-Nightons Rückblick-
Es war ein weiterer dieser erbärmlich grauen Samstage, die das mir verhasste London so perfekt beherrschte. Der Regen klatschte in einer stetigen Wut gegen die Fensterscheiben, als wäre er genauso genervt von allem wie ich. Hier drinnen jedoch war die eigentliche Hölle los - Pearl, eine der wandelnden Geißeln meines Daseins, schob, wie jeden verfluchten Tag, ihren Staubsauger durch die Räume ihrer Altbauwohnung.
Das grollende Dröhnen dieses Geräts fraß sich gnadenlos durch meinen Schädel, ein Takt, der meine ohnehin angespannten Nerven bis zum Zerreißen spannte. Manchmal schien es mir, als hätte sie es sich zur Aufgabe gemacht, meine Geduld noch zusätzlich zu quälen.
Die Gestaltwandlerin aus Oberstadt ließ sich von meinen mörderischen Blicken nicht im mindesten beeindrucken. Manchmal glaubte ich, dass ihre gesamte Existenz in Siwes Plan eine einzige Provokation war, um mich in den Wahnsinn zu treiben. Pearl schien geradezu Freude dabei zu empfinden, mich mit ihren zwanghaften Sauberkeitswahn zu strafen. Vielleicht war es auch ein Spiel für sie? Wenn ja, dann funktioniert es, und zwar bestens. Ich spürte, wie sich der vertraute Zorn, der mich seit Wochen fest im Griff hatte, in mir ballen wollte, heiß, pulsierend - doch ich zwang ihn wie üblich hinunter.
Atmen, Kieran. Atmen.
Mit meinem Blick folgte ich der summenden Pearl durch den Raum, als sie in ihrem ach so geschmackvollen Afro-Look an mir vorbeizog. Jeder ihrer Schritte war ein neuer Nagel in den Sarg meiner Geduld. Wären Pearl und ihre Wohnung nicht so nützlich für meine erzwungene Pflicht - und ja, Siwe hatte auch das mit ungewöhnlich diabolischer Genauigkeit arrangiert - hätte ich die Gestaltwandlerin nur zu gern befreit, und zwar von dieser lächerlichen Existenz, die sie Leben nannte.
»Na, was schaust du mir so auf den Nacken, Dämon? Mordgelüste?«, schnarrte Pearl über die Schulter, während sie das Staubsaugerkabel aufrollte.
»Und wenn?«, knurrte ich zurück. Zu schade, dass ich ihr nichts tun durfte und konnte.
Ich richtete meinen Blick wieder auf das Sammelsurium aus Büchern und Schriftrollen, das auf dem Teppich vor mir ausgebreitet lag. Flüche. Verwünschungen. Zeremonien. Dunkle Rituale. Alles, was ich brauchte, um mich aus den Ketten des Blutschwurs zu befreien. Jenes Schwurs, den Siwe mir wie eine Schlinge um den Hals gelegt hatte.
Pearl verschwand mit einem höhnischen Lachen in der Küche. Minuten später kehrte sie mit einem Teller voller Kekse zurück, als wäre es die selbstverständliche Antwort auf all meine Leiden. Sie ließ sich in den Sessel neben mir fallen. Das Möbelstück protestierte leise unter ihrem Gewicht. Dann hielt sie mir die Platte voller Kekse hin und schien ernsthaft davon auszugehen, dass ich dieses armselige Angebot annehmen würde. Ich hasste Kekse, ich hasste Pearl, ich hasste diese Bürde, ich hasste Siwe - und ich hasste das Monstrum auf der anderen Straßenseite, und zwar so sehr, dass ich mein Leben dafür geben würde, es töten zu dürfen. Zu schade, dass ich ihm wegen des Schwurs nichts antun konnte.
Mein tödlicher Blick hätte eigentlich genügen müssen, um Pearl in Asche zu verwandeln, doch sie saß einfach völlig ungerührt da. Der Gedanke, Jahr um Jahr mit diesem Wesen an meiner Seite ertragen zu müssen, war schlichtweg einfach grauenvoll.
