In dieser Nacht beherrschten düstere Gestalten mit leuchtend blauen Augen und Ströme von Blut, die durch einen finsteren Thronsaal peitschten, meine Träume. Ich war heilfroh, als ich endlich der Alptraumhölle in meinem Kopf entkommen konnte und mit einem Keuchen aufwachte.
Das Erste, was ich tat, war tief Luft zu holen – oder es zumindest zu versuchen. Doch es war schwerer als erwartet.
Langsam öffnete ich die Augen. Ich lag bäuchlings in dem Bett. Aber von bequem konnte keine Rede sein. Nighton lag über mir und hielt mich in einem ungewollten Würgegriff gefangen. Sein Arm hatte sich fest um meinen Bauch geschlungen, sein Bein ruhte auf meinem Rücken, und sein Kopf war schwer auf meinem Kreuz gebettet. Himmel, war das heiß! Er glühte regelrecht.
»Nighton…«, stieß ich keuchend hervor. Ich versuchte mit meiner freien Hand nach ihm zu greifen, ihn irgendwie wachzurütteln, doch er grunzte nur schläfrig und zog mich noch fester an sich.
»Ah!« Ein stechender Schmerz schoss durch meinen Körper, als er seinen Griff verstärkte. Warum wachte er nicht auf? Mein Brustkorb wurde mit jeder Sekunde enger zusammengedrückt, bis ich kaum noch atmen konnte. Die Kraft, mit der er mich festhielt, war extrem stark, zu stark – und dann, mit einem schrecklichen, trockenen Knacken, spürte ich, wie eine meiner Rippen brach.
Die Panik erfasste mich mit voller Wucht. Schmerz durchzuckte meinen Körper, ein alles verzehrender, brennender Schmerz. Doch ich konnte nicht schreien. Konnte mich nicht befreien. Stattdessen schmeckte ich Blut, als sich meine Lippen zu einem stummen Schrei verzogen. Mein ganzer Körper schrie, und doch kam kein Laut über meine Lippen. Ich lag da, gefangen in seinem eisernen Griff, während höllische Schmerzen durch meinen Brustkorb tobten.
Warum tat er das? Erdrückte er mich absichtlich? Wollte er mich…?
»-wach auf!«
Ich riss die Augen auf. Fast zeitgleich schnappte ich nach Luft und fuhr so heftig in die Senkrechte, dass ich beinahe mit Nighton zusammengestoßen wäre, der sich über mich gebeugt hatte. Mein Körper zitterte unkontrolliert, Schweiß klebte an meiner Haut, während mein Herz hämmerte, als hätte ich einen Marathon hinter mir. Alles in mir schrie, doch es war nur ein Traum gewesen. Ein verdammter Traum.
Ich zwang mich dazu, tief durchzuatmen, aber mein Brustkorb fühlte sich eng an, als würde Nightons Arm mich immer noch erdrücken. Seine Hand strich sanft über meinen Rücken, und langsam begann ich, mich zu beruhigen.
»Alptraum?«, fragte er mit gedämpfter Stimme. Seine Augen musterten mich besorgt, während er mir weiterhin über den Rücken fuhr. Ich nickte stumm, unfähig, sofort zu sprechen. Der Schock saß noch zu tief. Doch als ich mich endlich in der Lage fühlte, begann ich leise zu erzählen. Es war wirr, doch Nighton hörte mir aufmerksam zu, ohne mich zu unterbrechen.
Als ich geendet hatte, zog er mich wortlos in seine Arme. Der Schutz seiner Umarmung war wie ein Anker, der mich in die Realität zurückholte. Die Hitze seines Körpers, die sanfte Bewegung seiner Brust gegen meine, ließen den Schrecken langsam verblassen.
»Es ist bestimmt nur der Stress und die ungewohnte Umgebung«, murmelte er leise und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die an meiner Stirn klebte. Doch obwohl ich in seiner Umarmung Trost fand, wurde mir schnell zu heiß. Ich musste raus aus dieser Hitze, aus diesem Griff.
