Seit Stunden kämpften wir uns schon wieder den Berg hinauf, und ich schätzte, dass es längst Mittag sein musste. Die Stufen waren immer schmaler geworden, der Wind bissiger und die Luft noch kälter.
Irgendwann hatte ich aufgehört, die Stufen zu zählen. Einmal war ich bis sechshundertzwölf gekommen, doch dann hatte ich mich verzählt und von vorne angefangen. Das monotone Geräusch meiner Schritte auf dem grob behauenen Stein lullte mich ein, und die Erschöpfung der kurzen Nacht schien sich nur noch tiefer in mir festzukrallen.
Vor meinen Augen begannen die Stufen zu verschwimmen – offenbar war es tatsächlich möglich, halb schlafend einen Berg zu erklimmen.
Dann war da plötzlich Dunkelheit, ein Traum. Nighton, der mich mit verschränkten Armen ansah und völlig trocken meinte, ich wäre nicht seine Freundin, sondern ein Huhn, das in die Bratpfanne gehörte. Ich blinzelte, schreckte hoch – und fand mich ausgestreckt auf den Felsstufen wieder.
»Alles in Ordnung?« Zwei Paar Hände zogen mich auf die Füße. Gabriel und Jason hielten mich jeweils an einem Arm fest, und ich brauchte einen Moment, um mich zu sammeln. Vor uns waren die anderen Erzengel stehengeblieben und schauten in meine Richtung.
Michael kam ein paar Stufen herab und hielt vor mir an. »Kannst du weiterlaufen?« Sein besorgter Blick lag auf mir, und ich rückte meine Kleidung zurecht, versuchte, entschlossen zu wirken. Aber innerlich hätte ich mich am liebsten einfach wieder hingelegt. »Mir geht’s gut«, versicherte ich krächzend und zwang mich zu einem Lächeln. »Ich bin nur müde.«
Michael nickte, wenn auch nicht ganz überzeugt, und hob dann die Stimme, um gegen den heulenden Wind anzukommen. »Wir sind fast am ersten Meilenstein. Es ist nicht mehr weit.«
Tatsächlich war Michaels Ankündigung nicht übertrieben, denn keine fünf Minuten später erreichten wir eine kleine Plattform neben der Treppe. Darauf lag ein großer, abgenutzter Stein mit einer merkwürdigen, länglichen Vertiefung in der Mitte, fast wie eine Führungsschiene. Die Erzengel versammelten sich um den Stein, und ich konnte nicht verhindern, dass ich fröstelte.
»Nun denn«, raunte Michael und seine Augen glommen wie im Feuerschein. Er zog sein massives Zweihandschwert und nahm es mit beiden Händen fest umschlossen. Mit ruhigen, kontrollierten Bewegungen hob er die Klinge an und setzte die Spitze an die Vertiefung im Stein. Zentimeter für Zentimeter versenkte er sie darin, das schabende Geräusch hallte dumpf über die Plattform. Gebannt verfolgte ich die Szene – was das wohl zu bedeuten hatte?
Sobald das Schwert bis zum Heft in den Stein eingelassen war, hörte ich ein leises Einrasten. Ein grelles, blaues Licht begann plötzlich, sich um das Heft zu legen und griff dann in sanften Strömen auf Michaels Hände über. Er stellte sich ganz gerade hin und schloss die Augen, das Gesicht in einem ruhigen, fast meditativen Ausdruck erstarrt.
Plötzlich spürte ich ein leichtes Rumoren, das durch den Berg vibrierte. Es war kaum spürbar, aber dennoch genug, um mir ein flaues Gefühl zu geben. War das ein gutes Zeichen? Oder… ein schlechtes?
Ich wartete darauf, dass Michael aus seiner Starre erwachte, aber er rührte sich nicht. Mit jedem Moment, der verstrich, wurde meine Neugier zur Sorge. Würde er so bleiben, nur damit ich ein Yindarin werden konnte?
»Was ist mit ihm?«, fragte ich. Die Worte entfuhren mir besorgt, und ich musste mich zurückhalten, um ihn nicht anzustoßen.
Raphael zog eine Augenbraue hoch und runzelte die Stirn, während er sich über sein Ziegenbärtchen strich. »Ihr habt dem Mensch wohl nicht gesagt, was diese Reise von uns fordert?« Sein spöttischer Blick wanderte kurz zu Uriel, bevor er sich wieder auf mich richtete. »Uns erwarten noch vier weitere dieser Steine. Jeder von uns muss seine göttliche Waffe darin versenken, um dir den Zugang zum Turm zu ermöglichen. Das bindet uns an den Stein – wir halten das Tor für dich offen.«
»Aber… ihr bleibt nicht in diesem Zustand, oder?« Ich sah erneut zu Michael, der in seiner Starre fast wie im Schlaf wirkte.
