Seit einer halben Stunde lief ich auf und ab und wartete auf die Wache, die jetzt ihre Schicht hatte. Mein Herz klopfte wild in meiner Brust, und ich musste tief durchatmen, um mich zu beruhigen.
Fünf endlos lange Tage lang saß ich schon in diesem Gefängnis. Es waren Tage gewesen, die aus endlosem Grübeln und der verzweifelten Suche nach einem Ausweg bestanden hatten. Tausend Fluchtpläne hatte ich ersonnen und wieder verworfen. Jeder schien aussichtsloser als der andere.
Kellahans Drohungen, mir all mein Wissen auch gegen meinen Willen zu entlocken, waren noch nicht in die Tat umgesetzt worden. Lediglich zu einer Blutentnahme war ich genötigt worden - aber das reichte ja auch schon.
So hatte ich verdammt viel Zeit, in denen ich versucht hatte, ein Muster hinter dem Ganzen zu erkennen. Wo und in welcher Höhe lagen die Luftschacht-Zugänge, wann gingen die Lichter aus, wann wurde Nacht simuliert, wann gingen sie wieder an, wann kam welche Wache, wann kamen sie zu zweit, wann allein, wo trugen die Wachen ihre Schlüsselkarten... Alles Dinge, die ich herauszufinden und mir zu merken versuchte.
Wenn das Licht ausging und die Dunkelheit über die Zelle hereinbrach, lag ich wach und dachte an Anna, Tommy und Dad. Bilder flackerten vor meinen Augen auf - Anna, die sich in den Schlaf weinte, Tommy, der seinen Mut zu verlieren drohte, und Dad... Hatten die Zwillinge schon zugeschlagen? Oder war Nighton bei ihnen und versuchte, das Schlimmste zu verhindern? Wie mochte es ihm gehen?
Ach Nighton. Kieran. Mein Herz zog sich jedes Mal schmerzhaft zusammen bei dem Gedanken an ihn. Ob er wohl nach mir suchte? Bestimmt, so wie ich ihn kannte. Das Gewicht der Ungewissheit drückte stetig schwer auf meine Brust. Ich würde ihn so gern warnen, doch leider wusste ich nicht, wie.
Doch in diesem Augenblick musste ich mich auf meinen Plan konzentrieren, also riss ich mich am Riemen und zählte weiter die Sekunden.
Der Plan. Mein einziger Hoffnungsschimmer. Alle halbe Stunde kam eine Wache vorbei, die jedes Mal durch eine schwere Hochsicherheitstür musste. Für den Rundgang benötigte sie exakt sechseinhalb Minuten hin und zurück. Wir befanden uns in Trakt sechzehn, was laut Gil der absolute Hochsicherheitstrakt war. Eine schwarze Sechzehn prangte zudem überall auf den Wänden im Gang, als warnte sie mich ständig, dass es keinen Weg nach draußen gab. Nicht ohne die Schlüsselkarte. Nicht ohne ein Wunder. Und genau so eine brauchte ich.
Ich hatte unzählige Male überlegt, wie ich an die Karte jener Wache kommen konnte, die die Nachmittagsrundgänge machte. 'Schinkenbacke', nannte Gil ihn immer, und jedes Mal, wenn er den Namen aussprach, lag ein belustigter Glanz in seinen Augen, obwohl die Situation alles andere als witzig war. Der Kerl war riesig, muskelbepackt und roch nach gebratenem Hackfleisch - kurz, er war eine wandelnde Fleischwand.
Da wir rund um die Uhr bewacht wurden, sowohl durch Kameras als auch durch Mikrophone, war klar, dass ich mit Gil keinen Plan ersonnen konnte. Das musste ich allein tun. Trotzdem hielt Gil das nicht ab, mir beizustehen, indem er mir Mut machte. Zwar auf seine zynische, mich nicht-ernstnehmende Art, doch es war besser, als allein zu sein.
Trotzdem stellten die Kameras ein großes Problem da. Allerdings hatte ich keine Lösung für sie, denn ich konnte sie ja schlecht abstellen. In meiner Zelle gab es allein drei Stück, an die ich nicht rankam. Mein Plan schloss Kameras also aus. Stattdessen baute ich auf das Alarmsystem. Wenn der dröhende Alarm losging, der einen Aufstand ankündigte, dauerte es genau eine Minute, bis der Gang voll von Sicherheitskräften war. Das war eine Minute, in der ich in die Lüftungsschächte verschwinden musste. Auf dem Gang gab es alle Nase lang einen Zugang. Und Schinkenbacke würde mir dabei helfen. Sofern Gil, der noch keine Ahnung davon hatte, mitspielte. Und sofern die Wache sich als so berechenbar zeigte, wie ich hoffte.
Ich atmete tief durch und lauschte, ob die Wache mit dem Rollwagen voller synthetischer Nahrung schon näher gekommen war. Jede Bewegung musste sitzen. Jeder Atemzug. Ich durfte keinen Fehler machen. Gil beobachtete mich aufmerksam durch die Scheibe. Er schien gemerkt zu haben, dass ich etwas plante.