Behutsam befreite ich mich aus seiner Umarmung und drehte mich im Bett sitzend zur Kante, wo ich die Füße auf den Boden stellte. Kaum, dass die Decke meinen Körper nicht mehr bedeckte, lief mir ein kalter Schauer über die Haut. Trotz der Hitze in meinem Inneren fröstelte ich. Was für ein widersprüchliches Gefühl.
Ich erhob mich, unsicher auf den Beinen, und griff instinktiv nach der Decke, um meine Blöße zu bedecken. Mein Körper fühlte sich seltsam an, fast zu schwach, um aufrecht zu stehen. Himmel, wie hatten Nighton und ich es überhaupt geschafft, in diesem winzigen Bett nebeneinander zu schlafen? Und waren wir nicht eigentlich auf dem Boden eingeschlafen?
Mit einem ungeschickten Schritt bewegte ich mich zum Waschtisch und hielt kurz inne, als ich einen ziehenden Schmerz im rechten äußeren Oberschenkel spürte. Nicht schon wieder! Wieso passierte mir das immer? Verärgert und gleichzeitig belustigt darüber, wie ungelenk ich manchmal war, griff ich nach dem Rand des Waschtischs und sah mich im Spiegel an. Mein Haar war völlig zerzaust, und mein Gesicht wirkte noch blasser als sonst. Erschöpft. Aufgewühlt.
Ein Blick durchs Zimmer ließ mich unwillkürlich lächeln. Überall waren Spuren unserer nächtlichen Eskapaden zu sehen. Einige Möbel standen schief, der Waschtisch selbst hatte wohl einen Stoß abbekommen, die Kommode war halb abgeräumt, und die Nachttischlampe lag auf der Seite. Ups. Das war wohl doch wilder gewesen, als ich dachte. Ob Mortimer wohl etwas davon mitbekommen hatte? Und wie spät war es eigentlich? Ein Blick aus dem Fenster verriet mir, dass das Morgengrauen schon eingesetzt hatte.
»Komm wieder ins Bett«, bat Nighton sanft. Seine Stimme klang ruhig, fast hypnotisch, und betrachtete mich versonnen, wie ich im Spiegel sehen konnte. Doch das hatte ich nicht vor – noch nicht. Meine Blase hatte sich nämlich gemeldet, und die konnte ich nicht ignorieren.
»Geht nicht. Ich muss erstmal... für kleine Ex-Yindarin«, sagte ich und verzog das Gesicht. Nighton seufzte dramatisch und erhob sich langsam aus dem Bett.
»Tja, mit deiner Blase lege ich mich nicht an«, witzelte er und bückte sich, um nach seiner schwarzen Jogginghose zu greifen, die unter dem geöffneten Koffer lag. Ich musste grinsen, und während er sich anzog, konnte ich nicht anders, als ihm dabei zuzusehen. Sein Anblick löste ein wohliges Kribbeln in meinem Bauch aus, dieses warme Gefühl, das ich in letzter Zeit so oft gespürt hatte. Ein stilles Glücksgefühl keimte in mir auf, das jede Erinnerung an meinen Alptraum weichen ließ. Die Decke enger um meinen Körper ziehend, stellte ich mich an die Tür und wartete auf ihn. Nighton, der mich in meiner provisorischen Kleidung musterte, legte den Kopf leicht schief. »Ist dir das nicht zu kalt?«, fragte er kritisch und deutete mit einer Kopfbewegung nach draußen.
»Nö. Geht doch schnell. Außerdem kann ich meine Füße danach an dir wärmen.«
»Ach, kannst du das?«
»Ja. Das ist ungeschriebenes Gesetz. Als mein Freund musst du meine Füße wärmen.«
Nighton schnaubte. »Mit deinen ungeschriebenen Gesetzen möchte ich mich natürlich auch nicht anlegen.«
Zufrieden nickend entgegnete ich: »Sehr gesunde Einstellung.«
Nighton ging an mir vorbei und öffnete die Tür.