»Nein«, erwiderte Uriel ruhig. »Sobald du zurückkehrst, ziehen wir unsere Waffen wieder heraus. Aber das bedeutet auch, dass…«
»…ich den Weg nach oben allein gehen muss«, vollendete ich ihren Satz. Uriel nickte, ein Hauch von Ermutigung in ihrem Blick. »Du schaffst das, Jennifer. Wir glauben, dass dir ein neues Yindarin-Dasein gewährt wird – sonst wären wir nicht hier. Jetzt weiter. Der nächste Stein ist einhundert Meter entfernt und gehört dir, Raphael.«
Wir setzten uns wieder in Bewegung, aber ich drehte mich noch einmal zu Michael um und hoffte inständig, dass Uriel recht behielt.
Mit ihrer Erklärung hatte sich einiges in meinem Kopf geklärt. Ich verstand nun, warum es alle fünf Erzengel brauchte, um diese Reise zu ermöglichen. Zusammen mussten sie den Turm für mich aktivieren, und fehlte auch nur einer, würde das Tor verschlossen bleiben. Ich hatte angenommen, dass ich einem Ritual beiwohnen würde, das die fünf Erzengel forderte – doch offenbar hatte ich mich geirrt.
Trotzdem war der Gedanke, den restlichen Weg allein zu gehen, alles andere als beruhigend.
Am nächsten Meilenstein angekommen, trat Raphael vor. Im Stein war eine Vertiefung, die exakt die Form eines Hammers hatte, und ich beobachtete skeptisch, wie Raphael seinen Streithammer hineinführte. Genau wie Michael zuvor verharrte er in völliger Starre, den Blick auf seine Hände gerichtet, während nur sein Ziegenbärtchen im Wind flatterte. Wieder ertönte dieses grollende Geräusch, diesmal noch näher und bedrohlicher.
Weitere einhundert Meter höher war Uriel an der Reihe. Mit einem funkelnden Blick drückte sie mir kurz die Schulter und neigte leicht den Kopf, bevor sie ihre Axt mit einem fast rituellen Ernst in die Vertiefung des Steins versenkte. Der Boden bebte abermals, heftiger als zuvor, und ich spürte das Beben bis in die Zehenspitzen. Das Ganze war seltsam und irgendwie beunruhigend, aber ein Ritual wäre mir immer noch unangenehmer gewesen – besonders wenn ich an das letzte zurückdachte.
Gabriel war der nächste. Er warf mir einen langen Blick zu und versenkte seinen Kampfstab im Stein mit einem tiefen Seufzen, als wäre es ihm eine Zumutung. Auch er erstarrte, während das Erdbeben durch den Berg zog und dann verklang.
Ich holte tief Luft und sah zu Jason, dem letzten Erzengel, der mir mit einem aufmunternden Lächeln zulächelte. »Komm«, forderte er mich auf, »lass uns weitergehen.« Er ging an mir vorbei. Ich fragte mich kurz, was wohl seine heilige Waffe war – wenn ich es mir recht überlegte, hatte ich ihn noch nie mit einer gesehen.
Gemeinsam nahmen wir den Rest des Weges in Angriff. Meine Müdigkeit war nun von einer erwartungsvollen Aufregung verdrängt. Hier oben gab es nichts mehr außer kahlem Stein und Geröll, die Welt war karg und unwirklich. Über uns zeichnete sich eine dunkle Wolkenfront ab, die wie festgeklebt an der Bergwand hing. Hin und wieder blitzte es lautlos in ihrem Inneren, und ein Gefühl in mir sagte mir, dass dort oben mein Ziel lag.
Die Stufen führten direkt auf eine massive Felswand zu, nur um im Nichts zu enden. Auch hier oben befand sich einer der Steine, bei dem Jason schließlich stehenblieb. Er legte den Rucksack ab und setzte sich neben den Stein. Ich tat es ihm gleich und ließ mich auf den kalten Fels sinken. Eine kleine Pause tat jetzt wirklich gut.
Wir schwiegen uns ein paar Minuten an. Der Ausblick war kaum vorhanden; unter uns lag nur eine dichte Nebelwand, die den Blick ins Tal verbarg. Aber allein der Gedanke, den steilen Aufstieg geschafft zu haben, war eine Erleichterung.
