Als ich aufwachte, war ich allein. Gähnend streckte ich mich. Wie spät war es überhaupt? Und wo war Nighton? Draußen war es dunkel, doch es war Herbst, das hieß also nichts. Ich schlug die Bettdecke zurück und griff nach meinem Handy, das in meiner Jackentasche steckte. Kaum noch Akku, aber es zeigte elf Uhr abends an. Noch so früh? Nighton war schon eine ganze Weile weg! Sorge stieg in mir auf. Was musste er so Dringendes erledigen? Aber dann beruhigte ich mich wieder. Er war der Yindarin, er konnte auf sich aufpassen. Kein Grund, in Panik zu verfallen.
Plötzlich knurrte mein Magen, und ich verzog das Gesicht. Schon wieder Hunger? Dabei hatte ich doch erst gegessen! Ich seufzte. Sollte ich mich nach etwas Essbarem umsehen oder mich einfach wieder ins Bett werfen?
In diesem Moment durchbrach ein Geräusch die Stille. Es kam von oben – vom Dach. Ein Schauer lief mir den Rücken hinunter, während ich instinktiv die Luft anhielt. War da jemand auf dem Dach? Oder spielte mir meine Fantasie einen Streich? Vielleicht war es nur ein Tier – Waschbären, Eichhörnchen? Aber als das Geräusch wieder ertönte, diesmal lauter, fiel jede logische Erklärung in sich zusammen.
Mein Herz begann zu rasen. Wer oder was war da oben? Die Zwillinge? Selene?
Ich biss die Zähne zusammen und entschloss mich, nachzusehen. Was blieb mir anderes übrig? Ja, ich hätte wegrennen können… aber ein Teil von mir dachte sich, dass Selene sich ihren Weg wohl kaum den Weg durch das Dach graben würde. Nein, sie war eher der Typ Türen-Wegsprenger. Vorsichtig also öffnete ich das weiße Fenster, und eine kalte Nachtbrise fuhr mir sofort durch das Haar. Mein Atem stockte, als ich den Fensterrahmen umklammerte und mich langsam auf das Fensterbrett zog. Zentimeter für Zentimeter, Schritt für Schritt. Ein schneller Blick nach unten ließ mich den Atem anhalten, und ich kniff die Augen sofort wieder zusammen. Verdammter Mist, das war ja höllisch hoch! Das Fenster war mir nicht so nah am Abgrund erschienen, als ich noch drinnen war! Was um alles in der Welt tat ich hier eigentlich?
Der Wind fuhr mir unter das Hemd, als wollte er mich ins Zimmer zurückdrücken, doch ich ließ nicht locker. Mit einem kraftvollen Zug legte ich einen Arm auf das Dach und spähte vorsichtig über den First. Dort saßen kein Waschbär und auch keine Zwillinge: Es war Nighton. Er hockte, die Beine angewinkelt, die Arme auf den Knien abgestützt, tief in Gedanken versunken auf den Dachschindeln. Sein Blick ging ins Leere, als ob die ganze Welt für ihn nicht existierte.
»Hast du nicht Höhenangst?« Mein Atem kam schwer, während ich die Worte herauspresste. Damit riss ich ihn aus seiner Trance. Er sah zu mir, und im nächsten Moment spiegelte sich pure Panik in seinen Augen. Ruckartig sprang er auf.
»Was machst du denn da? Willst du etwa fallen?!«
»Nein, eigentlich will ich zu dir aufs Dach!«, rief ich und merkte, dass ich nicht mehr zurückkonnte. Der Wind rüttelte heftig an mir, meine Füße berührten noch den Fensterrahmen, aber meine Hände krallten sich krampfhaft ins Dach. Der Rückweg schien unmöglich. Nighton jedoch war im Bruchteil einer Sekunde bei mir und streckte mir seine Hand entgegen. Ohne zu zögern griff ich danach, und sobald sich seine Finger um meine geschlossen hatten, zog er mich mühelos zu sich aufs Dach.
Oben angekommen, schnappte ich nach Luft. Der Wind war stärker, als ich erwartet hatte, und ich klammerte mich an Nighton, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
»Du hättest runterfallen können!«, warf Nighton mir vor. Ein wütender Zug hatte sich um seinen Mund gebildet. Doch anstatt mich einschüchtern zu lassen, zuckte ich nur mit den Schultern. »Bin ich aber nicht. Was machst du überhaupt hier oben? Ich dachte, du wolltest was erledigen.«
Sein Blick verdunkelte sich. Ohne ein Wort ließ er sich wieder auf die Dachschindeln sinken, und ich folgte ihm, obwohl es alles andere als einfach war, hier oben Halt zu finden. Die Schindeln waren glatt, und der Wind tat sein Übriges, doch Nighton half mir, bis ich endlich sicher neben ihm saß. Meine Finger waren inzwischen so kalt, dass sie sich taub anfühlten. Ich formte meine Hände zu einer Schale und hauchte warmen Atem hinein, in der verzweifelten Hoffnung, etwas Gefühl zurückzubekommen.
