Es folgte die merkwürdigste Situation, die ich die letzten Wochen erlebt hatte. Nighton, mein Vater und ich saßen am Esszimmertisch. Dad nahm den Blick nicht von Nighton, als müsste er sich einreden, dass er wirklich da war. Thomas beschäftigte sich auf Dads Bitte hin mit Anna und dem Frühstück, und so saß ich mit Nighton, der die Ruhe weghatte, und meinem Dad an diesem riesigen Tisch und hoffte, dass niemand eine Bombe in den Raum werfen würde. Nach zehn Minuten des Schweigens, die meinem Vater wohl dazu verholfen hatten, wieder die Contenance zurückzuerlangen, brach dieser die Stille und stützte sich auf den Tisch.
»Wie alt sind Sie, wenn ich fragen darf? Laut Jennifer kennen Sie sie schon ihr ganzes Leben. Nein, sagen Sie es nicht, ich – dreißig? Fünfunddreißig? Nein? Aber doch noch keine Vierzig?«
»Gott, Dad!« Eine Grimasse ziehend stützte ich den Kopf in die Hände. Das versprach, ein fürchterliches Gespräch zu werden.
»Lass ihn, er hat viele Fragen, das ist verständlich«, meinte Nighton an mich gewandt, ehe er die Frage meines Vaters beantwortete.
»Ich bin Hundertzwanzig.«
Mein Dad fing an, wild in seinem Kaffee zu rühren. Das tat er immer, wenn er nervös wurde. Nighton musternd hakte er nach: »Ist das normal, dass solche wie Sie, also - warum sehen Sie so jung aus?«
»Der Alterungsprozess ist anders bei Engeln und Dämonen. Viele leben Hunderte, wenn nicht Tausende von Jahren. Wenn ich es an menschlichem Alter gemessen ausdrücken müsste, bin ich etwa achtundzwanzig.«
»Ah ja, ich verstehe. Und was machen Ihre Eltern?«
Meinem Vater schien noch beim Sprechen einzufallen, dass das eine ziemlich dämliche Frage war, aber er stellte sie trotzdem und Nighton antwortete sogar darauf.
»Die leben nicht mehr.«
»Ja, aber Jennifer sagte, sie habe noch ein weiteres Elternpaar. Haben Sie nicht auch noch andere Eltern?«
Nighton verkrampfte sich plötzlich ein wenig und seine Gesichtszüge verhärteten sich. »Nein.«
»Und – und-«
Mein Vater fuhr sich mit einer Hand durch den Bart und tippelte mit den Fingern der anderen Hand auf dem Tisch herum. Die Frage, die ihm auf der Zunge zu liegen schien, war scheinbar keine angenehme. Mir grauste es bereits jetzt.
Sich räuspernd brummte er: »Sie sind ja bestimmt gut herumgekommen, in Ihrem hohen Alter, da – also da haben Sie bestimmt einiges an Erfahrungen gesammelt.« Er schluckte. Ich ahnte, worauf das hinauslief. Im Gegensatz zu Nighton, der nur den Kopf schieflegte und auch noch den Fehler machte, nachzuforschen: »Wie meinen Sie das?«
»Nun ja«, mein Dad räusperte sich wieder mehrfach, warf mir einen Blick zu und presste hervor: »Ich will keine unanständigen Dinge unter meinem Dach!«
Oh Gott, nein!
»DAD!«, stöhnte ich entsetzt und zog mir das T-Shirt höher, um meinen leuchtend roten Kopf zu verdecken. »Bitte, worüber reden wir hier gerade?! Selbst wenn da etwas passiert, wovon wir gerade meilenwert entfernt sind, dann brauche ich bestimmt keine Erlaubnis dafür!« Mein Gesicht glühte vor Scham.