»Hier, nimm.« Jason hielt mir schief lächelnd die Wasserflasche entgegen, die er mir bereits heute Morgen gegeben hatte.
Dankbar nahm ich sie und trank in großen Zügen – meine Kehle war trocken wie Sandpapier. Ich schraubte den Deckel zu und fragte zögernd: »Sag mal, wieso kümmerst du dich eigentlich so um mich?«
Jason senkte kurz den Blick auf seine Hände, bevor er die Augen hob und in die blitzende Wolkenfront über uns sah. »Weil du dem Yindarin wichtig bist. Und seine Freunde sind auch meine Freunde.«
Ein Grinsen schlich sich auf mein Gesicht. »Das hätte ich anfangs nicht gedacht. Um ehrlich zu sein, fand ich dich ziemlich eigenartig.«
Er lachte leise auf. »Tja, ein wenig Mystik muss man sich ja bewahren, oder?«
Eine Weile saßen wir noch schweigend nebeneinander, während ich die Gedanken schweifen ließ. Schließlich räusperte ich mich und bat leise: »Erzähl mir was von Nighton. Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt? Ein bisschen was weiß ich inzwischen… aber er plaudert nicht gerade aus dem Nähkästchen.«
Jason lachte erneut, doch diesmal lag ein warmer Unterton in seinem Lachen. »Ja, ja, das hat er noch nie gerne getan«, begann er und schüttelte den Kopf, während er mir einen prüfenden Seitenblick zuwarf, als müsste er sich vergewissern, dass ich seine Geschichte überhaupt hören wollte. Sein Blick glitt in die Ferne und die Wolken über uns schienen sein Schweigen zu spiegeln, doch dann begann er schließlich zu erzählen.
»Ich habe Nighton kennengelernt, da war er etwa fünfzig. Es war ein kalter Winter, eine alte Bar nahe Paris. Er war auf der Durchreise, und ich … nun, ich war auf der Suche nach einem Sinn. Eigentlich wollten wir uns gegenseitig töten – kein ungewöhnlicher Einstieg für unsereins, wie du weißt. Aber da ich ein Erzengel bin, ist das nicht so einfach, und ich hatte ehrlich gesagt auch kein Interesse daran, ihm etwas anzutun. Hätte ich damals geahnt, wer er wirklich war, hätte ich vielleicht anders gehandelt. Aber so saßen zwei Feinde in einer Bar, betranken sich und sprachen die ganze Nacht über Gott und die Welt. Und seitdem sind wir Freunde. Richtig wiedergesehen haben wir uns aber erst, als er mit dir verbunden war.«
Er hielt kurz inne, ein kaum wahrnehmbares Lächeln spielte auf seinen Lippen.
»Aber auch ich weiß nicht allzu viel über ihn. Er ist halber Norweger, halber Brite und bildet sich mächtig was auf seine Körpergröße ein. Er hat einen besten Freund, zu dem er seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr hat, aber er meinte erst letztens, dass er noch irgendwo draußen in der Welt herumgeistert. Was Nighton selbst betrifft, er hat seine eigene Existenz als Dämon oft zutiefst verabscheut, auch wenn er das vor anderen nie gezeigt hat.«
Jason machte eine Pause, sein Blick schien in einer Erinnerung zu verweilen, bevor er weitersprach. »Er war früher Teil einer Gruppe – einer brutalen Bande, die durch Europa zog und Chaos verbreitete. Sie massakrierten alles und jeden, ohne Rücksicht. Diese Zeit, so hat er es mir jedenfalls erzählt, ließ ihn in eine Dunkelheit abgleiten, die ihn vollständig einnahm. Dabei weißt du sicher, dass es übernatürlichen Wesen streng verboten ist, Menschen zu töten. Dieser Grundsatz dient dazu, einen Rest Menschlichkeit in uns zu bewahren. Wer das bricht, riskiert, zu einem reinen Monster zu werden, einer Kreatur ohne Gewissen oder Verstand.«
