Auf einem Vorplatz aus Kiessteinen hielt ich an. Sam lief ein paar Schritte weiter, betrat die Veranda und öffnete die tiefliegende Haustür mit dem großen Vordach. Ich legte den Kopf in den Nacken und ließ den Blick über die Ecktürme, Balkone, übereinandergestellten Erker und die unsymmetrische Fassade schweifen. Das Gebäude hatte etwas Viktorianisches an sich. Da ich eine Vorliebe für Häuser mit einer derartigen Bauart hatte, war ich schon jetzt restlos begeistert, wo ich nur davorstand. Warum Siwe sich wohl so ein Haus hatte bauen lassen? Und wie lange es leergestanden haben mochte? Ob sie überhaupt je hier drin gewesen war?
Ich hatte gerade einen Fuß auf die Veranda gesetzt, um Sam zu folgen, da wich ihm das komplette Blut aus dem Gesicht. Er schaute hinter mich und ich konnte ganz genau erkennen, wie sich seine Hände um den Türrahmen krampften, der dabei bedenklich knackte.
»Sam?«, fragte ich besorgt, doch da ertönte ein lautes »Stopp!« hinter uns, das mich erst zusammenfahren und dann über die Schulter blicken ließ. Nighton kam mit langen Schritten herangestürmt. Er hatte im Laufen die Hände zu Fäusten geballt und wirkte zum Teil erschrocken, zum Teil wütend. Warum war er hier? Hatte Sam nicht gesagt, er wäre mit Penny und Evelyn in Oberstadt?
Wie am Sonntag zog sich bei seinem Anblick alles in mir zusammen. Insgeheim hatte ich mir vorgenommen, stark zu bleiben, mich nicht von meinen Hormonen und Gefühlsduseleien beeinflussen zu lassen, doch das war unendlich schwer. Ich konnte spüren, wie mein Mund staubtrocken wurde und mein Herz in ein aufgeregtes Stakkato verfiel. Schnell wandte ich mich ab und schaute woanders hin, während Nighton zu uns auf die Veranda sprang. Er sollte bloß nicht merken, wie sehr mich seine Anwesenheit aus der Fassung brachte. Aber eigentlich hätte mir klar sein müssen, dass Sam und ich das Haus nicht reibungslos betreten können würden. Bei meinem Glück?
»Bist du verrückt geworden?«, fuhr Nighton Sam an, packte ihn mit der einen Hand an der Schulter, zog ihn raus auf die Veranda und donnerte mit der anderen Hand die Haustür zu. Ich hatte mit einer derartigen Schroffheit nicht gerechnet und wich gleich mehrere Schritte zurück, und das, obwohl Nightons Ärger gar nicht mir galt. So wirkte es zumindest. Er fixierte nämlich Sam, und zwar nur ihn. Der wollte sich verteidigen, doch Nighton fuhr ihm sofort über den Mund.
»Was tut sie hier?«, rief er, auf mich zeigend.
»Sie - sie - sie wollte, sie - sie hat-«, stammelte Sam drauf los, doch er brachte kaum ein richtiges Wort heraus. Nighton warf die Arme in die Luft.
»Du hattest einen Auftrag, und der lautet, sie zu beschützen und nicht einfach herzubringen. Solange wir nicht wissen, was es mit der Wand auf sich hat, ist das einfach zu gefährlich, das müsste dir doch klar sein!«
»Aber - aber sie hat gesagt, es ist ihr Haus und das stimmt ja auch, deshalb-«
»Na und?! Du bist ihr Wächter, das heißt nicht, dass du ihr Gehorsam schuldest und alles tun musst, was sie will, vor allem nicht, wenn es sie in Gefahr bringt!«
An der Stelle beschloss ich, Sam beizuspringen. Inzwischen hatte ich meinen Gefühlshaushalt wieder einigermaßen unter Kontrolle und meine Contenance zurückgewonnen.
