»Meine Mutter war Britin, aber mein menschlicher Vater kam aus Norwegen, ja. Von ihm habe ich die Größe.« Von der Seite konnte ich sehen, wie sein Blick weicher wurde, und ein kleines Lächeln schlich sich auf seine Lippen. »Meine Großmutter väterlicherseits sagte immer scherzhaft, ich hätte Riesenblut, weil ich nicht aufhörte, zu wachsen. Als kleiner Junge hört man so etwas gern. Die ganzen Geschichten von Freya, Thor und den Eisriesen, du weißt schon. Das hat irgendwie gepasst. Ich hab's jedenfalls geliebt.«
Ich betrachtete sein Profil und wusste zuerst gar nicht, wie ich reagieren sollte. Es war selten, dass Nighton über sich selbst sprach, und noch seltener, dass er dabei lächelte.
»Dabei war ich nicht mal der Größte im Dorf«, fuhr er fort, jetzt mit einem breiteren Grinsen. »Es gab welche, die noch hochgeschossener waren als ich. Und ich war nicht nur groß, sondern auch noch dürr wie eine Bohnenstange. Und schüchtern, das kannst du dir nicht vorstellen.«
Ich schnaubte auf. Nein, das konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen, dass dieser gut gebaute und so selbstbewusste Mann jemals dürr oder schüchtern gewesen sein sollte.
Sein Grinsen verblasste jedoch, als er weitersprach. »Zumindest war ich das bis zu meinem achtzehnten Geburtstag.«
Nighton wurde still. Der leichte Humor war mit einem Mal aus seinem Gesicht verschwunden. Er starrte auf die Wand vor uns und seine Schultern strafften sich unmerklich. »Denn da … kam die Auferstehung. Du erinnerst dich bestimmt an deine eigene. Das Wesen, das in deinem Körper erwacht, verändert dich. Es formt dich. Passt dich an sich an.« Er sprach mit einer kalten, sachlichen Stimme, als würde das alles nichts für ihn bedeuten. »Einige von uns ändern sich radikaler als andere. Manche werden größer, stärker, das Fleisch formt sich neu. Ich habe nicht viel dafür getan, so auszusehen. Das Wesen in mir, mein Dämon, hat das übernommen.«
»Das war sicher schlimm für dich«, brachte ich hervor. Ich spürte, dass etwas Dunkles in der Luft lag, wie eine unsichtbare Spannung, die den Raum erfüllte. »Wie hat dein Dad reagiert?«
Die Temperatur um Nighton herum schien plötzlich zu fallen. Sein Gesicht wurde steinhart. Er antwortete: »Ich habe ihn getötet.«
Es war ein kalter, harter Satz. Kein Zögern, keine Reue. Für einen Moment wusste ich nicht, ob ich weiterfragen sollte. Aber die nächste Frage steckte schon in meinem Hals fest.
»Und dein Sohn?« Die Worte waren kaum draußen, als ich merkte, wie die Luft im Raum sich abermals veränderte. Nighton erstarrte. Sein Körper wurde so starr, dass ich das Gefühl hatte, jede Bewegung, jedes Atemholen könnte eine Lawine auslösen. Seine Kiefermuskeln spannten sich an, die Nasenflügel bebten, und seine Lider zuckten unruhig. Die Hand, die eben noch locker auf meiner Schulter geruht hatte, ballte sich langsam zur Faust.
Dann sah er zu mir runter, als würde es ihn Überwindung kosten. In seinen Augen brannte ein Feuer, das ich nicht beschreiben konnte. Es war eine Mischung aus unaussprechlichem Schmerz, roher Wut und ... etwas Dunklerem, etwas, das tief unter der Oberfläche lauerte und nur selten herausbrach.
»Woher weißt du von meinem Sohn? Etwa auch von diesem Mensch?«, wollte er mit unterdrücktem Zorn wissen. Ein kalter Schauder lief mir über den Rücken, und auf einmal bereute ich es, das Thema angeschnitten zu haben. Ich schluckte, fühlte den Kloß in meinem Hals, der mir fast die Luft abschnürte. »J-ja«, presste ich hervor und schaute auf den Deckensaum, unfähig, seinem bohrenden Blick standzuhalten.
Die Stille, die folgte, war quälend. Es war, als hätte die Zeit selbst angehalten, als würde jedes Geräusch der Welt in diesem Moment verstummen. Ich wagte nicht, weiterzusprechen, auch wenn tausend Fragen in meinem Kopf umherwirbelten, ungesagt und drängend. Da nahm Nighton seinen Arm von meiner Schulter und lehnte sich vor. Ich erschrak ein wenig, da ich damit nicht gerechnet hatte, und weil es mich immens verunsicherte. War er jetzt sauer?
