»Sie mitnehmen? Aber Nighton!« Penny schnappte nach Luft. Nighton warf erregt die Hände in die Luft und rief: »Hast du eine andere Idee?! Das dunkle Schloss ist keinen Kilometer entfernt von hier, Selenes Schergen oder ihre unbeseelten Dämonen könnten jederzeit auftauchen! Es gibt keinen sicheren Ort für Jennifer in Unterstadt, und sie hierzulassen gleicht einem Todesurteil! Sie kommt mit uns. Es ist jetzt so.«
Angespannt musterte er mich. Ich stand einfach nur mit halb geöffnetem Mund da und wusste nicht, was ich denken sollte. Einerseits, yay, ich wurde miteinbezogen - andererseits hatte ich es ernst gemeint, als ich gesagt hatte, dass ich nicht nach Unterstadt wollte. Schon gar nicht vor dem Hintergrund, dass Selene mein Blut zu brauchen schien, um meinen Dämonenvater zu erwecken. Ich sollte definitiv nicht hier sein.
Ich schluckte einmal. In meinen Eingweiden brodelte es nervös.
»Also das heißt, ich muss mit euch mit nach...?«
»So sieht es aus«, knurrte Nighton und griff sich an die Nasenwurzel, ehe er auf mich zeigte und nach wie vor angespannt und mit seinem Kommandoton befahl, den er sonst nur meinen Freunden gegenüber anschlug: »Mach dir einen Zopf. Du riechst nach Mensch, und Haare sind ein wichtiger Geruchsträger. Wenn dich der Falsche wittert, könnte das böse enden.« An Penny gewandt forderte er ebenso bestimmt: »Geh vor und schau, ob die Camazoth bereit sind. Fineas wollte sie bereitstellen.«
Uns einen letzten Blick zuwerfend, machte Penny, dass sie aus dem Turm kam. Nighton trat auf mich zu. Er wirkte, als wolle er unbedingt den Eindruck erwecken, ruhig zu sein.
»Das ist alles andere als optimal, aber wir haben keine Wahl«, begann er mit unterschwellig angespannter Stimme zu sprechen und legte die wie im Gebet Hände aneinander. Sein Blick intensivierte sich.
»Das ist gerade eigentlich die schlimmste Wendung, die mir hätte unterkommen können, wenn ich ehrlich bin. Aber damit es klappt, ist es unglaublich wichtig, dass du das tust, was ich oder Penny dir sagen, hast du verstanden?« Er ergriff mich an den Schultern und schaute mich eindringlich an. Ich schluckte und lenkte meinen Blick gen Boden. Dann nickte ich einmal.
»Gut«, fuhr Nighton fort und lauschte kurz, als hätte er etwas gehört. Dann aber fuhr er fort. »Folgendes: Du sprichst nicht, du bewegst dich nur, wenn wir es tun, du stehst nicht herum, du passt auf, du bleibst immer hinter mir und vor Penny, du wagst dich nicht aus meinem oder ihrem Sichtfeld, du schaust niemandem ins Gesicht und unternimmst keine Alleingänge. Wenn ich sage ‚Versteck dich‘, dann tust du genau das und überhaupt, du machst alles, was ich dir sage. Ist das angekommen?«
Ich schnaubte und fragte sarkastischer als beabsichtigt: »Darf ich atmen?«
Nighton verengte seine Augen zu schmalen Schlitzen.
»Das ist kein Spaß! Wir sind hier in Unterstadt, mach dir das gefälligst bewusst!«, blaffte er mich auf einmal an. Ich setzte eine betretene Miene auf und erwiderte sofort: »Ja, ich weiß. Tut mir leid.«
Nighton seufzte, ließ mich los und beugte sich hinab, um den Seesack zu öffnen. Dabei sagte er: »Nein, mir tut es leid, die Situation ist einfach gerade nur sehr verfahren und ich habe ehrlich Angst, dass dir etwas zustößt. Immerhin bin ich nicht bei Kräften und weiß nicht, ob ich dich schützen kann. Oder ob Penny es kann. Sie ist zwar einer der fähigsten Engel, der mir in den letzten Jahrzehnten untergekommen ist, aber sie ist noch jung und unerfahren. Wir können also nur hoffen, dass es glatt geht.« Oh Gott, wäre ich doch nur zuhause geblieben. Verdammtes Oberstadt, und verdammtes Ahnenfest!