Noch bevor ich die nächste Seite meines Buches aufschlagen konnte, begann ein mir inzwischen wohl bekanntes, ohrenbetäubendes Getöse aus dem Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Mein rechtes Augenlid zuckte sofort, als der Lärm sich wie ein Speer in meinen Schädel bohrte und die üblichen Mordfantasien schürte.
»Hm, hm.« Pearl blickte beiläufig aus dem Fenster. »Klingt als würde sie nach dir rufen.«
Der Drang, ihr den Hals zu zerbeißen, war überwältigend. Aber ich widerstand. Stattdessen fokussierte ich mich auf die endlosen Seiten vor mir, in der Hoffnung, irgendwo in diesem Berg aus Wissen die Antwort zu finden, wie ich diesen gottverfluchten Schwur brechen konnte, der mich hiervon befreite. Pearl hatte es sich ganz am Anfang meiner verzweifelten Suche nach Erlösung nicht nehmen lassen, mich zu verspotten, als sie herausfand, woran ich las. Ein 'sinnloses Unterfangen', hatte sie es genannt. Lächerlich.
Der allumfassende Gedanke, das plärrende Ungeheuer mit meinen bloßen Händen zum Schweigen zu bringen, ließ mich nicht los. Tag und Nacht - es kreischte, als sei das seine einzige Existenzberechtigung. Schlaf war längst ein Fremdwort. Nicht, dass ich ihn nötig hatte, aber ich mochte es, abzuschalten - oder hatte es zumindest gemocht. Und Ruhe? Ruhe war zum Mythos geworden. Dieses Wesen kannte keine Gnade, nicht einmal, niemals, um genau zu sein. Nicht am Morgen, nicht am Abend, nicht in den kostbaren Minuten der Nacht. Als wäre es nicht schon genug, von dunkler Kraft an jemanden gebunden zu sein - und dann war derjenige auch noch ein Neugeborenes. Ich hasste Kinder. Aus tiefster Seele. War das schon immer so gewesen? Wahrscheinlich schon, ich erinnerte mich kaum. Dazu war ich schon zu alt.
Drei Monate. Seit exakt drei endlosen, qualvollen Monaten war der Yindarin auf der Welt. Und seit drei Monaten schleifte mich der Schwur wie einen Hund an der Leine hinterher. Wohin es auch ging, ich musste folgen. Am Anfang noch hatte ich versucht, die Brandwunden auszuhalten, mich von dem Kind fernzuhalten, die Grenzen des Schwurs auszuloten. Aber das war schnell gescheitert. Die Schmerzen waren zu intensiv, zu grauenvoll gewesen, und die Brandwunden hatten sich auf meiner Haut ausgebreitet wie eine Bestrafung, die nicht enden wollte. Pearl hatte das mit sadistischer Freude beobachtet und sich über meine Qualen lustig gemacht. Sie hatte nur noch mehr Spott übrig, als ich wenige Tage später mit Büchern und Schriftrollen bepackt hereingestürmt war, entschlossen, einen Weg zu finden, diese Bindung zu lösen. Es musste einfach einen Ausweg geben. Vor allem, weil ich völlig überflüssig war! Drei Monate und nichts, absolut gar nichts war passiert.
»Willst du nicht mal eine Pause machen, Junge?«, drang Pearls Stimme an meine Ohren. Wut entflammte in mir, die einen roten Rand in meinem Sichtfeld nach sich zog. Ich riss den Kopf hoch und funkelte die Gestaltwandlerin böse an. »Ich bin kein Junge!«
Pearl blinzelte gespielt überrascht. »Oh? Was denn dann? Ein Mädchen? Oder beides?« Sie brach in schallendes Gelächter aus. Das Geräusch war so abscheulich. Ich schloss die Augen und verfluchte alles - Pearl, mein Leben und vor allem dieses elende Kind, die Wurzel allen Übels. Jedes Geräusch, das aus seiner Kehle kam, ließ meinen Hass wachsen. So sehr, dass ich es nicht einmal ertragen konnte, es anzusehen. Drei Monate waren vergangen, und ich hatte es nie auch nur eines Blickes gewürdigt. Warum sollte ich auch? Es interessierte mich nicht. Ich wollte so wenig wie möglich mit diesem Gör zu tun haben.