»Hör auf, ihn anzuschreien!«, verlangte ich daher energisch. Erst jetzt wandte Nighton mir seinen Blick zu. Dabei flackerte es wild an seinem Hals auf und ich konnte sehen, wie sich schwarze Farbe in die Adern seiner Oberarme ergoss. Für einen Augenblick schaute er mich zornig an und ich dachte schon, dass als nächstes ich diejenige wäre, die er anfahren würde, doch zu seinem Glück besann er sich eines Besseren und widmete sich wieder Sam. Gepresst forderte er ihn auf: »Los, geh zu den anderen, die warten beim Teleportstern. Zum Glück bin ich nochmal zurückgekommen, wer weiß, was du für eine Katastrophe ausgelöst hättest, wenn sie der Wand zu nahe gekommen wäre. Denk doch einmal nach, Samuel!«
Sam schluckte, presste den Mund zu einem schmalen Strich zusammen und nickte. Ich öffnete schon den Mud, um ihn zurückzuhalten, doch er lief, ohne mich zu beachten, an mir vorbei und sprang von der Veranda. Dabei hatte er die Schultern hoch- und den Kopf eingezogen, fast wie ein geprügelter Hund. Der Arme! Es war meine Schuld, dass Nighton ihn so zusammengefaltet hatte, immerhin hatte ich Sam dazu genötigt, mich herzubringen. Aber warum machte Nighton nur so einen Aufriss um dieses Haus? Wegen einer Wand im Keller? Also bitte!
»Das war gemein und total unnötig«, warf ich Nighton vor, als Sam außer Sichtweite war. Der wandte nun wieder mir seinen Blick zu. Mit einem Schlag wichen die Anspannung und der Zorn aus seinem Gesicht. Er schluckte und versuchte ein vorsichtiges Lächeln.
»Entschuldige«, murmelte er, noch einmal in Sams Richtung blickend. »Mein Ärger gilt nicht dir.«
Ich runzelte die Stirn, schaute demonstrativ woanders hin und musste mir zugleich einen Reiz am Arm setzen, um mir meine Haltung zu bewahren. Am liebsten wäre ich gerannt. Gott, warum war es so schwer, in seiner Gegenwart die Nerven zu bewahren?! Am Sonntag hatte ich es doch auch geschafft! Also - mehr oder weniger. Ich dachte an Sam und seine bedröppelte Miene, und das verlieh mir im Folgenden Kraft.
»Egal! Du kannst so nicht mit Sam umgehen, kein Wunder, dass er Angst vor dir hat.«
Nighton blinzelte. Offenbar verblüffte ihn mein Vorwurf, denn er klang ehrlich erstaunt, als er nachhakte: »Angst? Er hat doch keine Angst vor mir.«
Sofort widersprach ich: »Oh doch, und wie! Laut Sam scheinst dich nämlich wie der letzte Tyrann aufzuführen, und nach dieser Szene gerade glaube ich das gern.«
Er öffnete schon den Mund, schloss ihn aber wieder und setzte einen zerknirschten Gesichtsausdruck auf.
»Tut mir leid.«
Ich stöhnte auf und rollte mit den Augen.
»Hör auf, dich andauernd bei mir zu entschuldigen. Mach das lieber bei Sam.«
Nighton zog die Schultern hoch und murmelte etwas, das ich nicht verstand. Kurz fühlte ich mich provoziert und wollte nachfragen, verwarf dieses Vorhaben aber wieder und drehte mich stattdessen zur Tür um. Immerhin war ich wegen des Hauses hier und nicht, um mich mit Nighton zu befassen oder mich von ihm verwirren zu lassen. Ich sah am Holzrahmen der Haustür hoch und runter und erkundigte mich in neutralem Ton, um das Thema zu wechseln: »War es das, was du mir im Park sagen wolltest? Dass ich ein Haus geerbt habe?«
Nighton schaute ebenfalls auf die glatte Außenfläche der Tür und bejahte. »Aber dass du es dir jetzt schon ansiehst, war nicht geplant.«
Verärgert schaute ich über die Schulter zu ihm hoch.
»Wenn Siwe mir dieses Haus wirklich hinterlassen hat, dann gehört es mir, und das würde bedeuten, ich kann tun und lassen, was ich will. Und du wirst mich garantiert nicht davon abhalten«, stellte ich klar.