»Hier gibt es aber keine Ausgangssperre, oder?«, fragte ich, während ich mich auf die Tür zubewegte.
Nighton lehnte sich mit einem Arm an den Türrahmen. Er beugte sich leicht zu mir herunter, seine Augen blitzten spöttisch auf. »Würde dich das denn aufhalten?«
Da war es wieder, diese gewisse Schärfe in seinen Worten, die mich aufmerken ließ. Ich wusste genau, worauf er hinauswollte. Ein liebliches Lächeln zog sich über mein Gesicht, während ich ihm antwortete: »Kommt drauf an, was die Konsequenzen wären, Mr. Smith.«
Nighton grinste, ein dunkles Funkeln in seinen Augen, während ich an ihm vorbeiging. »Ich weiß nicht, ob Sie das herausfinden möchten, Miss Ascot.« Dann wartete er, bis ich auf dem Flur stand, bevor er die Tür hinter sich schloss. »Da lang«, raunte er und wies mit einem Nicken in die Dunkelheit des Flurs. Sein Tonfall war ruhig, aber irgendwo darin lag ein Versprechen, das mir ein Kribbeln über die Haut jagte.
Während wir den dunklen Flur durchquerten und auf die Wendeltreppe zusteuerten, wiederholte ich meine Frage wegen der Ausgangssperre. Nighton antwortete leise, fast beiläufig: »Nein, hier gibt es keine. Das war so ein Dun’Creld-Ding.«
»Und warum sind hier so gut wie keine Schüler? Das Internat kommt mir so ausgestorben vor.« Meine Stimme hallte leicht in der Stille wider, als wir das kleine Foyer erreichten. Hier unten brannte gedimmtes Licht, das den Raum in ein sanftes, beruhigendes Leuchten tauchte. Dafür war ich in diesem Moment dankbar. Nighton hielt mir die Tür nach draußen auf, und ich trat hinaus in die kühle Nachtluft.
»Es gehen eben nicht so viele Engel und Dämonen nach Deutschland, um ihren Spross weiterzugeben, wie es scheint«, erklärte er, während wir uns in die Dunkelheit hinausschlichen. »Aber einige Jungengel und -dämonen sind hier, ich kann ihre Anwesenheit spüren. Sie liegen allerdings alle in ihren Betten.«
Gemeinsam liefen wir aus der Kernburg hinaus. Der Wind hatte nachgelassen, und der Regen war auch vorbei, aber die Kälte war allgegenwärtig. Am Horizont zeichnete sich bereits ein roter Streifen ab, der den baldigen Sonnenaufgang ankündigte. Ich fröstelte und bereute längst, dass ich nichts außer der Wolldecke am Leib trug. Warum hatte ich das nochmal entschieden? Ach ja, weil ich manchmal einfach unvernünftig war. Doch ich würde mir vor Nighton nicht die Blöße geben, diesen Fehler einzugestehen, also biss ich die Zähne zusammen und folgte ihm tapfer. Das Gelände außerhalb der Burg war leider nicht beleuchtet, und ich war vollkommen auf Nightons Nachtsicht angewiesen. Immer wieder warnte er mich vor Stufen oder Unebenheiten, sonst hätte ich mit meinen zwei linken Füßen längst Bekanntschaft mit dem Pflaster gemacht. Wenigstens hatte ich meine Springerstiefel angezogen, das war etwas.
Nach einigen Metern, die uns über gepflasterte Wege und Treppen führten, erreichten wir einen umzäunten Bereich. Am nördlichen Ende sah ich das Fallgitter, das Nighton erwähnt hatte. Hier stand das Kastellanhaus, in dem sich laut ihm die Toilette befinden sollte. Ich ließ meinen Blick über die Mauer des Hauses schweifen. Rosen rankten sich um die Steine, und zwischen zwei grün lackierten Holztüren stand eine schlichte Holzbank, die mir gestern gar nicht aufgefallen war.