Das Kreischen auf der gegenüberliegenden Straßenseite steigerte sich, als ob es mich auch verhöhnen wollte. Der Vater, ein armseliger Nichtsnutz von Mensch, tat wie immer nichts. Wahrscheinlich lag er wieder betrunken herum und ließ das Kind brüllen, als wäre es der Soundtrack zu seinem erbärmlichen Leben. Selbst seinem älteren Sohn widmete er keine Beachtung.
Ich presste meine Finger gegen meine pochende Stirn und schloss die Augen. Ich konnte das nicht länger ertragen. Wie sollte ich das bloß noch knapp zwei Jahrzehnte aushalten?
Doch dann auf einmal - Stille. Eine herrliche, unverhoffte Stille. Mein Kopf hob sich unwillkürlich, und ich lauschte. Für einen Moment wagte ich, zu hoffen. Ein erleichtertes Seufzen entfloh meinen Lippen. Endlich ... endlich Ruhe.
Pearl schnalzte mit der Zunge und erhob sich von ihrem Platz. Kaum dass sie sich bewegte, flammte glühender Schmerz in meinen Armen und Händen auf. Ein Schrei entfuhr mir, als ich das Buch von mir schleuderte und aufsprang.
»Scheiße, was ist denn jetzt los?«, ächzte ich und zog meine Arme an den Körper, um den Schmerz irgendwie zu lindern.
»Oh-oh«, machte Pearl gedehnt, während sie zum Fenster trat. »Das sieht nicht gut aus. Willst du nicht mal nachsehen gehen?«
Wollte ich nicht. Aber hatte ich eine Wahl?
»Weg da!«, herrschte ich sie an und öffnete das Fenster, während sich die Brandwunden einen Weg über meine Arme fraßen. Das würde dauern, das alles zu heilen. Aber darin hatte ich quasi inzwischen Übung...
Pearl trat mit einer Mischung aus Belustigung und Desinteresse zur Seite, während ich mich wortlos aus dem Fenster fallen ließ und beinahe lautlos auf dem nassen Pflaster des Gehwegs landete. Die Hyde Park Street war leer. London war eigentlich eine Stadt voller Menschen, und doch schien in diesem Moment kein einziges menschliches Wesen zu existieren.
Die Kälte des Winterabends war erdrückend, und obwohl es nicht schneite, machten die glitschigen Blätter auf den Gehsteigen jeden Schritt zu einem Risiko. Fluchend und mit brennenden Armen überquerte ich die Straße. Der Schmerz wuchs mit jedem Moment. Es war nicht so, dass es mich wirklich interessierte, was dort oben vor sich ging - ob das Gör in Gefahr sein könnte, kam mir gar nicht in den Sinn. Für mich zählte gerade nur, dass der Schmerz aufhörte. Und zwar schleunigst.
Leise vor mich hin grollend schwang ich mich über den schmiedeeisernen Zaun, lief in die Seitengasse neben dem Haus und zog mich an der nassen Wand hinauf. Die Bewegungen fielen mir schwerer als sonst, denn die Schmerzen raubten mir fast die Kontrolle über meine Bewegungsabläufe. Trotzdem erreichte ich den vierten Stock in Sekunden. Oben angekommen, sog ich tief die kalte Luft ein und warf zum ersten Mal einen Blick in das Zimmer, in dem das Monstrum hauste.
Es war alles rosa. Wie grauenhaft.
Der Gestank von sauberen Stoffen und Babypuder stach mir in die Nase, als würde mich die Luft in diesem Zimmer würgen wollen. Rosa Vorhänge, Blümchentapeten und diese verdammten Stofftiere überall. Widerlich. Der Anblick war genug, um einem das Blut in den Adern gefrieren zu lassen.