»Diese Situation ist nun mal anders als alles, was ich bisher zu kennen glaubte und nach deinen Erzählungen zu seiner Person habe ich ehrlich Angst, dass hier demnächst kleine – kleine – na, kleine leuchtende Kinder mit Flügelchen oder Teufelsdreizack umherzischen!«, rief mein Vater fast so hysterisch wie ich und schlug mit der Hand auf den Tisch.
»Aber du kannst doch nicht vor ihm mit so etwas anfangen, das geht nicht! Weißt du, wie peinlich das ist?!«
Nighton indes hatte keine Miene verzogen. Obwohl ich ihm nach wie vor Pest und Cholera wünschte, bewunderte ich ihn ein klein wenig für seine Seelenruhe. Jeder andere Junge oder Mann hätte bestimmt das Weite gesucht. Unangenehmes Teenager-Gespräch hin oder her – so etwas führte man unter zwei Augen und nicht vor anderen!
»Ich denke, sie hat es auf den Punkt gebracht«, war Nightons geschickte Antwort, mit der er das unangenehme Schweigen füllte. Mein Vater nickte knapp und schien sich hoffentlich mit der Antwort zufrieden zu geben.
Und so ging es den restlichen Mittag. Dad quetschte Nighton aus wie eine reife Zitrone. Der beantwortete geduldig jede einzelne Frage, egal ob es um seine Lebenspläne, seine Vergangenheit, seine täglichen Aktivitäten oder um die Kreise ging, in denen er verkehrte. Es hätte mich nicht mal gewundert, wenn er ihn nach seiner Schuhgröße gefragt hätte.
Am Ende herrschte eine Pause, in der niemand etwas sagte. Ich saß da auf meinem Stuhl und fühlte mich wie in einem Gerichtssaal, und mein Dad war der Richter. Obwohl ich nicht mal wusste, worüber er richten sollte. Irgendwann zog er die Bänder seines Morgenmantels enger und raufte sich das ergraute Haar. Sich im Stuhl zurücklehnend sah er erst mich und dann Nighton an. Der saß ihm immer noch tiefenentspannt gegenüber und schien darauf zu warten, dass Dad etwas sagte.
»Nun, Jennifer, ich kann dir ja nicht verbieten mit ihm, wie sagt ihr jungen Leute immer, rumzuhängen, aber ich fühle mich sehr unwohl dabei. Davon abgesehen, dass ich hier mit Dingen konfrontiert wurde, die zugleich wahnwitzig und abstrus sind und auch noch gezwungen bin, das zu glauben, es sei denn, jemand hat mir etwas in den Tee heute früh gemischt – ich weiß überhaupt nicht, was ich davon halten soll, ganz zu schweigen davon, dass ich gerade restlos überfordert bin. Ich hatte wirklich gedacht, dass du – nein, eher gehofft, dass du dir das ausgedacht hattest. Doch ich wurde eines Besseren belehrt und musste einsehen, dass du die Wahrheit gesagt hast. Engel und Dämonen. Ha. Dass es sowas gibt.« Er rieb sich die Augen und lachte verzweifelt auf.
»Ich muss es wohl einfach hinnehmen, dass dort oben eine Horde geflügelter Buben über Wolken hinweg hopst.« Er gluckste über seinen eigenen traurigen Witz und schüttelte den Kopf. Nach einem sehr lauten Räuspern, mit dem er seine Ernsthaftigkeit wiedergewinnen wollte, fuhr er fort: »Nein, nein, ich finde es nicht gut, dass du mit ihm Zeit verbringen willst, vor allem in diesem ominösen Wunderhaus. Aber mir scheint, dass ich dir das nicht ausreden kann, und ich bin wenigstens in der Hinsicht beruhigt, dass Sie, äh, Mr. Nighton, ihr wohl doch nichts Böses wollen. Also tu, was du nicht lassen kannst, Jennifer. Jedoch-«, er hob einen Finger an, »- solange du noch hier wohnst, zur Schule gehst und deine Füße unter meinen Tisch streckst, gelten meine Regeln und die verlangen, dass du, egal wo du dich tagsüber herumtreibst, gefälligst um neun Uhr wieder da bist. Und es ist mir absolut egal, dass du volljährig bist, das musst du dir jetzt gefallen lassen. Ich bin dein Vater und das ist der Kompromiss, den ich dir bieten kann: Meine Akzeptanz gegenüber eurer Sache für das Einhalten meiner Regeln. Und das gilt übrigens auch für Sie, Nighton. Keine Einstiege mehr durch Fenster, kein heimliches Herumschleichen und vor allem kein Übernachten im Bett meiner Tochter!«
Bei seinen letzten Worten bekamen mein Vater und ich beinahe wieder zeitgleich einen knallroten Kopf.