»Da rein«, verkündete Nighton und wies auf die Tür rechts von der Bank, bevor er sich selbst auf die Bank setzte. Ich eilte ins Bad, meine Schritte wurden schneller, als die ersehnte Erleichterung in greifbare Nähe rückte. Gottseidank war ich Britin und hatte das mit Toiletten bestückte Dun’Creld besuchen dürfen. In diesem Internat wäre ich bei so einer sanitären Unterversorgung wahnsinnig geworden.
Nachdem ich die Wolldecke zurechtgerückt und alles andere erledigt hatte, trat ich wieder nach draußen. Doch Nighton saß nicht mehr auf der Bank. Verwundert blieb ich stehen und schaute mich um. War er schon vorgegangen? Das war so gar nicht seine Art.
Da entdeckte ich ihn. Er stand einige Meter weiter links, direkt vor einem Beet voller Hortensien und Farnkraut. Was zum Teufel machte er dort? Er stand wie festgefroren, als würde er auf etwas starren, das ich von hier aus nicht sehen konnte.
Neugierig trat ich näher, doch bevor ich ihn erreichen konnte, streckte er plötzlich eine warnende Hand aus und legte den Zeigefinger seiner anderen Hand auf die Lippen. Ich hielt augenblicklich inne, mein Herz schlug mir bis zum Hals. Was hatte er gesehen?
Plötzlich ertönte aus dem Gebüsch vor ihm ein schrilles Quietschen, gefolgt von einem zischelnden Knurren. Der Farn wackelte heftig.
Im nächsten Moment kroch ein groteskes, kleines Wesen aus dem Gebüsch hervor. Es war kaum größer als ein Kleinkind, aber sein Anblick ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Blutige Hautfetzen hingen von seinen fahlen Knochen herab, und durch den aufgebrochenen Schädel konnte man sein Hirn sehen, das in widerlicher Bewegung pulsierte.
Ich trat instinktiv zurück. Ein unbeseelter Dämon! Ich hatte so einen schon einmal gesehen, im Thronsaal in der Unterstadt – damals allerdings in großer Zahl und wesentlich größer. Warum lief er hier frei herum?
Sobald der Dämon Nighton erblickte, stieß er ein kreischendes Geräusch aus, das in meinen Ohren schmerzte. Seine fauligen Zahnstümpfe blitzten auf, als er den Mund zu einem grässlichen Grinsen verzog. Doch bevor ich mich von dem Schreck erholen konnte, folgte ein klagender Schrei, langgezogen und geisterhaft. Der Schrei kam jedoch nicht von dem Dämon vor uns – er kam von weiter weg, durch das Morgengrauen getragen. Gänsehaut kroch über meinen ganzen Körper. Das klang gar nicht gut! Waren da etwa noch mehr auf dem Weg? Mehr von … denen?
»Nighton!«, brachte ich panisch hervor, mein Blick starr auf den Dämon gerichtet, der uns fixierte. Doch Nighton machte nur eine beruhigende Geste und raunte: »Keine Panik, er tut dir nichts.«
Entgeistert wich ich noch weiter zurück. »Was?! Bist du verrückt? Das ist ein Dämon! So einen wie Selene sie in ihrem Schloss hält! Und wahrscheinlich kommen gleich noch mehr von denen, so wie der Schrei gerade klang! Warum laufen die hier frei herum?«
Statt mir zu antworten, streckte Nighton dem Dämon seine Hand entgegen. Das kleine Monster jaulte auf und schlug mit seiner krallenbewehrten Hand nach ihm, doch es wirkte eher trotzig als gefährlich. Es war ein seltsames, fast kindliches Verhalten, das nicht zu dem bedrohlichen Aussehen des Dämons passte.
Nighton schnalzte mit der Zunge, als wäre er genervt, und sprach in einer dunklen, rollenden Sprache zu dem Wesen. Die Worte klangen wie die dämonische Gossensprache, die ich schon einmal gehört hatte – ein Zungenwirrwarr, den nur Dämonen verstanden. Der Dämon ließ seine abgekauten Ohren wackeln und quietschte in einer Art Antwort. Angewidert musterte ich ihn, doch trotz meiner Abscheu musste ich zugeben, dass er wohl doch nicht so gefährlich war, wie ich zunächst angenommen hatte.