»Hier.« Ohne ein weiteres Wort schlüpfte Nighton aus seiner Lederjacke und legte sie mir um die Schultern. Sie war angenehm warm, auch wenn Lederjacken nicht gerade das beste Mittel gegen Kälte waren. Trotzdem bedankte ich mich leise und zog sie enger um mich. Ich sah zu ihm auf.
»Also, raus damit. Warum sitzt du hier oben?«
Nighton schwieg erst, als würde er nach den richtigen Worten suchen. Dann schlich sich ein Lächeln auf seine Lippen, so flüchtig, dass ich es fast nicht bemerkte. Den Blick auf den silbern schimmernden Fluss gerichtet, der in der Ferne unter uns floss, sagte er leise: »Es ist seltsam. Erinnerst du dich an den Abend deiner Erweckung? Du saßt auf dem Dach, genau wie jetzt, und ich bin zu dir hochgekommen, um nach dir zu sehen. Hättest du jemals gedacht, dass das alles an diesen Punkt führt?«
In seiner Stimme lag etwas, das ich selten bei ihm hörte – eine Schwere, eine Spur von Traurigkeit. Ich senkte den Blick auf meine Hände, spürte, wie diese unausgesprochene Melancholie zwischen uns schwebte.
»Nein«, antwortete ich schließlich ehrlich. »Ich hätte von vielen Dingen nicht gedacht, dass sie passieren. Es hast sich so wahnsinnig viel verändert in diesem einen Jahr. Manches war gut, manches... eher nicht.«
Nighton nickte, verfiel in eine kurze Stille, als würde er die Worte abwägen, doch diese hielt nicht lange. Plötzlich brach es aus ihm heraus: »Sekeera hat heute mit mir gesprochen. Sie sagte, ich kann nicht auf dich aufpassen.«
Ich wandte ihm überrascht den Kopf zu. Sein Gesichtsausdruck war gequält, und es war offensichtlich, wie sehr ihn das beschäftigte. Mein Herz zog sich kurz zusammen. »Glaubst du das auch?«
Er ballte die Hände zu Fäusten. »Wie könnte ich nicht? Seit ich wieder in dein Leben getreten bin, bist du andauernd in Gefahr. Du wirst verletzt, verschleppt, bedroht und Dorzar hätte dich fast noch...« Er brach ab, seine Fäuste zitterten leicht. »Sekeera hat Recht. Ich kann das nicht ignorieren. Ich war nie gut für dich und bin es auch jetzt nicht.«
»Ach du meine Güte!«, stieß ich hervor. Es fiel mir schwer, den Ärger in meiner Stimme zu unterdrücken. Darauf lief das also hinaus? Nighton schaute mich verdutzt an, als hätte er alles an Reaktion erwartet, bloß das nicht. »Entwickelst du jetzt etwa Minderwertigkeitskomplexe?« Ich schüttelte energisch den Kopf. »Nighton, wir haben das längst geklärt. Ja, du hast mich verraten. Ja, du wolltest mich totsehen. Ja, du wolltest mich an Selene ausliefern. Ja, ja, ja – du wolltest eine Menge! Aber am Ende hast du dich für mich entschieden. Du hast dich auf meine Seite geschlagen, und das ist alles, was zählt. Nur weil ich ständig in Lebensgefahr schwebe, heißt das noch lange nicht, dass du nicht gut für mich bist. Das ist melodramatischer Quatsch! Es war meine Entscheidung, bei euch zu bleiben. Und du darfst das nicht auf dich beziehen. Ich bin viel stärker, als ich aussehe.«
»Das weiß ich«, erwiderte Nighton unglücklich. »Aber ich weiß nicht, ob ich stark genug bin. Wenn ich nur daran denke, dass dir etwas passieren könnte, dann... Ich würde es nicht verkraften. Nicht noch einmal.«
»Dann denk nicht dran! Schieb es weg. Denk meinetwegen an Hundewelpen, aber hör auf, dir mit solchen Weltuntergangsszenarien das Leben schwer zu machen. Du bist das Beste, was mir je passieren konnte, und nichts wird meine Meinung ändern. Also versuch es gar nicht erst! Und jetzt will ich nichts mehr von diesem 'nicht-gut-genug'-Gerede hören. Nie wieder, hast du verstanden?«
Nighton blinzelte, offensichtlich überrascht von meinem Befehlston. »G-gut«, stammelte er erstaunt. Ich grunzte. »Und sag Sekeera, dass sie aufhören soll, dir Blödsinn zu erzählen. Das kann sie nämlich gut.«
Ein schwaches Lächeln schlich sich auf seine Lippen, und ich sah, wie die Spannung langsam von ihm abfiel. Er lehnte sich zurück, stützte sich mit den Unterarmen auf den Schindeln ab und sah mich an. »Habe ich schon gemerkt«, sagte er, ein wenig gelöster. »Ich konnte teilweise ihre Erinnerungen aus der Zeit mit dir sehen.« Sein Lächeln verwandelte sich in ein leichtes Grinsen, und mir wurde sofort klar, was jetzt kommen würde.
