst Ruhe, geh schlafen. Es war eine lange Nacht.«
Aber damit war Penny alles andere als einverstanden. Heftig den Kopf schüttelnd stieß sie hervor: »Nein, ich lasse ihn nicht allein! Ich muss versuchen, ihn zu heilen, ihn stabil zu halten, bis Gabriel kommt. Du hast gesehen, wie viel Blut er verloren hat!«
»Aber dir fehlt die Kraft, du erlernst die Heilung doch gerade erst. Geh, lass mich das machen.«
Penny sah mit bebender Lippe zu Nighton auf und wisperte: »Aber du und Sekeera-« Ihre Stimme brach ab. Nighton nickte mit unberührter Miene und erwiderte: »Ich weiß. Aber ich kann hierbleiben, bis Gabriel kommt. Du kannst hier gerade nichts ausrichten. Mach schon, ins Bett.« Er ruckte mit dem Kinn in Richtung des Flurs. Penny tauschte einen Blick mit Evelyn, die ihr zunickte. Also ließ sie die Schultern sacken, ehe sie langsam die Hände von Sams Brustkorb nahm. Plötzlich wirkte sie furchtbar kraftlos. Sie erhob sich und tapste um das Sofa herum. Neben mir blieb sie stehen. Sie hob den Kopf, blickte mich an und ich konnte erneut Tränen in ihren Augen keimen sehen.
»Entschuldige, es war nicht so gemeint. Ich habe nur so Angst um Sam«, flüsterte sie. Ich schluckte krampfartig und nahm Penny in den Arm, völlig ungeachtet ihrer harten Worte, und drückte sie an mich.
»Es muss dir nicht leid tun«, presste ich hervor, den Blick erst auf Sam und dann auf Nighton richtend, der sich in diesem Moment auf Pennys Platz setzte. »Ich hätte genauso reagiert wie du.«
Penny löste sich von mir, rang sich ein gequältes Lächeln ab, drückte mir die Schultern und verschwand, jedoch nicht ohne einen letzten Blick auf Sam zu werfen. Nighton hob indes den Blick zu Evelyn an, die immer noch neben Sam saß und in Gedanken versunken schien.
»Du auch«, forderte er sie auf. Evelyn verharrte kurz, dann stand sie auf, allerdings ohne Protest. Auch sie lief nicht an mir vorbei, ohne mich kurz zu drücken.
Kurz darauf waren Nighton und ich mit Sam allein. Ich wusste überhaupt nicht, wohin mit mir. Mein Hirn war restlos überfordert, und zwar von allem, was in den letzten zwölf Stunden vorgefallen war.
Langsam setzte ich mich in Bewegung, auf das Sofa zuhaltend. Dort sank ich auf die Stelle, an der eben noch Evelyn gesessen hatte, und nahm Sams Hand. Schuldgefühle brandeten in mir auf. Wie hatte es nur so weit kommen können? Und das alles wegen einer Socke?
Nighton deutete mein Schweigen richtig. Sanft sagte er: »Das war nicht deine Schuld. Er hat entschieden, seinen Posten zu verlassen, weil er dachte, sich dir beweisen zu müssen.«
Mir auf die Lippe beißend schüttelte ich den Kopf. In meinen Augen begann es wieder zu brennen.
»Ich bin furchtbar, Penny hat Recht. Meine größte Sorge war, Sam könnte ein Fußfetischist sein. Weißt du, wie albern mir das jetzt vorkommt? Hätte ich einfach die Schnauze gehalten und ihn am Donnerstag nicht drauf angesprochen, wäre er nie aufgebrochen und auch dem Dämon nicht in die Arme gelaufen.«
Nighton schnaubte leise. »Du bist nicht furchtbar, du hast dich nur geirrt und diesen Irrtum leider an Sam herangetragen. Ich verbringe zwar nicht viel Zeit mit Sam, aber ich habe eine ganz gute Menschenkenntnis. Er ist eine ehrliche Haut, er ist nicht der Typ, der sich durch die Wäsche anderer Leute wühlt. Dafür respektiert er dich viel zu sehr. Ich schätze, er wird sich in seiner Ehre gekränkt gefühlt haben. Allerdings hat er mit seiner Hals-über-Kopf-Aktion unbeabsichtigt ein wichtiges Detail über die Dämonenangriffe zu Tage befördert. Es hatte also auch was Gutes.« Ich schaute auf, die Tränen wegblinzelnd.