Nighton winkte mich sanft zu sich, aber ich zögerte. Ich wollte diesem Ding nicht zu nahe kommen, doch gegen meinen Instinkt setzte ich mich vorsichtig in Bewegung, die Decke fest um mich geschlungen. Jeder Schritt war ein Balanceakt zwischen Furcht und Neugier.
Neben Nighton angekommen, ging ich in die Knie und warf ihm einen zweifelnden Blick zu. Was hatte er vor? Ich sollte es gleich erfahren. Nighton nahm meine Hand in seine und bewegte sie langsam in Richtung des Dämons, der in der Luft schnupperte. Sein Gehirn wackelte bei dieser Bewegung auf widerliche Weise hin und her, und mir drehte sich fast der Magen um.
Plötzlich griff der Dämon nach meinen Fingern. Ich zuckte erschrocken zusammen und wollte meine Hand sofort zurückziehen, doch Nighton hielt mich fest und machte beruhigende Laute.
Es fühlte sich ekelhaft an, als das Wesen mit seinen halb fleischigen, halb knöchernen Fingern meine Finger auseinanderbog, als suche es etwas zwischen ihnen. Mein Herz raste. Als der unbeseelte Dämon jedoch nichts fand, stieß er ein enttäuschtes Grunzen aus, bückte sich und grub mit seinen krallenartigen Händen einen Haufen Erde aus dem Beet hinter sich. Langsam, gurgelnd und blubbernd, legte er die Erde in meine Hand.
Ich war viel zu verdutzt, um zu verstehen, was gerade geschah. Doch bevor ich etwas sagen konnte, riss er ein paar Blätter von der Hortensie ab und stapelte sie auf dem Erdhaufen in meiner Handfläche. Ich starrte auf die skurrile Szene vor mir, unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Was sollte das hier werden?
Plötzlich hörte ich ein dumpfes Krachen über uns. Etwas sprang vom Dach des Kastellanhauses und landete nur wenige Zentimeter neben uns. Erdbrocken und schleimige Fleischfetzen spritzten in alle Richtungen. Ich schrie vor Schreck auf und riss meine Hand hastig zurück. Ein weitaus größerer Dämon, derselben abscheulichen Art wie der Kleine, war direkt neben uns auf dem Boden aufgeprallt und fauchte uns bedrohlich aus seinem löchrigen, blutigen Gaumen an.
Mein Herz setzte einen Schlag aus, als Nighton mich sofort hinter sich schob. Er machte beruhigende Gesten in Richtung des ausgewachsenen Dämons und sprach wieder diese dunklen, fremdartigen Laute in der dämonischen Gossensprache. Der größere Dämon brüllte erneut, ein wütendes, tiefes Grollen, das die Luft zum Vibrieren brachte – aber diesmal war die Feindseligkeit in seinem Ton gedämpft.
In einer schnellen, fast fließenden Bewegung schnappte der größere Dämon nach dem Arm des Kleinen, zog ihn mit sich, und im Bruchteil einer Sekunde waren beide über die Mauer verschwunden. Das Ganze geschah so schnell, dass mein Verstand kaum hinterherkam.
Ich atmete schwer aus, als die Gefahr endlich vorüber war, mein Herz hämmerte noch immer heftig in meiner Brust. Das war einfach zu viel für meine Nerven. Aber – warum hatten sie uns nicht angegriffen?
