Ich kann nicht wirklich behaupten, dass der Abend besonders schön war. Mein Dad kam von seinem Treffen mit irgendwelchen wichtigen Verlagsmenschen ziemlich spät erst nach Hause und erzählte, dass die halbe Innenstadt aufgrund einer Hyänenhorde lahmgelegt worden war, die angeblich aus dem London Zoo ausgebrochen wäre. Da ich die wahren Hintergründe dieser Lahmlegung kannte und mir sicher war, dass es nicht an Hyänen lag, wunderte ich mich enorm, und zwar darüber, wie dieses Gerücht entstanden war und wer es gestreut hatte. In meinen Ohren klang das nämlich, als würde jemand den Angriff des Dämons vertuschen wollen. Immerhin hatten ihn eine Menge Menschen mit ihren eigenen Augen gesehen. Aber wer besaß so eine Macht über die Medien oder die Gedächtnisse der Menschen, dass nicht einmal ein Fetzen aus Misstrauen durch die Bevölkerung schwappte? Die Engel? Nein, das war unwahrscheinlich. Doch nicht etwa wieder Miss Dawes, die damals auch dafür gesorgt hatte, dass mein Lauf quer durch London von der Bildfläche verschwand? Nein, auch das konnte ich mir nicht vorstellen. Also wer war nur dafür verantwortlich? Diese Frage wollte mir nicht aus dem Kopf gehen, genau wie die, warum mich der Chvelargoth gejagt hatte. Zwar war ich mir nicht hundertprozentig sicher, dass er wirklich mich gewollt hatte, denn Sam war genauso da gewesen und hatte neben mir gestanden, aber es würde zusammenpassen. Die Ghule letzte Woche waren ja auch in meiner unmittelbaren Nähe aufgetaucht und mir hinterhergerannt und nicht Sam. Nur warf diese Überlegung direkt die nächsten Fragen auf: Warum ich? Warum jetzt? Was war an mir so besonders, dass mich unbeseelte Dämonen verfolgten?
Meinem Dad fiel meine Grübelei beim Abendessen natürlich auf. Auch Thomas entging es nicht. Die beiden hatten sich einen vielsagenden Blick zugeworfen und dann aus dem Nichts heraus wissen wollen, ob es wirklich Hyänen gewesen seien oder doch etwas ganz anderes. Tatsächlich hatten die beiden meine Versunkenheit gar nicht falsch eingeschätzt. Zwar kreiste ein Großteil meiner Gedanken wie üblich auch um ein gewisses Paar grüner Augen, doch mit ihrer Frage hatten mein Bruder und mein Vater mich aus meinem Trott gerissen. Ich hatte den Kopf gehoben und zwischen den beiden hin- und hergesehen, unsicher, ob ich ihnen noch mehr zumuten konnte. Immerhin hatte Dad die Nachricht, dass ich neuerdings Hausbesitzerin war, mit Schrecken und Unverständnis aufgenommen und mir gar nicht glauben wollen. Schließlich entschied ich mich trotzdem dazu, ihnen die Wahrheit über den Dämonenangriff zu erzählen. Auch meine Vermutung, dass die Kreatur aus der Hölle mich gewollt hatte, äußerte ich. Mein Dad hatte mich nach meiner Erklärung angestarrt, als wäre mir ein zweiter Kopf gewachsen.
»Was man da machen könnte«, hatte er nach Sekunden des angespannten Schweigens gefragt. Daraufhin hatte ich gelacht und geantwortet, dass da nichts zu machen sei und es erst enden würde, wenn der Dämon tot sein oder die Quelle gefunden werden würde, die für die Angriffe verantwortlich sei. Wenn es überhaupt eine gäbe. Damit war die Stimmung des Abends restlos erledigt. Anna verstand die schlechte Laune nicht und schaute verwundert umher, und dann meinte sie auch noch, fallenlassen zu müssen, dass Nighton heute hier gewesen war und ihr bei ihren Hausaufgaben geholfen hatte. Dafür hätte ich sie am liebsten am Hinterkopf ergriffen und vornüber in die Curry-Suppe getunkt.