Ein metallisches Räderquietschen holte mich aus meinen Gedanken. Mein Herz wollte in mir versacken, doch ich zwang mich zur Ruhe. Keine Panik. Nicht jetzt.
Die Wache näherte sich meiner Zelle. Sie verteilte das Frühstück, warf jedem eine zugeschweißte Tüte durch die Klappe. Für mich gab es wenigstens normale Nahrung und keine graue Synthetikpampe. Heute waren es Schinken-Sandwiches. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Ironie des Schicksals.
Während Schinkenbacke sich Gil zuwandte, riss ich hastig das Papier auf und stopfte mir das Sandwich in den Mund. In der nächsten Sekunde griff ich mir an den Hals und wechselte einen blitzschnellen Blick mit Gil, der nur blinzelte. Dann gab ich ein dramatisches Aufstöhnen von mir und ließ mich zu Boden gleiten. Dort wälzte ich mich in einem geschauspielerten Todeskampf hin und her, tat, als würde ich keine Luft bekommen.
Die Wache drehte sich überrascht um und stieß hervor: »Was hat sie?« Die Panik in seiner Stimme war deutlich hörbar. »HS-010397, was machst du da?«
»Also wenn du meine bescheidene Meinung hören willst«, hörte ich Gil überlegen, »erstickt sie gerade an euren Kochkünsten.«
Wie um das zu unterstreichen, röchelte ich wild vor mich hin und strampelte mit den Füßen. Aus dem Augenwinkel bekam ich mit, wie die Wache auf meine Zelle zustürmte, die Schlüsselkarte in der Hand, bereit, mir zu helfen. Während die Tür aufglitt, warf ich einen letzten Blick auf die blinkende Überwachungskamera. Sie sahen mir zu, das wusste ich. Dann würde ich ihnen jetzt wohl mal eine Show bieten.
Die Wache beugte sich über mich, um mir zu helfen, während seine Hand nach dem Notrufgerät in seinem Gürtel griff. Genau das war mein Moment. Blitzschnell griff ich nach dem Taser in seinem Gürtel. Mit einem ruckartigen Zug entriss ich ihm das Gerät. Der Wachmann blickte überrascht auf, doch bevor er reagieren konnte, hielt ich den Taser direkt an seine Halsbeuge und drückte den Auslöser. Eine Reihe elektrischer Schläge schoss durch ihn und er zuckte zusammen, während die Spannung durch seinen Körper lief. Die Wache stürzte nach vorne und fiel zu Boden. Ich nutzte die Gelegenheit, um nach dem Schlagstock und der Schlüsselkarte zu greifen, die ihm beim Sturz aus der Hand gefallen war.
Atemlos stürzte ich raus auf den Flur. Keine Sekunde später ging der ohrenbetäubende Lärm los, und der ganze Korridor wurde in grelles, oranges Licht getaucht.
»Du Simulantin!«, rief Gil begeistert.
Schnell öffnete ich die Tür zu Gils Zelle. Er trat hinaus, seine Augen funkelten vor Vorfreude. Ohne ein Wort zu verlieren, drückte ich ihm die Schlüsselkarte in die Hand. »Sorg dafür, dass alle rauskommen!«, befahl ich ihm hastig. Gil grummelte etwas über meine Autorität, aber sein Gesicht zeigte die gleiche Entschlossenheit wie ich sie fühlte.
»Klar, die große Freiheit in Person hat gesprochen«, sagte er mit einem sarkastischen Grinsen und machte sich daran, die elektronischen Schlösser der anderen Zellen zu öffnen. Kurz darauf brach Chaos aus, und Geschrei sowie Gejohle aus den umliegenden Zellen hallten durch den Flur.
Mit aller Kraft schob ich den Essenswagen, der einige Meter den Flur entlang stand, direkt auf die Stelle an der Wand zu, die ich als meinen Zugang zum Luftschacht auserkoren hatte. Der Korridor wurde von dem hektischen Stimmengewirr und dem Geräusch der sich öffnenden Zellen erfüllt.
Den Schlagstock im Anschlag kletterte ich auf den Wagen und stützte meine Hände auf die Hüften. Wie konnte ich den Ventilator stoppen? Wenn ich es schaffte, ihn zum Stillstand zu bringen, könnte ich zwischen den Blättern des Rotors hindurchschlüpfen. Platz genug gab es.
»Nimm den Stock!«, rief Gil durch das Chaos hindurch, der erkannt hatte, was ich planze. »Mit dem lässt sich das Getriebe anhalten!«
Das war in der Tat eine gute Idee. Sofort schob ich die Waffe vorsichtig in den Rotor des Ventilators. Der Widerstand ließ meinen Arm zittern, aber schließlich standen die Rotorblätter still. Der Schlagstock war zwischen Wand und Blatt klemmen geblieben.