Nighton stand noch einen Moment lang da, starrte in die Richtung, in die die Dämonen verschwunden waren. Dann drehte er sich um und lächelte, als wäre nichts gewesen. »Niedlich, nicht?«
»Niedlich?!«, stieß ich ungläubig hervor. »Das ist nicht gerade das Erste, was mir bei diesen Monstern in den Sinn kommt! Eher gruselig und widerlich!«
Nighton verdrehte die Augen und schüttelte leicht den Kopf. »Du bist von den Engeln und ihren ach so reinen unbeseelten Engelswesen verdorben. Unbeseelte Dämonen sind viel interessanter und vielschichtiger, als du denkst. Und hier dürfen sie frei herumlaufen, sie sind nicht eingesperrt wie in Dun’Creld.«
»Greifen die wirklich niemanden an?«, fragte ich, immer noch verunsichert. Mein Blick wanderte zu der Stelle, an der die Dämonen über die Mauer gesprungen waren. Der Gedanke, dass solche Wesen hier frei herumliefen, gefiel mir überhaupt nicht.
Nighton schüttelte den Kopf. »Nein, sie gehören zu diesem Ort. Hier verlaufen so viele übernatürliche Strömungen, dass sie hier einfach leben – wie die Schüler und Lehrer. In Dun’Creld wurden sie eingesperrt wegen der Ghule, aber hätte man die damals nur regelmäßig gefüttert, hätten sie sich nie einen Schüler geschnappt. Hier sorgen die Dämonen für sich selbst. Weniger Probleme für alle.«
Ich hob eine Augenbraue, wenig überzeugt. »Ach ja? Und was fressen die Dämonen? Blümchen und Beeren?«
Nighton grinste kurz, doch bevor er antworten konnte, hielt er abrupt inne. Seine Augen weiteten sich, sein Blick schoss über meinen Kopf hinweg, und plötzlich formten seine Lippen stumm ein 'Oh'.
Verwirrt runzelte ich die Stirn, dann drehte auch ich mich langsam um.
Hinter uns waren drei Gestalten aufgetaucht. Sie liefen unter dem Fallgitter hindurch und kamen direkt auf uns zu. Mein Herz begann schneller zu schlagen. Wer waren die?
Es waren zwei Männer und eine Frau – und unterschiedlicher hätten sie kaum sein können. Ganz rechts ging ein hochgewachsener Mann mittleren Alters mit eisgrauem, kurzgeschnittenem Haar. Sein Gesicht war markant, mit scharfen Wangenknochen und einem kühlen Ausdruck in den blassblauen Augen. Er trug einen perfekt sitzenden dunkelblauen Anzug und hielt einen grauen Mantel in der Hand. Man hätte ihn fast für einen Businessmann halten können, wäre da nicht der verräterische Anblick seiner Engelstattoos.
Neben ihm lief die vermutlich schönste Frau, die ich je gesehen hatte. Ihre Figur war atemberaubend, ihr Teint warm und leicht olivfarben, und ihr dunkelbraunes, gewelltes Haar reichte ihr bis auf die Schultern. Sie trug ein elegantes, weißes Wollkleid, hohe Schuhe, und eine dunkelgrüne Jacke lag lässig über ihren Armen.
Der dritte Mann war asiatischer Herkunft, hatte eine schlanke, athletische Figur und helle Haut mit einer leicht goldenen Tönung. Sein Haar war dunkel, glatt, mittellang und nach hinten gekämmt, und er trug einen schlichten, schwarzen Anzug.
Nighton trat einen Schritt nach vorne, seine Stimme klang merkwürdig angespannt, als er ihnen entgegennickte: »Ihr seid früh dran.« Ich sah zu ihm hinüber und bemerkte sofort die Spannung in seinem Gesicht. Fast wirkte er... verunsichert. Was hatte er denn?
Der Mann mit dem eisgrauen Haar lächelte nur kühl. »Auf der Einladung stand keine Uhrzeit.«
Sie blieben vor uns stehen, und ich spürte die prüfenden Blicke der Ankömmlinge auf mir. Plötzlich schoss die Hitze in mein Gesicht. Die Decke! Ich wurde schlagartig rot und wünschte mir nichts sehnlicher, als in den Boden zu versinken.