Die Besorgnis meines Dads war nämlich in Wut umgeschwungen. Glühend heiße Wut. Er hatte so sehr herumgebrüllt, dass sein Gesicht puterrot geworden war. Ich hatte mehrfach zu erklären versucht, wieso Nighton in unserer Wohnung gewesen war, doch Dad war verbal überhaupt nicht mehr erreichbar gewesen. Nicht mal Thomas war im Stande gewesen, ihn zu beruhigen oder sein Geschrei zu unterbrechen. Am Ende seiner Tirade war mein Vater schimpfend aufgesprungen, hatte seine Serviette auf den Tisch geschleudert und mir mit erhobenem Zeigefinger verboten, den Saftsack, nein, den Halunken, nein, das Scheusal je wiederzusehen. Dann war er wie ein wütender Stier aus der Küche gestürmt und wir hatten seine Schlafzimmertür zuknallen hören.
Sobald der Schall des Knalls verklungen gewesen war, hatten Thomas und ich unsere strafenden Blicke zeitgleich Anna zugewandt, die nur den Kopf eingezogen hatte.
Damit war der Freitagabend natürlich gelaufen. Da hatte ich noch nicht ahnen können, dass die größte Eskalation noch bevorstand.
Am nächsten Morgen stand ich gegen zehn auf. Die ganze Nacht hatte ich kaum ein Auge zugetan, was einerseits an dem Dämonenangriff und andererseits an Nighton lag, den ich heute wiedersehen würde.
Ich wollte mich gerade anziehen, da ging das Fenster in meinem Rücken auf. Erschrocken fuhr ich herum. Für eine Sekunde hegte ich die irrsinnige Befürchtung, es könnte Selene sein. Wie ich darauf kam? Keine Ahnung.
Aber es war Nighton, der im Gegensatz zu Sam wusste, wie er das Fenster von außen aufzustemmen hatte. Er hievte sich geschickt auf das Fensterbrett und kletterte in mein Zimmer hinein. Eine Wand seines Geruchs schlug mir entgegen und hätte mich beinahe an die gegenüberliegende Zimmerwand geweht. Kurz war ich versucht zu schnuppern, nur wäre das auffällig gewesen. Also hielt ich einfach die Luft an, Nighton beobachtend. Der setzte sich, ohne ein Wort zu sagen, auf das Fensterbrett und schaute zu mir.
»Beinahe wie in alten Zeiten«, murmelte er plötzlich aus heiterem Himmel und lachte in sich hinein. Ich warf ihm einen stechenden Blick zu und drückte das Bündel Kleidung an mich.
»Bis auf ein paar nebensächliche Details«, kommentierte ich, ehe ich das Thema wechselte und ernst anmerkte: »Es wäre besser gewesen, du wärst nicht reingekommen. Mein Dad hat einen ziemlichen Hals auf dich und wenn er merkt, dass du...-«
»Jennifer? Ist da jemand bei dir im Zimmer?!«
Scheiße. Mein Dad! Oh Mist, das durfte doch nicht wahr sein!
Panisch schnappte ich nach Luft und ließ alles fallen, nur um auf Nighton zuzustürzen. Der wirkte sichtlich irritiert über meine Reaktion, erst recht, als ich mit aller Macht gegen seinen Brustkorb drückte, um ihn durch das Fenster aus meinem Zimmer raus zu bekommen. Nur war das, als würde ich mich gegen eine Wand stemmen. Nighton, der scheinbar gar nicht verstehen konnte, weshalb ich so eine Panik schob, bewegte sich nämlich kein Stück. Erst, als ich verzweifelt flehte: »Schnell, du musst raus hier, bevor mein Dad dich sieht!«, stand er auf, doch da war es schon zu spät.
Meine Zimmertür wurde aufgestoßen. In derselben Sekunde ereilte mich ein Déjà-Vu: Letztes Jahr, fast zur selben Zeit, hatte ich schon einmal zwischen Nighton und meinem Dad gestanden. Nur war Letzterer damals betrunken und ich noch unwissend über mein Schicksal gewesen. Und ich hatte mir zum ersten Mal in meinem Leben eine gefangen.
Mein Dad schien dasselbe zu denken. Sein Blick ruckte zwischen mir und Nighton hin und her, an den ich ziemlich dicht gedrängt stand. Sofort machte ich, dass ich Abstand zu ihm bekam, doch da legte mein Vater bereits los.
Er brüllte, mit der Faust fuchtelnd: »Ich sehe wohl nicht richtig! Jennifer Megan Ascot, ich habe dir doch erst gestern verboten, dass du dich auf diesen - diesen Vagabund einlässt! Was ist hier los? Was wollen Sie? Und wie sind Sie überhaupt reingekommen?!«
»Dad, stopp, ich kann das erkl...-« Doch mein Vater dachte gar nicht daran, mit dem Schreien aufzuhören. Hinter ihm ging die Tür zu Thomas' Zimmer auf, der ziemlich verschlafen wirkend auf den Flur trat. Auch Anna kam aus ihrem Zimmer getrottet. Dad nahm von beiden keine Notiz, sondern fiel mir einfach ins Wort, sich weiterhin an Nighton wendend.