Rasch flocht ich mir einen seitlichen Zopf, während Nighton im Seesack wühlte und die Decke des Turms im Auge behielt, an der er scheinbar etwas sehen konnte, das sich meinen Blicken entzog, denn er setzte einen noch verkrampfteren Gesichtsausdruck auf. Dann schien ihm noch etwas anderes, ebenso Wichtiges einzufallen, denn er wandte mir wieder sein Gesicht zu und zeigte auf mich.
»Eins noch: Wenn Penny und mir was passiert, dann verschwindest du augenblicklich, und zwar ohne zurückzuschauen.« Er wurde fündig und zog ein Fläschchen aus dem Sack, das er mir vor die Nase hielt.
»Das ist Grabsand. Den benutzt du, wenn du Gegner blenden willst. Du wirfst die Flasche auf den Boden und kannst verschwinden oder dir Zeit verschaffen, falls das von Nöten sein sollte. Und das hier-«, er beförderte ein kleines Messer hervor, »-ist für den Notfall. Ich weiß, dass du weißt, dass das kein Spielzeug ist! Zieh deine Jacke an und verstecke es in ihrem Ärmel. Dann kommst du leichter ran.«
Ich runzelte die Stirn, tat aber, was er sagte und ließ anschließend zu, dass er das Fläschchen in der Front-Hosentasche meiner Jeans verstaute. Seine Worte gefielen mir gar nicht. Mit Beklemmung in der Stimme forschte ich direkt: »Wieso sollte euch denn etwas passieren? Ich dachte, ihr sucht nur diesen Spion auf und redet mit ihm!«
Nighton schnaubte und schnürte den Seesack, ehe er ihn sich über die Schulter schwang.
»Wie du schon selber festgestellt hast - auf unseren Missionen geht nie alles glatt. Und ich will einen Besen fressen, wenn es diesmal anders ist.«
Damit schob er mich in Richtung des rötlich glimmenden Portals und nach draußen.
Außerhalb des Turms empfing mich eine sengende Hitzebrise, die den Gestank von Schwefel mit sich trug. Ich hielt einen Arm vors Gesicht und ließ mich von Nighton zu Penny dirigieren, die schon auf einem von zwei pferdegroßen Camazoths saß, auch Höllenfledermaus genannt, und uns entgegensah.
Ich betrachtete die Camazoths. Noch nie hatte ich einen aus unmittelbarer Nähe gesehen. Lange, weiße Fänge ragten ihnen aus den Mäulern und ihre riesigen Spitzohren standen steif ab. Sie hatten muskulöse Hinterbeine und kleine Vorderfüßchen, aber das Auffallendste waren die gelben Glupschaugen. Beide Dämonen kreischten auf, als sie Nighton erblickten, und tippelten auf der Stelle herum, die ledernen Flügel mit den kleinen Greifhänden auf- und zuklappend. Jemand hatte ihnen ein Reitgeschirr aufgezogen, an dem sich lange Zügel befanden. Ich wich ein wenig zurück, als mir klar wurde, was mich erwartete.
»Oh, nicht doch!«, wimmerte ich und verspürte das Verlangen, in den Turm zurückzurennen, aber da hatte ich die Rechnung ohne Nighton gemacht. Der schnalzte mit der Zunge, als hätte er ein Pferd vor sich. Der reiterlose Camazorh röhrte auf und lief auf Nighton und mich zu, die Flügel dabei als Boden-Fortbewegungsmittel nutzend. Bei uns angekommen, legte er sich wie eine Sphinx auf den Boden. Ich wich schon zurück, aber da verlor ich den Boden unter den Füßen. Nighton hatte mich ohne Vorwarnung an der Hüfte gegriffen und auf den Rücken der Fledermaus gehievt. Absolut versteinert krallte ich mich in den weichen Nackenflaum der Fledermaus, die das wohl nicht mochte, denn sie kreischte auf und schlug mit den Flügeln. Das schüttelte mich gehörig durch.
Nighton tätschelte dem Wesen die Schulter und sah mit verkniffener Miene zu mir hoch.
»Gut festhalten, ja?«
Zu einer Antwort war ich nicht fähig. Ich sah auch nicht, wie Nighton hinter mir aufstieg und die Zügel an sich nahm, ich kniff einfach nur die Augen zu und presste beide Beine fest an den warmen Leib der Fledermaus.
Dann ging ein Ruck durch das Wesen, als es sich erhob und umdrehte. Ein weiterer Ruck, und im nächsten Moment strich ein Luftzug an mir vorbei. Ich sandte ein Stoßgebet zum hoffentlich existierenden Gott.
Lieber Gott, bitte mach, dass ich nicht herunterfalle!