»DAD!«
»ICH DARF SO WAS SAGEN!«
Ich ließ den Kopf auf die Tischplatte knallen und wartete, bis die Hitzewelle sich verflüchtigt hatte, dann hob ich langsam das Gesicht an und blinzelte meinen Vater an. »Zehn Uhr?«
»Jennifer!«
»Okay, halb zehn?«
»Hier wird nicht verhandelt. Neun Uhr und Basta!« Damit erhob Dad sich und kippte den inzwischen kalten Kaffee hinunter. »Ich muss jetzt noch etwas arbeiten«, verkündete er und verließ das Esszimmer.
Ich wartete, bis er weg war und schaute dann zu Nighton. Der lehnte sich nach hinten und lächelte mich leicht an.
»Lief doch gut«, fand er.
Ich schickte ihm einen düsteren Blick. »Wir werden sehen.«
Nighton konnte froh sein, dass ich das ein oder andere Detail über seine Person ausgelassen hatte, als ich vor ein paar Wochen mit Dad und Thomas hier gesessen und reinen Tisch gemacht hatte. Dabei hatte ich das nicht mal mit Hintergedanken getan. Wenn mein Dad wissen würde, was Nighton mir und unserer Familie wirklich angetan hätte, wäre der wahrscheinlich nicht so glimpflich davongekommen.
Nighton erhob sich. »Werden wir«, sagte er. »Lass uns gehen. Wir haben immerhin ein Zeitlimit.« Das schien er lustig zu finden, denn er gluckste einmal. Ich überging seinen Spaß, verkündete, mir etwas anziehen zu wollen, stand auf und lief gedankenverloren in mein Zimmer.
Was tat ich hier bloß? Wurde ich weich? Nein, oder?
»Jen! Jen! Mach auf!«
»Was ist?«
Verwirrt öffnete ich meine Zimmertür. Thomas platzte hinein. Er wirkte furchtbar aufgeregt und fuhr sich andauernd durch seine Wuschelkopffrisur. Seine Augen leuchteten.
»Hör zu-«, fing mein Bruder an, »- ich habe eben vielleicht ein bisschen unfreiwillig mitangehört, was ihr vorhabt. Kannst du mit deinem Typ reden und ihn fragen, ob ich mitkommen kann? Ich will unbedingt deine Freunde aus dem Internat kennenlernen, von denen du erzählt hattest!«
Ich lachte freudlos auf und zog mir ein schwarzes T-Shirt mit Bandaufdruck über den Kopf.
»Er ist nicht mein Typ. Frag ihn doch selbst.«
Thomas verzog das Gesicht und zog an seinen Fingergelenken, bis sie knackten. »Kannst du nicht für mich …? «
Gehässig stichelte ich: »Hast du Angst vor ihm?«
»Natürlich nicht!«, widersprach Thomas und schaute über die Schulter, als hätte er dennoch Angst, das Nighton hinter ihm stehen könnte. Mit gesenkter Stimme fügte er hinzu: »Aber er – er ist so – ich meine, denk mal an vorhin, als er sich verwandelt hat! Am Ende – ach, ich weiß auch nicht. Und dieser Blick!«
Ein Schnauben entwich mir, dann behauptete ich überzeugt: »Er guckt immer so, das hat gar nichts zu heißen. Außerdem kann ich viel finsterer gucken.« Ich schloss den Schrank mit dem Fuß und öffnete die Tür. Da stand plötzlich Anna im Flur und hatte ihren süßesten Hundeblick aufgesetzt.