Nach wenigen Sekunden jedoch begann er zu reden. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, da er vorgebeugt dasaß, doch ich hörte ihn gut. Er klang nicht mehr wütend, aber dafür kalt, distanziert – so, als hätte er vor langer Zeit aufgehört, traurig zu sein.
»In der Nacht, als ich achtzehn wurde und zum Dämon aufstieg, war ich wütender als je zuvor. Mein Vater und ich hatten uns abends gestritten. Es ging um Signe, die Mutter meines Sohnes.« Seine Stimme wurde härter, und ich spürte, wie die Kälte in seinem Ton tief in mich eindrang. »Ihre Familie besaß eine Reederei und hielt mich für unpassend, weil ich nicht ihrem Stand entsprach. Als die Schwangerschaft rauskam, verlor mein Vater seine Anstellung bei ihnen, was er mir nie verziehen hat. Die Familie von Signe sorgte sich so sehr um ihren gesellschaftlichen Ruf, dass sie sie zu Verwandten schickten, um die Schwangerschaft geheimzuhalten. Nach der Geburt kam Signe zurück, und ihre Eltern gaben das Kind - unser Kind - als ihr eigenes aus. Ein Jahr lang haben sie und ich das mitgemacht.«
Er hielt inne, und ich konnte sehen, wie seine Hand leicht zitterte, als er sich über das Kinn rieb, als wollte er die Erinnerungen aus seinem Kopf vertreiben. Aber sie schienen zu stark, zu tief eingebrannt.
»In diesem Jahr haben Signe und ich uns heimlich getroffen und Pläne geschmiedet, wie wir zuammen mit unserem Sohn ein neues Leben beginnen könnten. An diesem Abend, nach dem heftigen Streit mit meinem Vater, war der Moment gekommen. Ich ging los, um Signe zu suchen. Ich wollte mit ihr abhauen, irgendwohin, Hauptsache weg. Es klang damals so einfach, so klar.« Ein bitteres Lächeln huschte über sein Gesicht, bevor es verschwand, als hätte es nie existiert. »Aber als ich bei ihrem Haus ankam, fand ich nur ihre Eltern vor. Sie wussten nicht, wo Signe mit dem Jungen hingegangen war. Also habe ich sie überall gesucht. Und schließlich fand ich sie.« Seine Stimme senkte sich zu einem Flüstern, und das machte mir mehr Angst als jeder Schrei.
»In der Scheune ihres Elternhauses, auf dem Dachboden, hatte sie sich erhängt. Der Druck, den ihre Eltern auf sie ausgeübt hatten, wird sie dazu getrieben haben.«
Das Leid in seinen Worten trafen mich wie ein Schlag in die Magengrube. Ich wollte etwas sagen, ihn unterbrechen, ihm erklären, dass es nicht seine Schuld war – aber ich konnte nicht. Meine Kehle war wie zugeschnürt.
»Unseren Sohn fand ich draußen im Schnee. Er war in der Kälte erfroren. Signe hatte ihn mitgenommen, warum, weiß ich nicht. Vielleicht wollte sie auch sein Leben beenden, konnte aber nicht den Mut dafür aufbringen. Vor wenigen Tagen hatte er seine ersten Schritte gemacht. Er war ein ziemlich neugieriges Kind. Wenn Kinder einmal laufen können, hält sie nichts mehr auf.«
Er verstummte, schnaubte leise auf, als könnte er immer noch nicht begreifen, was geschehen war. Ich saß nur da, wie betäubt, unfähig, zu reagieren. Nightons Geschichte war so schrecklich, so endgültig. Und ganz anders, als Kellahan es mir hatte weismachen wollen.
»Wie du dir vorstellen kannst, war ich … völlig zerstört. Meine Welt lag in Trümmern. Ich war kein standfester, stabiler Mensch, der Tod von Signe und unserem Sohn, die alles für mich waren, hätte allein schon ausgereicht, um mich zu brechen. Doch dann kam Mitternacht, und ich stand da vor der Scheune, allein im nächtlichen Schneetreiben. All die Wochen zuvor hatte ich die unheilvollen Vorzeichen meiner bevorstehenden Verwandlung ignoriert. Und so vollzog sich inmitten der eisigen Winderlandschaft eines eingeschneiten norwegischen Dorfs meine Auferstehung zum Dämon. Wie bei dir verstärkte sie all meine negativen Gefühle. Ich war unfähig, klar zu denken. Alles um mich herum war nur ein brennender Wirbel aus Schmerz und Zorn.«
Nighton atmete tief durch, als wollte er die Erinnerungen aus seinem Körper pressen. Sein Blick blieb starr nach vorn gerichtet, als er fortfuhr. »Ich wurde von meinem Hass überwältigt. Blind vor Wut nahm ich den leblosen Körper meines Sohnes und brachte ihn in das Haus von Signes Eltern. Es mag grausam klingen, aber dort legte ich ihn in das Bett, in dem er immer geschlafen hatte, und deckte ihn zu, als wäre nichts. Als Signes Eltern mich sahen – sahen, wie ich mich äußerlich verändert hatte, wie meine Kleidung schwelte und ich vor Hitze und Hass glühte – bekamen sie Angst. Sie nannten mich 'Helvetes skapning', was so viel wie 'Kreatur der Hölle' bedeutet.«
Ein kaltes, bitteres Grinsen spielte um seine Lippen, als er weitersprach.