Das Geräusch von kräftigen Flügelschlägen setzte ein, zusammen mit wilder Schaukelei. Wie schnell wir flogen, wusste ich nicht, ich wusste nur, dass es alles andere als lustig war. Ich fühlte mich wie auf einem Schiff, das über Wellentäler ritt. Ich konnte zwar nicht von mir behaupten, dass ich Höhenangst hatte. Immerhin hatte ich es als Yindarin geliebt, durch den Himmel zu schießen. Aber ungesichert auf einer wild schaukelnden Höllenfledermaus zu sitzen und über ein Dämonen-verseuchtes Land zu fliegen, welches man ruhig als Brutstätte des Bösen bezeichnen durfte, hatte eigentlich nicht auf meiner Was-will-ich-tun-bevor-ich-sterbe-Liste gestanden. Außerdem trieb sich garantiert Selene hier herum. Nicht auszudenken, wenn sie uns entdecken und verfolgen würde!
Ich verlor völlig das Zeitgefühl. Flogen wir eine halbe Stunde? Eine Stunde? Das Einzige, was gleichblieb, waren die drückend heiße Luft und dieser Gestank. Wie konnten beseelte Dämonen hier nur leben? Kein Wunder, das Oberstadt überbevölkert mit beseelten Engeln war und alle Dämonen auf der Erde herumvagabundierten. Nach geraumer Zeit spürte ich, dass wir niedriger flogen. Die Luft veränderte sich, sie wurde - frischer? Das brachte mich zum ersten Mal dazu, die Augen einen Spalt weit zu öffnen.
Vor uns ausgebreitet lag ein wildes, pechschwarzes Meer. Ich machte große Augen, atmete befreit ein und aus und genoss die kalte Seeluft. Die Camazoths flogen extra tief und ich bekam sogar etwas Gischt ab, was mir fast ein Auflachen entlockt hätte, wenn das geflügelte Biest in dem Moment nicht einen übermütigen Schlenker nach rechts gemacht hätte. Das machte aus dem angefangenen Lachen ein beendendes Aufjaulen, bei dem Puka sicherlich neidisch geworden wäre.
Als sich die Fledermaus beruhigt hatte, wagte ich es, mich ein bisschen nach rechts zu beugen und nach unten zu schauen. Das blasse Licht zweier Monde warf unsere Schemen auf das Wasser, und erst da merkte ich, dass wir pfeilschnell dahinschossen. Auf einmal sah ich aus dem Augenwinkel Penny nahen, die stetig näher an uns herankam, bis die Schwingen ihrer Fledermaus beinahe die der unseren streiften.
»Macht ihr auf euren Missionen immer so abgefahrene Sachen?!«, brüllte ich durch den Gegenwind zu meiner Freundin, die mich jedoch hervorragend verstand.
Sie lachte und duckte sich auf ihrer Fledermaus.
»Ist auch mein erstes Mal!«, schrie sie zurück. Dann zeigte sie hinter sich. Ich versicherte mich, dass ich fest saß, dann drehte ich mich vorsichtig nach hinten um und lugte an Nightons Statur vorbei. Der Wind schlug mir dabei meinen Zopf ins Gesicht.
Hinter uns am Horizont ragte bedrohlich und abschreckend Selenes dunkle Residenz auf dem Berg mit ihren Türmen in die Höhe. Der Himmel darüber war blutrot und durchzogen von schwarzen Wolken und Schlieren, und ich glaubte, einen der zahlreichen Blutflüsse ins Meer münden zu sehen. Es war ein beeindruckendes Bild. Dennoch löste es alte Erinnerungen und Beklemmung in mir aus, als wandte ich den Blick ab. Anstatt nach vorn zu schauen, blickte ich jedoch über die Schulter hoch zu Nighton. Der schaute konzentriert nach unten, erwiderte aber kurz meinen Blick, mir ein knappes Lächeln schenkend.
»Der Felsen muss hier irgendwo sein«, murmelte er, suchend auf das wilde Meer schauend. Unser Camazoth wurde langsamer, und auch Penny drosselte das Tempo. Sie flog Kreise, während sich ihre Fledermaus stetig tiefer schraubte.
»Flieg nicht so tief, im Wasser sind Glynwyd!«, rief Nighton ihr zu.
»Ich passe schon auf!«, schrie Penny von unten zurück. Noch wusste ich nicht, was ein Glynwyd war, doch das sollte ich leider keine Sekunde später erfahren: Ein gigantischer Schatten, noch schwärzer als das Wasser selbst, bildete sich unter der Wasseroberfläche ab. Er wurde rasch größer und ich konnte schon sehen, wie Penny panisch nach Luft schnappte und mit ihrem Camazoth aufsteigen wollte. Doch es war zu spät.