»Kann ich auch mitkommen?«
Ich stöhnte: »Leute, das ist kein Familienausflug!«
Doch das schien Anna anders zu sehen. Freudig rief sie: »Ich frage ihn. Und wenn er ja sagt, musst du auch ja sagen!«
»Anna!« Ich versuchte meine Schwester noch zu stoppen, aber die fegte bereits den Flur entlang. Genervt folgte ich ihr und bekam noch mit, wie meine Schwester auf einen ziemlich unvorbereiteten Nighton zuraste, der im Eingangsbereich auf dem Fußbänkchen saß, etwas an seinem Handy machte und wohl auf mich zu warten schien.
Anna machte eine Vollbremsung neben ihm. Nighton schaute ihr überrascht entgegen. Anna war so aufgedreht, dass er zuerst gar nicht verstand, was sie ihm im Schwall entgegenwarf, doch als sie ihr Anliegen beim dritten Mal etwas deutlicher formulierte, begriff er und wiegte überlegend den Kopf hin und her.
»Ach, weißt du, ich glaube nicht, dass du mitkommen willst. Jennifer schaut sich bloß ein Haus an und trifft ein paar ihrer langweiligen Freunde, und auch sonst gibt es da eigentlich nicht viel zu sehen«, versuchte er ihr unser Vorhaben madig zu machen. Wieder musste ich feststellen, dass er gar nicht gemein zu Anna war. Das hatte mich gestern schon gewundert. Immerhin hasste er Kinder. Vielleicht riss er sich aber auch nur zusammen, weil sie meine Schwester war und er bei mir Gutwetter machen wollte?
Meine Schwester winkte nicht im Geringsten beeindruckt ab und beteuerte: »Aber das macht doch nichts, ich komme auch so gerne mit!«
Inzwischen war ich bei den beiden angekommen, und auch Thomas quetschte sich hinter mir vorbei, um seine Schuhe anzuziehen.
Nighton legte den Kopf schief und gab zu bedenken: »Nicht, dass du nachher enttäuscht bist. Es wird todlangweilig. Wenn ich nur dran denke, könnte ich einschlafen.« Er lächelte meine Schwester sanft an, im Irrglauben sie zu täuschen, aber Anna war ein schlaues Aas.
Sie musterte Nighton kurz, drehte sich ruckartig zu mir um, antwortete ganz entschieden: »Nein!« und schüttelte, um ihre Aussage zu unterstreichen, dabei so energisch ihren Kopf, dass ihr blonder Zopf schwungvoll hin und her peitschte.
»Wenn es wirklich so langweilig ist, dann kann ich euch doch da nicht allein hingehen lassen«, verkündete sie und klang dabei ehrlich mitfühlend.
Ich beschloss einzugreifen.
»Hör mal, Annie, ich habe meine Freunde lange nicht gesehen und Nighton und ich müssen noch über einiges reden, was nicht für deine Ohren bestimmt ist. Es geht nicht, tut mir leid.«
Anna verschränkte ihre Arme und setzte ihr Schmollgesicht auf.
»Ihr seid gemein«, presste sie hervor, ehe sie davon stampfte.
Als sie außer Hörweite war, brachte ich Nighton Tommys Bitte vor. Der stand breit grinsend wie ein Honigkuchenpferd in seinen ausgetretenen Schlabberschuhen und einem Powerwolf-Shirt neben der Haustür und war aufgeregter als ein Kind an Weihnachten. So kannte ich Thomas gar nicht.