Jason seufzte leise, als würde er die Last dieser Geschichte selbst spüren. »Jahrelang suchte er nach einem Sinn, den er in Gewalt fand, bis er an Selene geriet. Er wurde ihr engster Scherge, und wenn du daran denkst, was das bedeutet, dann weißt du, dass er damit den tiefsten Punkt erreicht hatte. Jahrzehnte später dann aber wurde er von deiner Mum geschnappt und der Sonnenfolter ausgesetzt. Diese Zeit – die dreizehn Jahre Sonnenfolter – hat ihn verändert. Und dann kamst du. Du bewirktest definitiv den größten Wandel in ihm. Wann immer wir Kontakt hatten, wetterte er über dich, fluchte über diese Fesseln, die ihn an dich banden, sprach davon, wie sehr er sich deinen Tod wünschte. Aber gleichzeitig sah ich, wie er sich veränderte: Er wurde vorsichtiger, ruhiger, weniger impulsiv. Verdammt, man könnte fast sagen, er wurde zahm – außer, es ging um dich. Aber da hatte er ja auch nicht wirklich eine Wahl.«
Er schnaubte leise und sah mich mit einem fast amüsierten Glitzern in den Augen an. »Es gibt nicht viele Dämonen wie ihn – pardon, ich meine natürlich Yindarin.«
Jason lehnte sich leicht zurück, seine Augen glommen im dämmrigen Licht, während er nachdenklich in die Ferne sah. »Weißt du, ich habe deinen Werdegang immer mit großem Interesse verfolgt«, begann er leise. »Es war, als würde ich einem Sturm beim Wachsen zusehen. Du wurdest älter, stärker, und ohne es zu wissen, hast du Nighton dabei an seine Grenzen gebracht. Je älter du wurdest, desto besser wurde er darin, mit Notsituationen umzugehen – und glaub mir, da gab es einige. Grottenmahre, Wyrm, Vampyri und unzählige andere unbeseelte Dämonen haben versucht, dir zu schaden. Doch kein einziger hat es je geschafft.«
Er hielt einen Moment inne, als würde er die Erinnerungen an diese Kämpfe selbst noch einmal durchleben, bevor er mit einem leichten Lächeln weitersprach. »Ich hätte nie geglaubt, dass das Schicksal euch auf diese Weise zusammenführen würde. Hätte ich Nighton vor zwanzig Jahren prophezeit, dass er eines Tages so an dir hängen würde, hätte er mich wahrscheinlich in Stücke gerissen. Aber jetzt… sieh euch an. Fast unheimlich, was aus euch geworden ist.«
Seinen Worten lag eine Wärme inne, die mich schweigend lauschen ließ, und ab und zu konnte ich mir ein kleines Lächeln nicht verkneifen. Doch ein leises Stechen drängte sich in meine Gedanken, eine Erinnerung, die wie ein Schatten auf den Moment fiel: der Augenblick, in dem Selene mir offenbart hatte, dass Nighton all die Zeit für sie gearbeitet hatte, während er mein Wächter gewesen war.
Ohne Jason anzusehen, hielt ich meinen Blick auf die dichte Wolkendecke gerichtet und murmelte: »Wusstest du, dass Nighton während seiner Zeit als mein Wächter auf Selenes Seite stand?«
Jason seufzte leise. »Nein«, antwortete er, und sein Ton verriet eine Schwere, die mehr enthüllte, als Worte es hätten tun können. »Aber ich habe es vermutet. Seine und Selenes Bindung war immer zu eng, um einfach abzureißen. Hat er es dir selbst gesagt?«
Ich schüttelte langsam den Kopf und erzählte ihm von meinem Gespräch mit Selene. Jason hörte aufmerksam zu, sein Gesicht unlesbar, bis ich geendet hatte. Schließlich fragte er mit ernstem Blick: »Hast du mit irgendwem seitdem darüber gesprochen?«
Ich verneinte. Er nickte bedächtig. »Gut. Sollte diese Information je in falsche Hände gelangen, könnte das Oberstadt in absolutes Chaos stürzen. Die Engel wissen, dass Nighton nicht ohne Makel ist, aber sie vertrauen ihm mittlerweile. Auch wenn Asmodeus das mit seinen Äußerungen schon ins Wanken gebracht hat. Wenn sie jedoch erfahren, dass er trotz der Sonnenfolter achtzehn Jahre lang an Selenes Seite gearbeitet und dabei das Leben des Yindarin gefährdet hat…« Jason hielt inne, als würde er den Gedanken selbst nicht zu Ende denken wollen. »Das könnte ernsthafte Folgen haben – für alle von uns. Ich danke dir, dass du es mir gesagt hast. Doch ich sollte der Letzte sein, der das weiß. Verstehst du?«
Ich nickte sofort und versicherte ihm, dass ich ohnehin nie vorgehabt hatte, jemandem davon zu erzählen. Jason machte bereits Anstalten aufzustehen, da griff ich zögernd nach seinem Ärmel. Meine Gedanken rasten. Es gab da eine Frage, die mir keine Ruhe ließ, und als Jason mich fragend ansah, wusste ich, dass ich sie aussprechen musste.