Ein Fisch-artiges, blau-geschupptes Wesen mit der Größe eines Kleinlasters schoss katapultartig aus dem Wasser hervor. In den fünf Sekunden, in denen ich es sah, erkannte ich zerfledderte Flossen, zwei gelbe, vorstehende Augen, lange, gekrümmte Zähne in einem weit aufklaffenden Maul, das sich um Penny und den Camazoth schloss. Die Fledermaus versuchte noch zu entwischen und gab ein leidiges Kreischen von sich, ehe der Fisch sein Maul schloss und die Höllenfledermaus in zwei Teile zerbiss. Ich war gar nicht im Stande, zu realisieren, was da gerade passiert war. Dafür kam uns Nightons blitzschnelle Reaktionsfähigkeit zugute. Auf einmal schoss unser Camazoth senkrecht gen Himmel, außer Reichweite von anderen potenziellen Angreifern. Ich versuchte irgendwie, dem Druck zu entgehen, der mich an Nighton presste, um nach Penny Ausschau zu halten. Weit oben zog Nighton die Fledermaus in die Waagerechte.
Doch Penny war nirgends zu sehen.
»Nein!«, heulte ich auf und schlug eine Hände vor den Mund, während ich mich so weit zur Seite beugte, dass Nighton mich packen musste, damit ich nicht von der Höllenfledermaus fiel. Penny - war sie etwa - nein, das durfte nicht wahr sein!
»Wir müssen ihr helfen!«, schrie ich auf und riss an Nightons Ärmel. Sein Gesicht war leichenblass, als er langsam und fast paralysiert entgegnete: »Wir können da nicht runter.«
»Aber es ist Penny! Wir müssen sie retten!«
»Aber wenn wir dort runtergehen, sind wir die nächsten! Wo ein Glynwyd ist, sind noch mehr! Die patrouillieren das gesamte Gebiet um die Stadt herum, das wäre Selbstmord!«
Für ein paar Sekunden starrte ich ihn an. Dann traf ich eine sehr dumme Entscheidung. Ich grub die Hacken in die Flanken der Fledermaus. Die mochte das nicht. Sie bäumte sich auf und gab ein schrilles Kreischen von sich, ehe sie sich rückwärts nach hinten fallen ließ.
Was genau ich mir davon erhofft hatte? Keine Ahnung. Ich wusste nur, dass wir Penny helfen mussten. Ich bekam mit, wie Nighton den Fall zu stoppen versuchte, doch es gelang ihm nicht. Rasend schnell schossen wir einer Felsgruppierung entgegen, die aus dem Meer ragte. Ich sah uns schon dort unten zerschellen, da ging ein schmerzhafter Ruck durch meinen Oberkörper, der mir die Luft aus den Lungen drückte. Ich realisierte, dass es Nightons Arm war, der sich da um meine Mitte geschlungen hatte. Fast in derselben Sekunde sprang er mit mir vom Rücken der Fledermaus ab. Wir landeten sehr unsanft auf dem höchsten Felsbrocken. Der Camazoth schlug irritiert mit den Flügeln, um an Höhe zu gewinnen, war aber zu schnell. Mit einem Platschen fiel er unweit der Felsen ins Wasser.
Unbeholfen stand ich auf, den Schmerz in meinen Knien und Handballen ignorierend und stolperte zum Abgrund, um nach unten zu sehen. Weder der Camazoth noch einer der Fische waren zu sehen. Ein paar Sekunden starrte ich atemlos auf die aufgewühlte See, dann wurde ich grob gepackt und auf die Füße gezogen. Mich leicht schüttelnd und mit vor Zorn grell glimmenden Augen fuhr Nighton mich aggressiv an: »Was verdammt sollte das denn?!«
Ich riss mich los und schrie mit brüchiger Stimme zurück, während das Unaussprechliche durch meinen Kopf schoss: »Ich weiß es doch auch nicht, ich - ich - ich konnte nicht tatenlos zusehen! Wir dürfen hier nicht so rumstehen, du bist der verfluchte Yindarin! Mach was!«
»Ich bin aber verdammt nochmal nicht stark genug, um es mit einer Horde Glynwyd aufzunehmen, und ich lasse dich auf keinen Fall allein!«, brüllte Nighton zurück. Dort, wo er stand, splitterte der Felsen und bildete ein sternförmiges Muster um seine Füße.
»Penny ist nicht mehr zu helfen!«