»So?«, fragte ich vorsichtig. Die Vorstellung, dass Nighton Zugriff auf einige meiner Erinnerungen hatte, die ich mit Sekeera teilte, ließ mich schlucken. Das meiste davon war... sagen wir mal, ziemlich privat und für keine fremden Ohren bestimmt...
»Hoffentlich hat sie dir nicht alles gezeigt«, fügte ich leise hinzu und hoffte insgeheim, dass Sekeera zumindest einen Hauch von Diskretion bewahrt hatte.
»Sie wollte, dass du mir die Arme ausreißt und mit ihnen schmust?«
Ich konnte nicht anders, ich musste lachen. »Genau. Und deine Wangen wollte sie essen. Außerdem wollte sie dich andauernd nackt sehen und was weiß ich was noch alles. Es ging jeden Tag so, das hat es mir nicht gerade leichtgemacht, mich dir gegenüber normal zu verhalten.« Nighton warf mir einen verschmitzten Blick zu, während seine Augen ein seltsames Funkeln verrieten.
»Ja, ich erinnere mich gut«, sagte er leise und grinste. »Manchmal vermisse ich dein akutes Erröten und diese schmachtenden Blicke, wenn du dachtest, ich sehe nicht hin. Das ist selten geworden.«
Natürlich schoss mir bei seinen Worten sofort die Hitze ins Gesicht. Er sah es und nutzte den Moment. Seine Finger strichen sanft über meine Wange, und ich schmiegte mich automatisch gegen seine Hand und seufzte leise.
»Was ist?«, fragte er und sah mich forschend an.
Ich winkte ab, holte tief Luft. »Ach, nichts. Es ist nur... etwas frustrierend, dass wir das alles jetzt nicht damit abschließen können, indem wir ... du weißt schon. In der Hütte in Irland habe ich Blut geleckt. Ich glaube, ich kann nie wieder ohne. Es fehlt mir.«
Nighton hob eine Augenbraue. »Es fehlt dir? Herrje, Jen, wir tun seit einer Woche doch nichts anderes mehr. Vielleicht tut uns diese Pause mal gut.«
Empört sah ich ihn an. »Pause? Ich will keine Pause! Ich habe gerade die Elektrizität entdeckt – soll ich mich jetzt mit einer ollen Fackel zufriedengeben?« Nighton grinste über meinen Vergleich, setzte sich aufrecht hin und stützte seine Unterarme auf die Knie. Doch nach einer Weile schwand das Lächeln und machte einem ernsten, fast bedrückten Ausdruck Platz. Sein Blick bohrte sich in meinen, und ich konnte das Gewicht seiner Gedanken spüren.
»Du nutzt Sex, um nicht mit mir über deinen Dad reden zu müssen, ist doch so, oder?« Er ließ mich nicht aus den Augen, während ich angestrengt versuchte, meinen Blick starr nach vorne zu richten, ohne etwas zu verraten. Aber Nighton kannte mich zu gut. Er hatte es genau erfasst, und ich wusste es.