Aufseufzend griff Nighton sich an die Nasenwurzel. Ich überforderte ihn, das spürte ich. Für ein paar Sekunden schien er nach Worten zu suchen, dann erklärte er kontrolliert ruhig: »Ich will dich nur beschützen. Im Keller von Harenstone gibt es etwas, das gefährlich sein könnte, und ich werde das Risiko nicht eingehen, dass dir etwas passiert.«
Für einen Moment lang gaffte ich ihn an. Schließlich entwich mir ein ungläubiges Lachen.
»Du willst nicht, dass mir was passiert? Bitte! Ist es für solche Beteuerungen nicht schon zu spät?«
Ich machte nur einen Schritt auf die Tür zu, da versperrte mir Nightons Arm plötzlich den weiteren Weg. Er hatte ihn soeben gegen den Türrahmen gestemmt. Eine Woge seines Geruchs schwappte in meine Nase hinein und ließ mich umgehend die Luft anhalten. Ich könnte natürlich versuchen, seinen Arm beiseite zu schubsen. Aber das wäre erstens sinnlos und zweitens müsste ich ihn dafür berühren - und das wollte ich um jeden Preis vermeiden. Etwas näselnd aber nicht weniger aufgebracht forderte ich: »Lass mich durch!«
»Tut mir leid, nein. Das ist zu gefährlich.«
Wieder sah ich Nighton schlucken. Tief in mir war ich sicher, dass er am liebsten alles getan hätte, was ich wollte, wenn ich ihm nur verzeihen würde. Jedenfalls war das mein Eindruck nach Sonntag, den ich von ihm hatte. Wenn er sich mir also nun derart in den Weg stellte, musste er es ernst meinen.
Wir hielten Blickkontakt. Keiner von uns sah weg, was leider zur Folge hatte, dass ich mich an diesen verdammten grünen Augen festsaugte. Es kostete mich immens viel Kraft, den Blick zu senken. Bevor ich weiter auf mein Recht bestehen konnte, versprach Nighton mit wohl gewählten Worten: »Wenn ich es mit meinem Gewissen vereinbaren könnte, würde ich dich zu gern mit reinnehmen. Aber ich weiß nicht, was passiert, wenn du Harenstone betrittst. Es ist wirklich nur zu deinem Besten. Ich will dich nicht weiter gegen mich aufbringen, das musst du mir glauben. Bitte.«
Der unglückliche Ausdruck in seinem Gesicht sprang mich geradezu an. Für einen Moment noch sah ich noch zu ihm auf, dann atmete ich tief ein und wieder aus, ehe ich den Blick senkte und auf die Holzdielen der Veranda hinabschaute.
»Wenn du überhaupt ein Gewissen hast«, erwiderte ich tonlos und trat einen Schritt von Nighton zurück, um den Abstand wiederherzustellen, den ich verringert hatte. Offenbar führte für mich gerade kein Weg dort rein, der nicht gewaltlos verlaufen würde. Und selbst wenn ich versuchen würde, mich an Nighton vorbeizuquetschen, würde das ein schnelles Ende nehmen. Er war mir körperlich haushoch überlegen und allem Anschein nach fest entschlossen, nicht zurückzuweichen. Entweder könnte ich jetzt eine weitere Szene veranstalten oder aber herausfinden, was er wusste. Meine Neugierde auf das, was so gefährlich sein sollte, war allerdings in den letzten Minuten gewachsen. So entschied ich mich für Letzteres. Zwar würde das bedeuten, seiner Anwesenheit noch länger ausgesetzt zu sein, was ich eigentlich um jeden Preis hatte vermeiden wollen, doch das hier betraf mich - und ich gedachte, mehr herauszufinden.