»Norwegische Häuser waren damals fast ausschließlich aus Holz gebaut, und ich brannte – buchstäblich als auch im übertragenen Sinne. Das Feuer griff zuerst auf das Haus von Signes Eltern über. Sie versuchten zu fliehen, doch ich hielt sie auf. Solveig, ihre Mutter, hielt ich mit dem Gesicht voran in die Flammen, ließ sie brennen, bis ihre Haut abblätterte. Erik, ihr Vater, versuchte zu entkommen, aber ich enthauptete ihn mit seiner Axt, die ich ihm nachwarf. Die Gebäude standen so nah beieinander, dass das Feuer schnell von einem zum nächsten übergriff, bis irgendwann das halbe Dorf in Flammen stand. Nachdem Signes Eltern tot waren, lief ich nach Hause, wo ich meinem Vater den Kehlkopf herausriss, als der die Tür aufmachte. Als nächstes tötete ich meine zwei älteren Brüder, ihre Frauen und meine fünfjährige Nichte. Ich ließ niemanden entkommen. Das ist alles. Ich weiß nicht, was dir dieser Jäger sonst noch erzählt hat.«
Ich konnte kaum noch atmen, und meine Tränen liefen unaufhörlich über meine Wangen. Es war furchtbar, grenzenlos furchtbar. Langsam setzte ich mich auf, neigte mich vor und konnte nicht anders, als ihn zu fragen: »Wie hieß dein Sohn?«
Nightons freudloses Grinsen verschwand, und zum ersten Mal seit Beginn unseres Gesprächs sah er mich über seine Schulter hinweg an. »Leif. Nach meinem Vater. Das war das einzige, was Signe entscheiden durfte«, flüsterte er, als ob der Name eine schmerzliche Last war, die er schon lange mit sich herumtrug.
»Das ist ein schöner Name«, brachte ich mit Mühe hervor und versuchte, mir unauffällig die Tränen aus dem Gesicht zu wischen. Nightons Blick folgte jeder meiner Bewegungen, und der Schmerz in seinen Augen wurde auf einmal von Verwunderung abgelöst.
»Warum weinst du?«, fragte er. Er klang behutsam, als er sich ein Stück zu mir lehnte und mir eine Träne vom Kiefer wischte.
Tja, warum weinte ich? Die Vorstellung, wie er damals mit dem Wissen um das, was er getan hatte, umgehen musste, war kaum auszuhalten. Das Bild, wie er in der Kälte eines norwegischen Winters auferstand und kurz darauf vollkommen auf sich allein gestellt war, ließ mich nicht los. Und dann war da noch der kleine Junge, sein Sohn, dessen Leben so früh und so grausam endete. Es brach mir das Herz, darüber nachzudenken, wie allein Nighton gewesen sein musste. Mein Leben wäre so viel schwieriger ohne ihn gewesen. Er war immer da, eine Konstante in meinem Chaos, und ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich nach der Auferstehung ohne ihn durchgekommen wäre.
»Weil mir dein Schicksal und das von Signe und deinem Sohn so leidtut. Du musstest irgendwie mit dir selbst und dem, was du getan hattest, klarkommen und in eine verstörende, neue Welt aufbrechen, ganz ohne jemanden, der dich unterstützte. Ich hatte dich, ich - ich weiß nicht, was ich ohne dich gemacht hätte.«
Nighton schnaubte auf. Dann schüttelte er den Kopf und lehnte sich wieder nach hinten an die Sofalehne.
»Ohne mich wärst du deutlich besser dran gewesen. Aber mach dir keinen Kopf wegen mir und meiner Vergangenheit. Ich komme klar, und weder du noch ich können es ändern. Und außerdem habe ich dich jetzt. Auch wenn du mir manchmal wirklich den letzten Nerv raubst.« Mit einem schiefen Lächeln zog er mich in seine Arme und drückte mir einen sanften Kuss aufs Haar.