Nighton sah zu ihm und wollte wohl etwas sagen, da holte der tief Luft und stieß hervor: »Ich bin voll der Fan, Mann!«
Ich rieb mir über das Gesicht. Meine gesamte Familie blamierte mich heute.
Ob Thomas noch so ein großer Fan wäre, wenn er wüsste, was Nighton alles getan hatte?
Nighton musterte Thomas kurz und erwiderte verdutzt: »Aha. Nett. Schön, dass du so fasziniert von allem bist, aber - ich weiß nicht, also, ach, na gut, was soll‘s, zur Not lösche ich dein Gedächtnis.«
Tommy riss die Augen auf, machte einen Schritt rückwärts und stieß hervor: »Mein Gedächtnis? Du kannst ein Gedächtnis löschen?«
»Kann er. Ist nicht so beeindruckend, wie es klingt. Eigentlich ist es eine ziemlich beschissene Fähigkeit, frag mal mich, was er mich alles hat vergessen lassen«, funkte ich dazwischen und warf Nighton einen giftigen Blick zu.
Der ignorierte meinen Einwurf und zuckte mit den Schultern.
»Habe ich bei dir auch schon oft genug gemacht«, behauptete er im Vorbeigehen in Thomas Richtung, der etwas bleich um die Nase wurde und sich dann beeilte, uns zu folgen.
Wir liefen zu dritt durch den Hyde Park. Es war inzwischen bombenheiß draußen. Ich bereute bereits, eine Jeans angezogen zu haben und auch Tommy tat mir leid, weil er ziemlich schwitzte.
»Okay, Thomas«, begann Nighton.
Er blieb unter ein paar Fichten an derselben Stelle wie Sam und ich ein paar Tage zuvor stehen und wandte sich meinem Bruder zu, der sich stocksteif machte und Nighton ein wenig besorgt anblickte. Der gab ein Seufzen von sich.
»Jetzt komm runter, ich tue dir nichts und dein Gedächtnis lösche ich auch nicht, das war ein Scherz.«
»Ach so«, murmelte Tommy und entspannte sich.
»Da du dich noch nie woanders hin transferiert hast, bleib jetzt bitte einfach ruhig, denn wir werden uns jetzt teleportieren.«
Thomas erstickte fast vor Begeisterung und quietschte mehrere Oktaven höher als sonst: »Wie in einem PC-Spiel?!«
Ich konnte es hinter Nightons Stirn rattern sehen. Ich überlegte schon hin und her, wie ich ihn von meinem ekstatischen Bruder ablenken könnte, da brabbelte der einfach weiter und griff sogar nach Nightons Arm.
»Sag mal, kriege ich auch eine Waffe, wenn wir da sind? Ein echtes Schwert? Ich würde mir gern eins übers Bett hängen!« Thomas klatschte die Hände zusammen und schaute begierig zu dem zehn Zentimeter größeren Nighton, der sich losmachte und tief durchatmete. Dann zeigte er auf eine nahestehende Bank und schlug vor: »Wie wäre es, wenn du da kurz warten würdest, bis ich hier ein paar Dinge eingerichtet habe, hm?«
»Ja klar, aber sofort! Hach, bin ich aufgeregt!«
Mein Bruder hüpfte fast davon. Kopfschüttelnd sah ich ihm hinterher. Nighton wartete, bis Thomas sich auf die zehn Meter weit entfernte Parkbank gelümmelt hatte und warf mir dann einen entschuldigenden Blick zu. Den Grund für den Blick sollte ich postwendend erfahren, denn Nighton stand plötzlich vor meinem Bruder, der gar keine Zeit hatte, sich zu erschrecken. Er drückte ihm fünf Fingerspitzen gegen die Stirn.
Mit leerem Blick schlief Tommy ein. Ärgerlich kam ich nähergestapft. »War das wirklich nötig?«, wollte ich von Nighton wissen und betrachtete meinen dösenden Bruder.