So fragte ich, die Arme verschränkend und überall hinsehend, nur nicht auf Nighton: »Na schön, dann erleuchte mich, was ist denn so furchtbar schlimm und gefährlich, dass ihr hier jede Nacht in Ruhe schlafen könnt?«
Nighton entspannte sich etwas und atmete hörbar aus. Dann antwortete er erleichtert: »Es ist mehr eine Vermutung als eine Tatsache. Im Keller befindet sich eine Wand, die dort nicht hinzugehören scheint. Wenn man sich ihr nähert, bilden sich merkwürdige Schriftzeichen auf ihr ab, die nach Blut verlangen.« Er zögerte. »Genauer gesagt, Blut von meinem Blut.«
Ich runzelte die Stirn. »Blut von meinem Blut?«, wiederholte ich. »Bin ich damit gemeint?«
Nighton hob unsicher die Schultern an und überlegte: »Wahrscheinlich schon. Du bist Siwes Tochter und das hier ist ihr Haus. Zumindest laut des Nachlasses, der bei den Engeln aufgetaucht ist. Die Erzengel jedenfalls sind sich sicher, dass mit der Wand etwas nicht stimmt. Vielleicht befindet sich etwas in ihrem Inneren oder sie verbirgt etwas, ich weiß es nicht. Aber was ich weiß, ist, dass ich auf keinen Fall zulassen werde, dass dir etwas zustößt.«
Unbeeindruckt entgegnete ich: »Du wiederholst dich, ich habe schon beim ersten Mal verstanden, dass du neuerdings Ritter auf dem Ross spielen willst. Nur nach allem, was passiert ist, kann ich das eher weniger ernst nehmen. Aber gut, von mir aus, ich gebe mich geschlagen. Heute.« Damit drehte ich mich um und wollte gehen, doch Nighton hielt mich zurück, indem er mir auf einmal in den Weg trat. Das erschreckte mich genauso wie ihn, denn sobald er vor mir stand, zuckte er selbst zusammen und schaute verwundert drein, als hätte er gar nicht vorgehabt, mich aufzuhalten.
»Ich-«, fing er an, stoppte aber, als er sah, dass ich instinktiv vor ihm zurückgewichen war. Ein Schatten legte sich über sein Gesicht.
»Hast du Angst vor mir? Wobei, nein, sag es nicht, ich - tut mir leid. Ich meine, nein, tut es nicht, ich soll ja - ach, weißt du was, vergiss es. Ich wollte dir eigentlich bloß sagen, dass ich nicht-« Er schluckte krampfhaft. Es war eigenartig, den sonst so von sich überzeugten und souveränen Dämon von früher so schwimmen zu sehen. So kannte ich ihn gar nicht. War das ein Zeichen dafür, dass er sich geändert hatte? Oder eines von Schwäche?
»-dass ich nur nicht wollte, dass du schon gehst.«
Ich schlug die Augen nieder. Oh Hölle, tu dich auf, nimm mich mit, alles wäre einfacher, als hier vor diesem Kerl zu stehen und mich selbst schützen zu müssen!
»Bitte bedräng mich nicht«, bat ich langsam und akzentuiert, aber mit leicht zitternder Stimme, während ich ein Loch in die Verandabrüstung starrte. Ich hörte Nighton erschrocken Luft einsaugen. Dann beteuerte er: »Das wollte ich auf keinen Fall! Es ist nur - ich weiß nicht, wie das geht, das alles hier ist komplettes Neuland für mich und du - du fehlst mir, Jennifer.«
Ich stöhnte auf und presste mir die Hände auf die Ohren. Na klasse, das hatte ja noch gefehlt. Es kostete mich so unsagbar viel Mühe, nicht heulend auf Nighton zuzuwanken und mich in seine Arme zu werfen.
»Ich sollte gehen. Jetzt. Ich kann das hier nicht«, presste ich hervor, umrundete Nighton und lief die Kiesauffahrt runter, fest entschlossen, abzuhauen. Hoffentlich war Sam noch beim Teleportstern und würde mich zurückbringen.
In meinen Ohren rauschte es und ein Teil von mir wünschte sich, ich wäre nie hergekommen. Ich war nicht nur nicht schlauer als vorher, nein, ich kam hier gerade echt an meine Grenzen, und das war verdammt nochmal gefährlich.