»Ach ja? Was denn?«
»Dass jemand die Dämonen mit deinem Geruch ködert. Oder abrichtet, was auch immer. Selene und ihre Schergen fallen aus dieser Gleichung raus. Die können die Unbeseelten ohne Weiteres kontrollieren. Dafür brauchen sie keine Kleidung von dir. Das grenzt den Kreis nur leider nicht ein, im Gegenteil. Und beruhigend ist es auch nicht gerade, denn es bedeutet, dass jemand dort draußen im Stande ist, mächtige unbeseelte Dämonen auf dich loszulassen. Jemand, der keine brauchbaren Spuren hinterlässt.«
»Jemand mit Zugriff auf technische Spielereien, wie die, die in den Dämonen stecken«, schloss ich mich an. Nighton nickte.
»Genau. Meine Vermutung ist, dass diese kleinen Geräte entweder Tracker sind oder ihren Wirt kontrollieren sollen. Beide Optionen gefallen mir gar nicht. Wer weiß, was noch auf uns zukommt! Deswegen ist es gut, dass du jetzt hier bist. Harenstone wird von uns allen Tag und Nacht bewacht.« Er schickte mir ein sanftes, wenn auch berunruhigtes Lächeln. Sein Lächeln wurde in der nächsten Sekunde allerdings zu einem bedrohlichen Gesichtsausdruck. Ihm schien etwas eingefallen zu sein. Was das war, sollte ich gleich erfahren, denn da knurrte Nighton schon: »Hätte Melvyn sich nicht aus Frust über meinen Befehl verzogen, wären du und deine Familie heute Nacht sicher gewesen. Meine Anweisungen waren absolut klar und der Mistkerl hat sich einfach über sie hinweggesetzt. Wenn ich den in die Finger kriege-«
Da hörte ich die Haustür auf- und zugehen. Nighton verstummte, das Kinn anhebend. In der nächsten Sekunde kam Gabriel rein, allerdings ohne Michael, dafür aber mit einer Arzttasche unter dem Arm. Ich erhob mich.
»Entschuldigt, ich musste erst einiges zusammensuchen. Und Michael ist nicht abkömmlich, er begleitet die Oberste. Meine Kraft muss also ausreichen.« Er entledigte sich seines Schwertes, das er achtlos zu Boden fallenließ. Als nächstes schlüpfte er aus dem Brustpanzer, darauf folgten die Armschienen.
»Was macht der Patient?«
Nighton erklärte, Sam musternd: »Wir konnten ihm einiges deiner Tinktur zuführen. Aber es steht schlecht um ihn.«
Gabriel schnaubte auf und schüttelte den Kopf, seine Tasche öffnend und ein Stethoskop sowie eine kleine Extratasche voller Phiolen und ein paar eingepackte Spritzen herausbefördernd.
»Dummer Junge. Er hat noch viel zu lernen.« Sein Blick huschte kurz zu mir, dann bat der Erzengel: »Lasst mich mit Samuel allein. Ich muss mich konzentrieren.«
Nighton nickte, umrundete das Sofa, kam auf mich zu und schulterte meine Tasche, die er vorhin neben mir fallengelassen hatte, und ging voran in den Flur. Ich folgte ihm, einen letzten Blick auf Gabriel und Sam werfend. Dann wurden beide von der Wand des Flurs abgelöst.
Im ersten Geschoss steuerte Nighton auf sein Zimmer zu. Er ließ mir den Vortritt, schloss die Tür hinter sich, stellte meine Tasche neben dem Bett ab und entledigte sich seiner blutverkrusteten Jacke. Dabei zischte er vor Schmerz, als der Stoff über die Schnitte an seinen Unterarm schabte.