Jetzt musste ich nur noch den Schacht erreichen. Das Gewusel der Flüchtenden wurden lauter, und es hallten bereits Rufe des Sicherheitspersonals durch den Korridor. Gil hatte das Chaos perfekt orchestriert. Ich spürte trotzdem, dass die Zeit drängte. Da kam Gil schon mit angespannter Miene zu mir gerannt und kletterte ebenfalls auf den Wagen.
»Heb mich hoch!«, bat ich Gil atemlos, der das nicht hinterfragte, sondern mich ohne zu zögern an der Hüfte packte und in die Höhe hievte, sodass ich an den Rand des Lüftungsschachts kam. Mit einem tiefen Atemzug zog ich mich mühsam durch die Öffnung des Lüftungsschachts. Die Kanten des Schachts ritzten sich schmerzhaft in meine Hände, aber ich biss die Zähne zusammen und schaffte es schließlich hinein.
Gerade als ich mich im Schacht niederließ, stieg Gil vom Wagen, dem er einen kräftigen Stoß verpasste. In der nächsten Sekunde sprang er in die Luft und zog sich nun selbst durch die Öffnung. Er schlüpfte geschickt zwischen den Rotorblättern hindurch und landete neben mir im Schacht.
»Gib Gas, bevor die ganze Party auf uns aufmerksam wird!«, zischte er. Als wäre dies ein Stichwort, wurde Geschrei unter uns laut. Der Alarm dröhnte unerbittlich, und ich konnte das Geräusch der schweren Stiefel und das Klirren der Sicherheitsleute hören, die durch den Gang rannten.
Ich wartete nicht, sondern kroch sofort los. Ich war total überrascht davon, dass mein Plan aufgegangen war. Das warf nur leider das nächste Problem auf: Was nun? Am besten wäre es, ich würde mich auf die Suche nach einem Telefon machen, um Nighton zu warnen. Ja, das war eine gute Idee. Er musste hier wegbleiben!
Der Schacht war labyrinthartig und dunkel, und der ständige Lärm des Alarms machte es schwer, die Orientierung zu behalten. Ich stieß mehrmals schmerzhaft gegen die Wände, wobei ich mir bestimmt dutzende blaue Flecken holte. Meine Handflächen brannten, und meine Knie fühlten sich taub an. Gil war die ganze Zeit hinter mir, seine Bewegungen waren fast synchron zu meinen.
Wir kamen an einigen Ventilatoren vorbei, doch die meisten mündeten in Gänge oder Lager. Hoffentlich fand ich bald ein Büro, wo ich telefonieren konnte! Zu meinem Glück sollte ich nicht mehr lange suchen müssen. Bald tauchte vor uns ein weiterer Ventilator auf, der tatsächlich in ein Büro mündete. Wir warfen einen Blick hinein. Niemand drin. Erleichtert schob ich den Schlagstock erneut in den Ventilator und brachte ihn zum Stillstand. Ich ließ mich vorsichtig hinabgleiten und kam auf dem Schreibtisch zu stehen. Die Kälte des Metalltisches drückte sich in meinen Knie, während ich mich darauf abstützte. Gil folgte mir.
Wo war nun ein Telefon?
Ich kletterte vom Tisch herunter und begann, die Schubladen des Schreibtischs leise zu durchsuchen. Plötzlich fiel mir ein silbernes Metallschildchen auf, das auf einer Aktenmappe angebracht war.
'Timothy Kellahan'. Alle Akten trugen denselben Namen. Das Büro gehörte also eindeutig ihm. Ein Triumphgefühl durchströmte mich, als ich mich umblickte.
»Das ist Kellahans Büro! Treffer!«, flüsterte ich aufgeregt und sah, wie ein böses Grinsen auf Gils Gesicht auftauchte. Da entdeckte ich tatsächlich ein Telefon auf einem Wandschränkchen. Mein Herz machte einen Satz. Mit zitternden Händen wählte ich Nightons Handynummer. Mein Herz klopfte wild, und ich musste zweimal von vorne beginnen, bevor ich die Nummer richtig eingetippt hatte.
Während ich mit dem Telefon kämpfte, schnappte sich Gil einen Edding aus Kellahans Stiftbecher und begann, seine Schreibtischmatte mit wilden, chaotischen Kritzeleien zu verzieren, von denen die meisten ein haariges männliches Genital darstellten. Gleichzeitig schmierte er die Schubladengriffe und die Stuhllehnen mit Klebstoff voll, während er alles, was auf dem Schreibtisch stand – Büroklammern, Dosen mit Reiszwecken, Visitenkarten, ein volles Wasserglas – umwarf. Als letzten Schliff kippte er eine Flasche Brandy, die ich in einer Schublade entdeckt hatte, über die Akten, auf denen 'Top-Secret' stand. Richtig ausflippen tat er, als er eine Zigarrenbox fand. Er nahm sogleich eine an sich und zündete sie mit einem seligen Seufzen an.
Das Telefon begann zu tuten. Ich hielt den Hörer fest, als sich ein Klicken auf der anderen Leitung bemerkbar machte.
»Wer ist da?«