»Haha«, knurrte ich, konnte jedoch nicht anders, als ein kleines Lachen zu unterdrücken. Jetzt ergab so vieles an Nighton endlich einen Sinn.
Wir saßen eine Weile so da, ich an ihn gelehnt, und die Zeit schien stillzustehen. Dann brach Nighton die Stille mit dem Vorschlag: »Willst du eine Runde schlafen? Ich passe auf.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Was willst du dann?«, fragte er.
Es dauerte einige Sekunden, in denen ich versuchte, meine Gedanken zu sortieren und den Mut zu fassen, für das, was ich jetzt tun wollte. Mein Herz hämmerte so intensiv in meiner Brust, dass es mich nicht wundern würde, wenn Nighton es hören könnte. Ich stieß nervös die Luft aus und versuchte, das leichte Zittern in meinen Händen unter Kontrolle zu bekommen. Mit aller Entschlossenheit setzte ich mich dann auf, schwang ein Bein über Nightons Schoß und hielt kurz vor seinem Gesicht inne, so nah, dass ich seinen warmen Atem auf meiner Haut spüren konnte.
SeineAugen weiteten sich leicht. In ihnen spiegelte sich eine Mischung aus Überraschung und Erwartung, als hätte er mit allem gerechnet, nur nicht damit, dass ich die Initiative ergriff. Meine Hände bewegten sich daraufhin von selbst, als hätte ich keinen wirklichen Einfluss auf sie. Langsam ließ ich die Decke von meinen Schultern gleiten, ohne dabei den Blickkontakt zu ihm zu brechen. Ich war höllisch nervös, ja, aber ich wollte ihm zeigen, wie sehr ich ihn wollte – auch wenn meine Ungeschicktheit mich fast verriet.
Seine einzige Reaktion war ein kaum merkliches Schlucken. Vorsichtig griff ich nach seinen Händen, die er auf meine Hüften gelegt hatte. Ich umfasste seine Handrücken und legte seine Hände sanft auf meiner Brust ab. Dann ließ ich ihn los, ergriff seinen Kiefer und küsste ihn.
Plötzlich setzte er sich mit mir in den Armen ruckartig auf, und ich zuckte zusammen, überrascht von dieser Bewegung. Ich musste mich schnell an seinen Schultern festhalten, um nicht den Halt zu verlieren.
Sein Mund liebkoste meinen Hals und wandte sich dann meinem Schlüsselbein zu. Diese Berührung war so sanft und angenehm, dass sie mich erschauern ließ. Bevor ich wusste, wie mir geschah, drückte er mich sanft, aber bestimmt nach hinten. Ich spürte, wie mein Körper unter seiner Führung nachgab, und bevor ich es wirklich realisieren konnte, lag ich rücklings auf dem Sofa. Nighton zog mir die Decke weg und schob sie achtlos auf den Boden. Er betrachtete mich einen Augenblick, während er aufrecht zwischen meinen Beinen kniete, und sein Blick wurde intensiv und durchdringend.
Mein Herz setzte an dieser Stelle fast aus vor Aufregung. Es fühlte sich so – so surreal an. Passierte das hier wirklich gerade, oder war das nur eine Illusion, hervorgerufen von der langen Isolation?
Ich hatte kaum Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn da beugte Nighton sich schon zu mir runter. Mein Körper reagierte instinktiv auf seine Berührungen, während er mich weiterhin sanft, aber bestimmt küsste. Ohne Unterlass schoss ein elektrisierendes Kribbeln durch meine Gliedmaßen, das sich bis in meine Fingerspitzen ausbreitete.
Nighton hielt inne, sich ein wenig in die Höhe stemmend, um mich anzusehen. Sein Blick war tief und unergründlich. Da war keine Spur von Zweifel in ihm, nur pure Entschlossenheit und ein Verlangen, das mich beinahe verschlang. Es kam mir beinahe so vor, als würde er jede meiner Unsicherheiten mit einem einzigen Blick wegfegen.
Dann beugte er sich wieder zu mir herunter, seine Augen nie von meinem Gesicht abwendend, während er anfing, meinen Bauch zu liebkosen. Die zarten Berührungen kitzelten ein wenig, doch es war eine angenehme, fast euphorisierende Empfindung. Ich stützte mich auf die Unterarme, um ihn besser beobachten zu können. Seine Lippen folgten einem verführerischen Pfad über meine Haut, und ich spürte, wie der Impuls unter meiner Haut mit ihm wanderte. Sie wanderten weiter nach unten, immer tiefer, bis sie weit unterhalb meines Bauchnabels landeten.
Mit einem tiefen, sehnsüchtigen Seufzer ließ ich mich nach hinten fallen. Ich war sowas von bereit, mich ihm hinzugeben, ganz egal, was als Nächstes kommen würde.