Ich blieb unsicher inmitten des Raums stehen und rieb mir über die Arme.
Nighton bemerkte mein Zögern, äußerte sich aber nicht dazu. Stattdessen schaute er über die Schulter zu mir und verkündete: »Ich gehe duschen.« Ohne auf eine Antwort zu warten, lief er ins Bad und schloss die Tür. Kurz darauf hörte ich das Wasser rauschen.
Einen Moment lang verharrte ich an Ort und Stelle, dann näherte ich mich dem Bett und ließ mich tief aufseufzend drauffallen. Mir war alles zu viel.
Durch das Rauschen des Wassers dämmerte ich weg. Immerhin hatte ich selbst massiven Schlafmangel und mein Hirn war so überreizt, dass es die Möglichkeit zu schlafen freudig begrüßte. Allerdings wurde ich aus meinem Dämmerzustand gerissen, als auf einmal die Badezimmertür aufging. Sofort kämpfte ich mich in eine aufrechte Position.
Nighton kam aus dem Bad, oberkörperfrei und mit einer blauen Jogginghose bekleidet. Ich wurde rosa und musste den Blick abwenden, was mir nach all den Geschehnissen der letzten Stunden bescheuert vorkam. Wieso reagierte mein Körper nun so?
Ohne auf meine Reaktion einzugehen oder sich mal wenigstens ein Shirt anzuziehen, lief Nighton an mir vorbei. Dabei schlug mir der betörende Geruch seines Duschgels wie eine Faust ins Gesicht. Er steuerte die Couch an, die er umrundete, nur um sich auf sie fallen zu lassen. Da er viel zu groß für den kleinen Zweisitzer war, ragten seine Beine weit über die Armlehne.
Verwirrt stand ich auf und lief auf Nighton zu. Bei der Couch angekommen setzte ich mich auf ihre Lehne. Nighton lag auf dem Rücken, einen Arm über dem Gesicht.
Ich wartete einige Sekunden, bis ich wieder gefahrlos atmen konnte, dann erkundigte ich mich vorsichtig: »Warum schläfst du nicht in dem Bett? Das sieht nicht gerade bequem aus.«
Nighton nahm den Arm von seinem Gesicht. Ich musste mich zwingen, nicht auf seine Brustmuskulatur zu glotzen. Ich erwischte mich nämlich dabei, wie ich mir vorstellte, dort meinen Kopf abzulegen.
Gottverdammt!
Die Augen geschlossen haltend entgegnete Nighton halblaut: »Ist es auch nicht. Aber du musst auch noch irgendwo schlafen, oder? Mich neben dich zu legen wäre zwar angenehmer, aber dafür ist es noch zu früh. Du stimmst mir da sicher zu.«
Als ich nicht reagierte, öffnete er ein Auge und blinzelte zu mir hoch. Da rang ich mir ein »O-Okay« ab und erhob mich, irritiert die Stirn in Falten ziehend, sobald ich mich weggedreht hatte. Kurz stand ich so im Raum herum.
Das war überraschend rücksichtsvoll von ihm! Damit hatte ich nicht gerechnet. Scheinbar war er auf dem besten Weg, sich zu ändern. Ich drehte mich wieder um, um noch etwas dazu zu sagen, da erkannte ich, dass er schon eingeschlafen war.
Hm. Seltsam. Ich konnte mich gar nicht erinnern, Nighton je so friedlich gesehen zu haben. Einem Impuls folgend streckte ich eine Hand nach ihm aus, doch mitten in der Bewegung hielt ich inne. Dann zog ich meine Hand wieder zurück und schüttelte mich kurz, ehe ich zu dem Bett lief. Etwas in mir brachte mich dazu, lieber wieder Abstand zwischen ihn und mich zu bringen. Mir über die Bisswunde des Dämons reibend legte ich mich auf die Matratze, an die Zimmerdecke starrend.
Langsam aber sicher griff die Müdigkeit nach mir, bis sie mich schlussendlich übermannte.