»Sie sagen mir jetzt sofort, was Sie mit meinem Kind angestellt haben! Welche Flausen haben Sie ihr über irgendein Oberland und Untergasse eingeredet, oder wie das heißt?! Was erlauben Sie sich überhaupt, einen derartigen Unfrieden in diese Familie zu bringen und sogar meinen Sohn und meine Jüngste da hineinzuziehen?! Sie haben unter dem Fenster von ihr - Jennifer, jetzt geh endlich weg von ihm! Sie haben unter ihrem Fenster gestanden und sie beobachtet, Sie widerlicher Perversling und jetzt - jetzt ist sie verrückt geworden und muss das mit ausgedachten Geschichten ausgleichen, was Sie ihr angetan haben! Wozu sonst noch haben Sie sie genötigt? Sexuellen Gefälligkeiten?! Ja, das - das ist das Stockholmsyndrom, das muss es einfach sein, deshalb redest du noch mit ihm!«
Also mit so einem Ausbruch hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Mein Bruder offensichtlich auch nicht. Der starrte erst Dad und dann mich an, langsam den Kopf schüttelnd.
Dabei hatte ich es Dad doch vor ein paar Wochen haarklein erklärt und auch den Eindruck gehabt, dass er es verstanden und mir geglaubt hatte. Hatte er etwa die ganze Zeit über gedacht, das wäre irgendeine posttraumatische Belastungsreaktion von mir, oder wie? Und wie hatte er sich dann bitte den Teleport erklärt, den Nighton mit mir am Sonntag vollzogen hatte? Als Hirngespinst?
»Dad!«, protestierte ich mit hochrotem Kopf. Die ganze Situation war mir unfassbar unangenehm. »Ich habe mir das alles nicht ausgedacht, das weißt du! Und Thomas hat es doch auch bezeugt!«
Mein Dad wurde immer aufgeregter. Nighton hingegen blieb absolut ruhig. Die einzige Reaktion, die er während der Tirade meines Vaters von sich gab, war langsam zu mir nach unten zu schauen und mir einen merkwürdig missmutigen Blick zu schicken, der seinen Unmut ausdrückte. Zum ersten Mal, seit er wieder in mein Leben getreten war, war ich nun diejenige, die den Kopf einzog.
Thomas näherte sich von hinten und versuchte, unseren Vater irgendwie auszubremsen, der sich in den nächsten Minuten in noch mehr abstrakte Theorien verstrickte und Nighton weiter anschrie. Schließlich unterbrach der meinen Dad mit erhobener Stimme: »Mr. Ascot, darf ich auch etwas zu Ihren Vorwürfen sagen?«
Mein Vater, dem inzwischen schon Schweißperlen auf der Stirn standen, hielt inne und schaute Nighton überrascht an.
»Sie-«
Nighton wandte sich an Thomas und bat: »Hol ihm einen Stuhl aus der Küche, Thomas.«
Mein Bruder zuckte zusammen, als Nighton ihn einfach so ansprach. Er stolperte beinahe über seine eigenen Füße, als er, ohne es zu hinterfragen, in die Küche lief und einen Stuhl holte.
Mein Vater riss den Mund auf, aber Nighton redete einfach mit erhobener Stimme weiter.
»Ich kann nachvollziehen, dass Sie mich nicht mögen, aber ich versichere Ihnen, dass ich weder Ihrer Tochter noch sonst jemandem aus Ihrer Familie schaden wollte.«
Lügenpresse, dachte ich.