»Menschen!«, knurrte ich leise und schob mich über den Fenstersims in das Kinderzimmer hinein. Das Gefühl des brennenden Fleisches an meinen Armen ließ mich kurz die Zähne zusammenbeißen.
Die Wiege stand da, direkt am Fenster, das zur Hyde Park Street zeigte. Sie schaukelte leicht hin und her, als hätte der Wind sie bewegt. Und doch ... war sie leer. Diese Erkenntnis sickerte langsam in meinen Kopf, wie Gift, das seine Wirkung entfaltete. Wo zur Hölle war das Kind?
Ein Gefühl, das ich kaum benennen konnte, kroch mir den Rücken hoch, wie eine Mischung aus Verwunderung und dumpfer Vorahnung. Da spürte ich plötzlich eine Welle von Hitze hinter mir. Der schwere Geruch von Schwefel erfüllte den Raum.
Sofort drehte ich mich um, und da stand sie: Selene. In einem schwarzen, bodenlangen Kleid, halb im Schatten verborgen, hielt sie das Kind in den Armen und wiegte es, als wäre sie die Mutter. Dabei summte sie eine leise, trügerische Melodie.
Ich schluckte und musterte sie. Dabei keimten verschiedene Gefühle in mir, die von Wut über Enttäuschung bis hin zur Verständnislosigkeit reichten.
Da war sie. Mein Herrin, sie, der ich lebenslange Gefolgschaft geschworen hatte. All die Jahre hatte ich ihr gedient, ihre Visionen geteilt, ihre Niedertracht genossen. Bis zu jenem Moment, in dem ich gefangengenommen worden war, und sie mich einfach meinem Schicksal überlassen hatte. Dreizehn lange Jahre lang, erfüllt von Gefangenschaft, gepeinigt von der himmlischen Sonne, während sie nichts unternommen hatte, um mich dort rauszuholen. Und jetzt stand sie hier, als wäre nichts geschehen, als wäre ich immer noch ihr ergebener Diener. Ein Teil von mir wollte sich über ihr Erscheinen freuen, doch der größere Teil war wütend. Wütend und enttäuscht.
Selene hob den Kopf und blickte mich mit diesem schmalen, freudlosen Lächeln an, das nie wirklich ihre Augen erreichte. In ihren Armen lag das Kind - ruhig, seltsam still, als würde es die Gefahr um sich herum gar nicht bemerken. Dieses kleine Ungeheuer, das mein Leben seit Monaten zur sprichwörtlichen Hölle machte, schaute Selene an, als wäre sie ein Engel.
»Hallo, Nighton. Schön, dich wiederzusehen. Lange ist es her, nicht wahr?« Ihre Stimme klang samtig, aber ich wusste, dass sie mit jedem Wort Messerklingen in meine Richtung schleuderte. »Warum denn so erschrocken?«
»Leg sie wieder zurück«, bat ich emotionslos und machte einen Schritt auf Selene zu, ließ aber die Wiege nicht aus den Augen, als wäre sie der Schlüssel.
Selene lachte auf und erwiderte: »Nur keine Sorge, ich weiß von Siwes schlauem Spielchen mit dir. Und du, kleiner Yindarin, hast Glück. Großes Glück, am Leben zu sein. Schon sehr bald wird es mir gehören, nur musst du bis dahin noch ein bisschen wachsen.« Sie hob das Kind an und musterte es, als wäre es eine Trophäe.
Ich biss instinktiv die Zähne zusammen, als der Schmerz noch intensiver aufloderte. Selene wusste also Bescheid über Siwes Ritual - und das hatte das Potenzial, die gesamte Sache nur noch schlimmer zu machen. Was wollte sie hier? Hatte sie mich nicht lange genug leiden lassen? Sollte sie nicht diejenige sein, die mir hilft, den Schwur zu brechen, mich endlich aus dieser Hölle zu befreien? Warum hatte ich das Gefühl, dass sie genau das nicht vorhatte?