»Ja«, gab ich schließlich kleinlaut zu, ohne ihn anzusehen. »Ich hatte – nein, ich habe das Gefühl, in all dem Schmerz zu versinken, den ich meiner Familie angetan habe. Mein Dad und der Alkohol, Tommy mit seinem Zorn, Anna, die plötzlich viel zu erwachsen sein muss – und dann das mit dem unauffindbaren fünften Erzengel. Es ist alles so viel auf einmal.« Meine Stimme brach fast, aber ich zwang mich weiterzusprechen. »Doch in den Momenten mit dir... da kann ich einfach loslassen. Da muss ich nicht denken. Nicht alles analysieren oder mich mit der Zukunft auseinandersetzen. Verstehst du?«
Nighton atmete tief durch, und sein Seufzen klang schwer. »Ja, ich verstehe dich. Aber du hast die letzten Tage fast nichts gegessen, dich selbst geschädigt. Und dann der ganze Wein.« Er hielt kurz inne, sein Blick durchbohrte mich. »Das ist alles andere als gesund. Vor allem nach dem, was du in diesem Labor durchgemacht hast. Und du willst, dass ich das einfach ignoriere? Dass ich tatenlos zusehe? Das kann ich nicht.«
Sein Ton war eindringlich, und ich spürte, wie sein Schmerz fast greifbar wurde. Ich wand mich unter seinem Blick und murmelte leise: »Ich weiß.«
Er legte seine Hand auf meine, warm und fest, als wollte er mich daran erinnern, dass er immer da war – egal, wie sehr ich mich zu verstecken versuchte. »Glaub mir, wenn ich dir sage, dass dich irgendwann alles einholt, egal wie tief du es begräbst.« Seine Worte hallten in mir nach, und ich senkte den Blick. Er hatte Recht, und das wusste ich. Aber das zuzugeben, war schwerer als alles andere.
Der Wind wurde immer heftiger, und gerade als ich dachte, schlimmer könnte es nicht werden, brach plötzlich ein sturzbachartiger Platzregen über uns herein. Ich kreischte auf und hielt mir die Arme über den Kopf, was wenig half. Der Regen peitschte unbarmherzig auf uns ein, als hätte er nur darauf gewartet. Nighton fluchte laut, rief mir etwas zu, aber der prasselnde Regen war so laut, dass ich nur ein paar unzusammenhängende Wortfetzen verstand. Panik stieg in mir auf, als mir klar wurde, wie schwierig es sein würde, vom Dach runterzukommen. Das Wasser strömte bereits in dicken Bächen über die Schindeln.
Nighton kämpfte sich durch den Regen zur Dachkante vor, wo er sich hinkniete und sich zu mir umdrehte. Er streckte mir seine Hand entgegen, seinen Blick auf mich gerichtet. Ich schirmte meine Augen gegen den Regen ab und rutschte vorsichtig zu ihm. Einmal verlor ich fast den Halt, aber er griff blitzschnell nach meinem Bein und hielt mich fest, bevor ich abrutschen konnte.
Wir waren beide völlig durchnässt, meine Zähne klapperten vor Kälte, und ich spürte, wie der Frost in meine Knochen kroch. Verdammtes Wetter!, dachte ich frustriert, während ich mich vorsichtig an Nighton heranzog.
Er half mir, die kurze Strecke zum Fenster zu überbrücken, und endlich, mit zittrigen Beinen, setzte ich meine Füße auf den Fensterrahmen. Als ich in die trockene, sichere Wärme des Zimmers stieg, atmete ich erleichtert auf. Mein Herz raste, aber das lag eher an der Höhe und der brenzligen Situation als an der Anstrengung. Im nächsten Moment landete Nighton mit einer geschmeidigen Bewegung hinter mir auf dem Fensterbrett und schwang sich ins Zimmer.
»E-es ist so k-kalt«, stammelte ich, meine Zähne klapperten, und ich stand da, während sich unter mir eine Pfütze bildete. Nighton schloss das Fenster, und das tobende Unwetter draußen wurde zu einem dumpfen, gleichmäßigen Rauschen im Hintergrund. Für einen Moment herrschte Stille zwischen uns. Er stand da und starrte mich an, als ginge ihm gerade irgendwas durch den Kopf.
»Was ist?«, wollte ich gerade fragen, als er plötzlich knurrte: »Scheiß drauf.«
Bevor ich reagieren konnte, überbrückte er den Abstand zwischen uns und küsste mich so heiß und innig, dass mir der Atem stockte. Seine Lippen waren warm gegen meine, im Kontrast zu der eisigen Kälte, die noch an unserer Haut klebte. Ohne Vorwarnung hob er mich hoch und trug mich zum Bett. Ich quietschte vor Überraschung auf. Auf was das hinauslief, war mir sofort klar. Und so gab ich mich Nighton hin und verdrängte die leise Stimme, die mir zuwisperte, dass uns der gruselige Keeper vom Internat vielleicht gerade zuschaute. Aber was soll ich sagen – selbst wenn er es täte, es wäre mir so, so egal.