»Ich lasse mich doch nicht von Ihnen-«
Nighton machte eine harsche Handbewegung und fiel meinem Dad abermals ins Wort. »Halt, ich bin dran. Ihre Tochter hat Sie nicht belogen, in keiner Hinsicht. Und ja, ich habe unter ihrem Fenster gestanden, jahrelang, und auf sie geachtet, weil es auf dieser Welt Dinge gibt, die Sie nicht verstehen können, weil Sie ein Mensch sind und nie in Kontakt mit anderen Kräften gekommen sind. Aber Jennifer-«, er sah zu mir, »- war früher kein Mensch. Jetzt ist sie einer, aber auch an ihr haftet immer noch das Übernatürliche, nur können Sie es nicht sehen, Mr. Ascot. Meinesgleichen hingegen können es spüren, und das bedeutet, dass sie zu einem gewissen Anteil immer noch in unsere Welt gehört. Und ich bin hier, weil der Angriff gestern ihr galt und ich herausfinden will und muss, was dahintersteckt.«
Mein Vater schnaufte vor Zorn und drohte: »Sie sind ja vollkommen verrückt geworden. Sie gehören in eine Klinik, oder nein, in ein Gefängnis, Sie Verbrecher! Ich rufe jetzt die Polizei, und davon wird mich hier keiner abhalten diesmal!«
»DAD!«
Nighton hob die Hand und befahl mit einem richtigen Kommandoton in meine Richtung: »Ruhe. Schauen Sie mir ins Gesicht, James, und sagen Sie mir noch einmal, dass ich verrückt bin.«
Ich wusste, was er vorhatte. Zumindest glaubte ich, es zu wissen. Dennoch fragte ich mich, wie er das anstellen wollte.
Dad wollte herumfahren, um seine Drohung in die Tat umzusetzen, doch da griff Nighton plötzlich nach meiner Schulter. In der nächsten Sekunde setzte vor den ungläubig geweiteten Augen meines Vaters Nightons Verwandlung in einen waschechten Yindarin ein. Auch ich bekam sie zum ersten Mal zu Gesicht. Er hatte doch gesagt, er könne nicht auf Sekeera zurückgreifen? Aber wie machte er es dann? Mein Blick zuckte für eine Millisekunde zu seiner Hand, die auf meiner Schulter lag. Ein Gedanke keimte in meinem Kopf. Etwa, indem er Körperkontakt zu mir herstellte? Weil ich vorher Sekeeras Wirt gewesen war?
Nighton wuchs mehrere Zentimeter in die Höhe, sodass er sich tief ducken müsste, wenn er durch die Tür hätte gehen wollen. Eine klar definierte, gruselig erscheinende Knochenstruktur flackerte an seinem Kiefer hervor und schimmerte leicht vor sich hin. Schwarze Farbe wanderte seinen Hals hinab und verteilte sich in den Adern seines Körpers. Zudem wurden seine Augen von intensiv grauem Licht nur so aufgefressen. Ich musste das Gesicht abwenden, da eine Hitzewand mit Nightons Verwandlung einherging.
Mein Dad griff sich ans Herz und schaute wie vom Donner gerührt an Nighton hoch und runter. Der reckte seinen Hals ein wenig, als bereite es ihm Probleme, die Oberhand über Sekeera zu behalten, was mir zur allzu bekannt vorkam. Fasziniert betrachtete ich ihn dabei. Es war, als würde ich mir selbst ins Gesicht blicken.
Er schien den kleinen inneren Kampf zu gewinnen, denn im nächsten Moment ließ er mich los, nahm seine gewohnte Gestalt an und machte einen kleinen Schritt auf meinen Dad zu, der zwei Schritte zurückwich.
»Ja, das haben Sie gerade wirklich gesehen und nein, Sie sind nicht verrückt«, versicherte er meinem Vater mit einem beruhigenden Unterton, der nur mit nach wie vor hervorquellenden Augen krampfhaft schluckte und sich an der Stuhllehne festhielt, auf den er sich auch kurz darauf sinken ließ. Deswegen hatte Nighton also gewollt, dass Thomas den Stuhl herbeiholte.
Ein paar Momente lang starrte Dad einfach so auf seine Hände, dann murmelte er: »Ich kann das alles nicht glauben. Du sollst so ein Ding gewesen sein?« Das ging an mich, das wusste ich, obwohl er mich nicht ansah.
Ich ging zu ihm, kniete mich vor ihm hin und ergriff seine Hände, ehe ich leise sagte: »Ja. Ich habe dich nicht belogen, Dad. Das musst du doch jetzt einsehen.«
Er strich sich fahrig über die Stirn und stöhnte: »Ich wollte es wohl nicht wahrhaben. Nicht einmal dein Verschwinden am Sonntag - ich brauche jetzt einen Kaffee. Einen sehr starken Kaffee.«
Langsam stand Dad auf und schlurfte mit hängenden Schultern davon. Kurz vor der Küche blieb er aber noch einmal stehen und schaute zu Nighton.
»Wollen Sie auch einen?«
Nighton schwieg für einen Moment, ehe er, nun deutlich unsicherer als zuvor wirkend, mit den Schultern zuckte. Selbst mich überraschte das. Aber wenn mein Vater sowas anbot, war er wohl offensichtlich nicht mehr wütend.