»Allerdings ... dein Gesicht brauchst du nicht, um deine Rolle zu erfüllen, also warum zerfetze ich es dir nicht jetzt schon?«, zischte sie plötzlich, und ihre Stimme kippte ins Bedrohliche. Der Raum verfinsterte sich, als ob er auf ihre Stimmung reagieren würde. Bei ihrem bösartigen Ton begann das Kind zu wimmern. Selene senkte den Blick und befahl mit sanfter Stimme: »Aufhören.« Sofort wurde es still.
»Welch ein Abstieg«, fuhr sie fort, diesmal an mich gewandt. »Einst mein treuester Scherge, nun der witzlose Wächter eines Yindarin in Windeln. Was für eine Tragödie! Hättest du dich bloß nicht erwischen lassen.«
Ihre Worte schnitten tief, aber ich wusste es zu verbergen. Innerlich jedoch brodelte es in mir. Das war nicht meine Schuld. Sie war es, die mich im Stich gelassen hatte.
Sie grinste diabolisch, hob das Kind ein weiteres Mal hoch, hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn und legte es mir, zu meiner Überraschung, plötzlich in die Arme. Mein Körper erstarrte.
Selene musterte mich einen Moment.
»Du willst die Bindung lösen«, wiederholte sie meine Gedanken aus den letzten Wochen, als wäre es ihr gelungen, in mein Innerstes zu sehen. Ich erwiderte ihren kalten Blick, während alles in mir danach schrie, das Kind fallenzulassen. »Das wirst du nicht.« Ihre Stimme wurde scharf, als sie einen Schritt auf mich zu machte. »Wir brauchen dein Band mit dem Yindarin.«
»Ach?«, zischte ich. »Und was ich will, ist dir wohl vollkommen egal, oder?«
Mein Ton war giftig, und es fiel mir schwer, nicht allzu respektlos zu klingen. Selene legte eine Hand auf meine Schulter, ihr Griff fest und kalt.
»Ich denke nur an das große Ganze«, flüsterte meine Herrin mit einem gefährlichen Lächeln, als sie mir über meine verbrannten Arme strich. Der Schmerz hatte nachgelassen, seit Selene mir das Kind übergeben hatte, aber der Zorn in mir loderte weiter.
Selene wandte sich um und legte schon eine Hand auf die Türklinke, als sie plötzlich innehielt und über ihre Schulter zu mir zurücksah. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht war undurchdringlich, doch ihre Stimme trug eine trügerische Sanftheit mit sich, als sie sagte: »Wir nutzen diesen Umstand so gut aus, wie wir nur können. Du wirst mir alles zutragen, was die Entwicklung des Yindarin betrifft, so banal es auch sein mag. Riakeen und Dorzar werden dir regelmäßig Besuch abstatten und die Einzelheiten in Erfahrung bringen. Und wenn die kleine Jennifer aufersteht, werde ich zur Stelle sein, und du und ich feiern entweder ihre Unterstützung in unserer Sache oder ihren Niedergang. Ach, und Nighton-«, sie senkte den Blick, »-gib in Zukunft etwas besser Acht auf unser Mädchen, sonst könnten die unbeseelten Dämonen dieser Dimension die liebe Siwe noch vor dem achtzehnten Geburtstag ihres Sonnenscheins zum Weinen bringen.«
Und schon war sie weg. Und mit ihr jede Hoffnung auf Befreiung.
Ich merkte, dass ich die Luft angehalten hatte. Langsam, zittrig ließ ich den Atem entweichen. Als ich auf meine Arme hinabsah, die das Yindarin-Kind festhielten, realisierte ich mit einem Schlag, dass Selene Recht hatte: Ich musste unbedingt besser aufpassen, wenn ich nicht draufgehen wollte. Den Yindarin vor seiner Zeit sterben zu lassen, würde auch mich mit in den Tod reißen. Das durfte ich nicht zulassen.