»Allerdings. Er hat mich wahnsinnig gemacht«, erklärte Nighton mit leidender Stimme und ging wieder zurück zu der Stelle, wo wir bis eben noch zu dritt gestanden hatten.
»Typisch, dass du es dir wieder leichtmachst.«
Ich erhielt einen schuldbewussten Blick. Nighton wies auf meinen Bruder und versprach reumütig: »Tut mir leid, so sollte es nicht wirken. Und ich habe gerade keine Geduld für ihn und seine Fragerei. Wir nehmen ihn ein andern Mal mit.«
Ich knurrte nur. Nighton fügte hinzu: »Mach dir keine Sorgen, er wird in wenigen Minuten aufwachen und sich an nichts mehr erinnern.«
»Ich weiß, wie das abläuft!«
»Gut. Dann konzentrieren wir uns auf das Wesentliche. Darf ich bitten?« Er hielt mir vorsichtig lächelnd seine Hand hin. Für einen Moment schaute ich auf seine Finger, ehe ich zu ihm hochschielte. Dann zog ich eine Grimasse und reichte ihm meine Hand, die er umfasste. In der nächsten Sekunde spürte ich den Teleportationssog und schloss die Augen. Und tatsächlich, diesmal ging der Kelch der Übelkeit an mir vorbei. Dennoch sollte ich nicht viel Zeit bekommen, mich an die neue Umgebung zu gewöhnen, denn sobald Nighton und ich auf dem kiesbestreuten Vorplatz des Hauses gelandet waren, erschien ein braidstragender Blitz.
»JENNIFER!«
Plötzlich befand ich mich eingehüllt in einem Wirrwarr aus lauter Haaren, die mir in Augen, Mund und Nase gerieten. Arme schlangen sich um mich.
»Habe ich da gerade den Namen Jennifer gehört?! Aus dem Weg, Pennsie!«
Jemand zerrte das dunkelhaarige Etwas aus meinem Gesicht und dann befand ich mich in einer anderen, überraschend festen und nach Parfüm riechenden Umarmung. Ich war so perplex, dass ich sogar vergaß, dass ich nachtragend war.
»Ich habe euch auch vermisst, Leute, aber ihr - ihr erdrückt mich!«
Ein Ächzen entwich mir. Erst, als Evelyn mich von sich schob, konnte ich wieder richtig atmen. Ich schickte ihr ein säuerliches Lächeln, das sie mit einem ungewohnt fröhlichen Grinsen quittierte. Penny neben ihr strahlte mich so glücklich an, dass man meinen könnte, sie hätte etwas gewonnen. Und auf einmal war es, als wäre mein Ärger verpufft. Ich lachte zurück und als Penny mich erneut umarmte, diesmal sanfter, fühlte auch ich mich ein bisschen glücklich. Ich schloss sogar kurz die Augen und lächelte breit.
Im Hintergrund kam Sam angelaufen. Er trug ein ausgesprochen scheußliches Hawaiihemd und nickte Nighton zu, was der stumm erwiderte.
Da boxte Evelyn mir gegen den Arm und spottete: »Wo kommen diese hässlichen Schürfwunden her? Hast du mal wieder nicht aufgepasst?«
Ich löste mich von Penny und erwiderte zynisch: »Ich habe dich auch vermisst, dumme Kuh. Und nein, ich bin natürlich absichtlich hingefallen, was denkst du denn?«
Nighton schloss zu uns auf und schob die Hände in die Hosentaschen. An die anderen gewandt erkundigte er sich: »War etwas während meiner Abwesenheit?«
»Nö«, antwortete Penny und ließ zu, dass Sam ihr ein Insekt aus den Haaren zog. Dabei unterdrückte sie ein aufgeregtes Lächeln, wie ich bemerkte. Dann korrigierte sie: »Bis auf die Ankunft von Namilé und Ashila, die haben dich nämlich gesucht. Michael war auch kurz vorhin da, aber er wollte nur die Teleportplatte checken. Melvyn und Nivia sind gerade auf Patrouille im Wald und überprüfen die Fallen für den Sarkreth. Oh, und Oberste Isara hat nach dir gerufen. Irgendwas wegen Dämonen in der Themse. Da klauen scheinbar welche zurzeit unschuldige Badegäste.«
»Bist du jetzt seine Sekretärin, oder was?«, fragte Evelyn verächtlich an Penny gewandt.