Mit leiser Stimme und den Gedanken bei jener ersten Nacht mit Nighton flüsterte ich: »Welche Verbindung haben Nighton und Selene wirklich?«
Jason hielt inne, und diesmal antwortete er nicht sofort. Sein Blick schien zwischen Bedauern und Zögern zu schwanken, ehe er ausweichend sagte: »Er war ihr wichtigster, stärkster und bedeutendster Scherge seit Jahrhunderten. Mehr weiß ich wirklich nicht.«
Ich öffnete schon den Mund, um ihm vorzuwerfen, dass er mich belog, doch bevor ich das aussprechen konnte, erhob sich Jason und klopfte sich ruhig den Staub von der Kleidung. »Ich denke, es ist so weit. Das bisschen Ruhe vor meinen Geschwistern war erholsam, aber Zeit, weiterzumachen. Du willst ja schließlich ein Yindarin werden.« Er zog einen langen, schlanken Dolch hervor, den er nachdenklich in der Hand wog.
Doch die bevorstehende Aufgabe schürte nur die Unruhe in mir. »Was erwartet mich da oben?«, fragte ich voller Nervosität.
»Sobald ich meinen Stein aktiviere, wird ein uralter Turm durch den Boden brechen«, erklärte Jason. »Du betrittst ihn, und oben, über den Wolken, wirst du herauskommen. Solange unsere Waffen in den Steinen versenkt bleiben, besteht eine Verbindung vom Himmel zur Erde – das leitet die elektrischen Ströme ab und schützt dich. In dieser Zeit kannst du dich gefahrlos oben aufhalten und mit den Seelen kommunizieren.« Sein Tonfall war nüchtern, doch der Gedanke an die unsichtbaren Gefahren ließ meinen Herzschlag in der Brust hämmern. »Wenn deine Wandlung vollzogen ist, kommst du durch den Turm zurück, und dann können wir Erzengel die Verbindung lösen. Doch das wird das obere Reich wieder unter Strom setzen, und was uns nichts anhaben kann, wird für dich auf jeden Fall tödlich sein.«
Ich nickte langsam und zwang mich, die Worte in mir sacken zu lassen, als er weitersprach. »Eile ist nicht nötig, nimm dir die Zeit, die du brauchst. Aber bedenke, dass du allein bist – und nur eine einzige Gelegenheit hast. Niemand von uns kann dir helfen. Doch kein Wesen weiß um die Siegel dieses Ortes, niemand erreicht ihn also so einfach, es gibt also wenig Grund zur Sorge.« Seine Stimme klang fest, doch eine Spur von Anspannung zeichnete sich in seinem Blick ab. »Bereit?«
Statt einer Antwort trat ich auf ihn zu und schloss ihn kurz und fest in die Arme. Jason erstarrte überrascht, doch dann erwiderte er die Umarmung mit einem sanften Druck. »Viel Glück«, murmelte er. Dann trat er zum Stein und warf mir ein letztes Lächeln zu, bevor er den Dolch tief in die Vertiefung drückte.
Augenblicklich begann der Berg zu erbeben, und ich kämpfte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Kleine Steine hüpften auf und ab, und ich schaffte es gerade noch, einen Schritt zurückzutreten, als sich ein massiver, runder Turm mit einem dumpfen Grollen aus der Erde erhob. Gesteinsbrocken sprangen in alle Richtungen und Staub und Stein rieselten von den glatten Wänden des Turms, während er unaufhaltsam weiter in die Höhe wuchs, die Wolkendecke durchstoßend und hoch hinauf ins Ungewisse ragend.
An seiner Spitze sammelten sich elektrische Ladungen, die entlang der Wände des Turms nach unten rasten und dann leise im Boden verschwanden. Kurz durchzuckte mich die Angst, doch der Strom hielt sich von mir fern. Mit einem letzten, mächtigen Beben kam der Turm zur Ruhe, und eine ovale, schwarze Öffnung erschien am Fuße der Mauer, aus der sich Farben wie ein schillernder Wirbel nach außen verzogen. Ein mulmiges Gefühl stieg in mir auf, als ich in das Portal blickte – und doch wusste ich, dass dies mein Weg war.
Ich hob den Kopf und sah, dass die Wolken über uns nicht länger von Blitzen durchzuckt wurden. Sie leuchteten in einem sanften Weiß, das beinahe ins Rosafarbene überging. Ein letztes Mal warf ich einen Blick auf Jason, der wie eine Statue vor dem Stein stand, die Augen geschlossen und in völliger Ruhe.
Dann atmete ich tief durch, richtete mich auf und trat durch das Portal.