Braune Augen starrten zu mir hoch, wie zwei dunkle Löcher, die nichts verstanden, nichts ahnten. Dieses kleine, lächerliche Wesen, das so wichtig sein sollte. Ich verzog das Gesicht und spürte, wie tiefgreifende Abneigung in mir aufstieg. Oh ja, ich hasste dieses Mädchen. Und daran würde sich nie etwas ändern.
»Weißt du eigentlich, wie sehr ich dich hasse?«, zischte ich leise, den Mund verächtlich verziehend.
Zu meiner Verblüffung verzogen sich die kleinen Lippen zu einem Lächeln. Ein Lächeln? Was, bei allen Schatten Unterstadts, gab es hier zu lächeln?
Ich runzelte die Stirn, angewidert und verwirrt zugleich. Für einen Moment verspürte ich den Drang, das Kind von mir zu schleudern. Stattdessen legte ich es abrupt in die Wiege. Meine Bewegungen waren mechanisch, ruppig, und ohne jede Zärtlichkeit. Nein, ich wollte es nicht mehr ansehen. Nie mehr, wenn es nach mir ging.
Schnell trat ich zum Fenster, riss die Vorhänge auf und ließ die kühle Winterluft einströmen, um den nach Schwefel stinkenden Gestank von Selenes Präsenz zu vertreiben. Die frische Luft fühlte sich fast wie eine Erlösung an, doch der Knoten in meinem Inneren blieb. Mit geschlossenen Augen verharrte ich. Offenbar hatte ich jetzt Zeit zum Nachdenken gewonnen. Zu viel Zeit. Selenes Befehl war ein Problem. Ein Teil von mir hatte irrsinnigerweise darauf gehofft, dass sie mir helfen würde - doch sie wollte mich nur benutzen. So, wie sie es immer tat. Aber ich hatte keine Wahl, ich musste ihr dienen. Und Siwe? Die hatte mich hier festgesetzt, gebunden an ein Geschöpf, dessen Lächeln mich mehr gequält hatte als sein Geschrei. Die Hölle war nicht irgendwo zwischen den Dimensionen - sie war hier. Und ich war mittendrin.
-Rückblick Ende-
Ich schob mir eine Strähne aus dem Gesicht, die irgendwie in meinem Augenwinkel gelandet war, während ich ihm zugehört hatte. Mittlerweile hatte ich mich aufgerichtet und saß neben ihm, die Beine leicht angezogen, und wartete darauf, dass er weitersprach. Aber er schwieg.
»Also, eine Sache verstehe ich nicht,« sagte ich schließlich, weil das Schweigen zu unangenehm wurde.
Nighton zuckte mit dem Kinn in meine Richtung, als Zeichen, dass ich weitermachen sollte.
Ich kniff die Augen zusammen und suchte nach den richtigen Worten. »Du hast erzählt, wie Selene mit ihren Dienern umgeht, wie sie sie behandelt. Die sind doch für sie nur Werkzeuge, oder? Aber bei dir klang das irgendwie anders… so, als wärst du ihr wichtig gewesen. Stimmt das? Mit Riakeen oder Dorzar habe ich sie nie so reden hören. Wieso hat sie dir so viel durchgehen lassen? Kennt ihr euch gut?«
Für einen Moment war da dieser Ausdruck in seinem Gesicht – eine Mischung aus Genervtsein und, ich weiß nicht, vielleicht Scham? Aber es verschwand schnell, und er antwortete etwas zu hastig: »Nein. Natürlich nicht. Ich war gut in dem, was ich getan hab, und das hat sie einfach genutzt. Mehr nicht.«
Er sah mich nicht an, und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er mir nicht alles erzählte. Ein Teil von mir wollte nachhaken, tiefer bohren, aber der andere Teil dachte, ich sollte ihm die Chance geben, selbst ehrlich zu sein. Also ließ ich es fürs Erste fallen. Stattdessen setzte ich zu einem anderen Gedanken an und witzelte: »Tja, ich habe wohl Glück gehabt, dass du deinen Hintern rechtzeitig bewegt hast, um mich vor Selenes Kussoffensive zu retten, oder?«
Nighton stieß ein leises, fast erleichtertes Lachen aus und entgegnete: »Wer weiß, vielleicht hätte sie dich wirklich aufgefressen.«
»Gott sei Dank hat sie das nicht! Sonst wären wir wohl beide nicht hier.« Mein Lächeln war frech, aber seine Antwort war nur ein weiteres leises Lachen.