Sam legte Penny beschützend einen Arm um die Schultern und forderte: »Verspritz‘ dein Gift doch ausnahmsweise mal in die Richtung von Melvyn, oder so.«
Evelyn schüttelte den Kopf und erklärte missmutig: »Nein, das geht nicht, den muss ich mir noch ein wenig warmhalten. Wenigstens die Woche über will ich nett zu ihm sein.«
Sam machte große Augen und schaute angewidert drein, ehe er ihr vorwarf: »Du gehst mit diesem Bucky-Barnes-Verschnitt in die Kiste?«
Evelyn runzelte die Stirn. »Bucky-wer?«
Sam stöhnte über so viel Unwissen und erklärte, dass das eine Comicfigur sei. Evelyn schaute genervt drein, warf beide Arme in die Luft und rief, ohne auf Sams Vergleich einzugehen: »Ja, und? Hier hüpft doch jeder mit jedem irgendwann in die Kiste. Ist nur eine Frage der Zeit, bis du Penny besteigst und bis Nighton Jennif…-«
»Evelyn – noch ein Wort und das Nächste, in das du hüpfst, wird dein Sarg sein!«, unterbrach Nighton Evelyn gereizt, der nun endlich zu Wort kam. Die machte ein abfälliges Geräusch und kommentierte direkt: »Hat dir eigentlich mal jemand gesagt, wie unausstehlich du seit deinem Aufstieg geworden bist?«
Bei ihren Worten kehrte unangenehme Stille ein. Alle sahen zu mir. Ich gab mir Mühe, keine Miene zu verziehen. Evelyn hingegen setzte eine bedröppelte Miene auf und murmelte etwas von einem ‚blöden Timing‘.
Nighton schnaubte und behauptete drohend, womit er das Schweigen beendete: »Du hast mich noch nie wirklich unausstehlich erlebt.«
Da schaltete sich Penny ein, bevor Evelyn noch auf Nightons Worte einsteigen konnte. Sie räusperte sich und klatschte in die Hände. Gezwungen enthusiastisch rief sie an mich gewandt: »Was hältst du davon, wenn wir dich nächste Woche mal abholen und dann unternehmen wir etwas zusammen? Evie und ich müssen jetzt zu den Seraph nach Oberstadt.«
Ich öffnete schon den Mund, doch da stiefelten Penny und Evelyn einfach los. Letztere winkte mir noch halbherzig. Nun stand ich allein da mit Sam und Nighton, die bereits in Richtung der Haustür steuerten.
»Kommst du, Jen?«, rief Sam mir zu. Nighton war bereits im Haus verschwunden. Ich nickte langsam.
Ich wusste gar nicht, was ich fühlen sollte. Einerseits freute ich mich, Penny und Evelyn wiedergesehen zu haben, andererseits war ich wütend und verletzt, hatte das aber nicht zeigen können. Und dann hatten die beiden mich trotz allem einfach so stehen gelassen? Kurz verharrte ich an Ort und Stelle, ehe ich mich langsam zu Sam umdrehte. So hatte ich mir das Aufeinandertreffen mit Penny und Evelyn nicht vorgestellt. Irgendwie fühlte ich mich kaum wertgeschätzt, eher wie eine Nachbarin, der man im Vorbeigehen ein Hallo zuwirft.
Aber gut, darüber konnte ich mir auch noch später den Kopf zerbrechen. Jetzt würde ich mich rein mit dem beschäftigen, das Siwe mir hinterlassen hatte.