»Tja dann... willkommen im Schlund vom Fliedermeer«, murmelte Nighton, und ich hörte, wie seine Stimme fast eine Oktave tiefer klang als gewöhnlich. Die schöne Frau nickte ihm respektvoll zu, und ihre Mimik drückte eine Art von Ehrerbietung aus, die mich sofort nervös machte.
»Yindarin«, sagte sie, ihre Stimme samtig und warm, mit einem leichten Akzent, den ich zuerst nicht genau einordnen konnte. »Es ist mir eine Ehre, dich kennenzulernen. Mein Name ist Maria, dem inneren Engelsnamen nach Eloria, was mein bevorzugter Name ist. Zu deinen Diensten.«
Zu deinen Diensten? Pah! Was für Dienste wollte sie ihm denn anbieten? Ich konnte meinen säuerlichen Gesichtsausdruck nur mit Mühe unterdrücken.
Ihre Stimme passte perfekt zu ihrem atemberaubenden Äußeren. Sie hatte eine Eleganz an sich, die ich nie besitzen würde, und irgendwie machte mich das wütend. Der Akzent verriet immer noch nicht viel – vermutlich stammte sie irgendwo aus dem spanischsprachigen Raum, aber das grenzte das Ganze jetzt auch nicht gerade ein. Nighton nickte nervös, was mich nur noch mehr verwirrte. Warum war er plötzlich so angespannt?
Der asiatische Mann warf Eloria einen kurzen, fast unmerklichen Seitenblick zu, bevor er sein Kinn hob und sich ebenfalls vorstellte. Seine Bewegungen waren von einer beinahe meditativen Gelassenheit durchdrungen, als wäre jeder Schritt und jede Geste wohlüberlegt. »Hallo, ich bin Jin, dem inneren Engelsnamen nach Nekira, und diesen Namen bevorzuge ich auch. Ich komme aus Tokyo.« Er richtete seine tiefbraunen Augen kurz auf mich und verneigte sich leicht. Nekira strahlte eine unerschütterliche Ruhe aus, die sofort die Umgebung erfüllte – eine stille Stärke, die nicht in Kraft, sondern in Überzeugung wurzelte. »Es ist mir eine Ehre, dich kennenzulernen, Yindarin.« Seine Stimme war ruhig, besonnen und trug eine angenehme Wärme in sich. Trotz der Macht, die er ausstrahlte, wirkte er auf mich nicht bedrohlich, sondern eher wie jemand, der jeden Konflikt lieber mit Vernunft statt mit Gewalt lösen wollte.
Wieder streifte mich sein Blick. Ich schluckte. Die Decke fühlte sich plötzlich wie eine schlechte Tarnung an, und ich wusste, dass mein Gesicht so rot wie eine Tomate war. Warum nur hatte ich mir nichts angezogen, bevor wir rausgegangen waren? War das jetzt Karma?
Der zweite Mann räusperte sich. Sein Auftreten war ebenso ruhig wie distanziert, und seine Augen verrieten eine kalte, analytische Berechnung. »Sei gegrüßt, Yindarin.« Mit unbewegter Miene streckte er Nighton die Hand entgegen. Seine Bewegungen erschienen mir präzise und effizient, als ob jede Geste einen tieferen Zweck erfüllen müsste. »Zu deinen Diensten. Mein Name ist Erik, dem inneren Engelsnamen nach Zachariel. Aber ich bevorzuge meinen Menschennamen. Ich bin gerade aus Dänemark angereist.«
Seine blassen blauen Augen, kalt und durchdringend wie Eis, wanderten über mich. Für einen Moment verharrte sein Blick auf mir, und in diesem Augenblick schien es, als würde er mich wie eine Variable in einer Gleichung betrachten, ohne emotionale Regung. »Warum ist ein Mensch hier?«
Nighton warf mir einen flüchtigen Blick zu, und zu meiner Überraschung konnte ich in seinen Augen einen Hauch von Panik erkennen. Panik? Warum?
Er öffnete den Mund.
»Das ist... das ist meine Assistentin.«