Ich wartete kurz, ob er noch mehr sagen würde, aber er klopfte nur neben sich auf das Sofa und bedeutete mir, dass ich mich wieder hinlegen sollte. Obwohl ich nicht wirklich müde war, wusste ich, dass seine Nähe mir helfen würde, also ließ ich mich zurück auf die harten Kissen sinken. Er zog mich sofort näher an sich, seine Arme fest um mich geschlungen. Aber trotz der Wärme und seiner ruhigen Atemzüge war Schlaf für mich unmöglich.
In meinem Kopf kreiste nämlich alles. Was hatte Nighton wirklich mit Selene in der Vergangenheit zu tun gehabt? Es war so ein Gefühl, als hätte er mir etwas Wesentliches verschwiegen. Allerdings wollte ich in diesem Moment nicht daran denken, also drehte ich mich zu ihm um, spitzte die Finger und zog leicht an seinem Bart.
Er öffnete ein Auge. »Was?«, brummte er.
Ich zog eine Augenbraue hoch. »Weißt du eigentlich, dass du ziemlich selbstmitleidig klangst, als du darüber geredet hast, wie du an mich gebunden warst?«
Nightons Blick verfinsterte sich sofort. »Selbstmitleidig?«, knurrte er. Er ließ mich los, setzte sich leicht auf und seine Haltung wurde steifer, fast als würde er sich auf einen Streit vorbereiten. »Gegen meinen Willen an dich gebunden zu sein, war eine eine verdammt harte Situation, Jennifer. Das war keine Selbstmitleiderei.«
Ich rollte mit den Augen und entgegnete: »Ich sage ja auch nicht, dass es entspannt war. Aber du hast geredet, als ob du dir den gesamten Kummer der Welt aufgeladen hättest.«
Nightons Augen verengten sich ein Stück, und ich konnte sehen, dass er sich beherrschen musste. »Glaub mir, ich wünschte, es wäre so einfach, wie du es dir vorstellst. Aber das war es nicht. Wenn du mal in so einer Lage gewesen wärst, würdest du das verstehen!«
Überrascht über seinen Ärger sagte ich: »Ich glaube dir doch, dass es hart war, auf mich aufpassen zu müssen. Aber trotzdem wirkt es so, als ob du es dir zur Lebensaufgabe gemacht hättest, in deiner Opferrolle zu verweilen.«
Nightons Gesicht wurde noch härter, und ich konnte sehen, wie er sich beherrschen musste, um nicht auszuflippen. »Opferrolle?«, schnappte er entgeistert. Er machte schon Anstalten, aufzustehen, doch ich schlang gerade noch rechtzeitig die Arme um seine Mitte und flehte: »Nicht gehen, bitte!«
Tatsächlich blieb Nighton sitzen. Er sah mich einen Moment lang an, während die Wut langsam wich und Unsicherheit Platz machte. Dann murmelte er ruhig: »Du weißt nicht, wie es war.«
Ich versuchte ein hilfloses Lächeln, ihn immer noch festhaltend. »Vielleicht nicht. Aber jetzt einfach die Flucht zu ergreifen, hilft auch nicht.«
Nighton schnaubte auf und entgegnete trocken: »Na, das sagt ja die Richtige.« Als ich nur bittend zu ihm aufsah, seufzte er auf und ließ sich langsam wieder nach hinten sinken. Der harte Ausdruck in seinen Augen verflüchtigte sich ins Nichts, und ich konnte spüren, wie sich seine Anspannung löste.
Das nutzte ich, um ihn anzublinzeln.
»Runde zwei?«