Ich saß auf meinem Bett die Beine angezogen, die Arme um die Knie geschlungen. Mein Blick war auf das Fenster gerichtet, aber ich sah nichts außer den blassblauen Himmel und die schneebedeckten Äste. Das leise Brummen eines Motors drang durch die Stille in mein Zimmer. Es wurde lauter, dann schwächer, und schließlich verstummte es vollständig. Nighton und die anderen waren weg.
Diese Erkenntnis sorgte dafür, dass sich mein Herz zusammenzog. In mir herrschte ein seltsames, schwer zu greifendes Gefühl, das ich einfach nicht loswurde. Als wüsste ein Teil von mir, dass das hier kein gutes Ende nehmen würde. Nightons Abschied hatte mich schwer getroffen – es fühlte sich an, als hätte ich etwas Kostbares verloren, das so schnell nicht zurückkehren würde. Und dann Penny… Der Gedanke an sie schnürte mir die Kehle zu. Der Abschied von meiner Freundin war kurz gewesen, aber der Schmerz darüber wog schwerer, als ich erwartet hatte. Sie war immer so taff, so unerschütterlich, und doch hatte ich Tränen in ihren Augen gesehen. Ich hasste diesen Krieg. Ich hasste, was er aus uns machte.
Mein Blick blieb starr, doch meine Gedanken schwirrten. Aber dann zwang ich mich, an Nightons Worte zu denken. Und das half tatsächlich.
Ich legte eine Hand auf meinen Bauch. »Alles klar«, flüsterte ich. »Jetzt sind wir allein. Wir müssen zusammenhalten, verstanden?«
Es fühlte sich komisch an, mit jemandem zu reden, den ich nicht sehen und der mich vermutlich nicht mal hören konnte. Aber irgendwie tröstete es mich, als könnte ich dadurch meine eigene Angst ein wenig lindern. Ich atmete tief auf und strich mir über den Unterbauch. »Ich schaffe das«, murmelte ich, mehr zu mir selbst als zu meinem Untermieter-Zellhaufen. »Ich bin Jennifer Megan Ascot, und Angst ist ab jetzt ein Fremdwort. Also… aufstehen, Jennifer, hopp-hopp. Zeit, stark zu sein.«
Langsam schwang ich die Beine vom Bett und stand auf. Sobald ich vor meinem Bett stand, zog ich die Schultern nach hinten, hob das Kinn und beschloss, dass ich das schaffen würde. Es gab keinen anderen Weg.
Als ich nach unten ging, war die Atmosphäre im Wohnzimmer eine seltsame Mischung aus Anspannung und Ruhe. Amanda saß in meiner Gestalt auf der Armlehne der Couch, während Evelyn danebenstand und mit konzentrierter Miene aus dem Terrassenfenster schaute. Sam saß neben Gil und Nivia, die sich leise unterhielten. Und Thomas… mein Bruder stand einfach nur da, ein bisschen abseits, und starrte auf den Boden, als wäre er in einer anderen Welt. Er hatte nicht mal Augen für Evelyn, was mich etwas wunderte, immerhin wusste ich, dass er heimlich auf sie stand. Aber wahrscheinlich war er mit dem Kopf einfach ganz woanders.
Amanda hob den Kopf, als ich hereinkam. »Bist du soweit?« Sie lächelte mich sanft an.
Ich nickte entschlossen. »Ja. Bin ich.«
Evelyn trat auf mich zu und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Es wird alles gut, Jennifer, versprochen. Wir lassen nicht zu, dass Nighton etwas passiert, oder einem von uns. Pass du nur auf deinen Hintern auf, klar?«
Ich lächelte Evelyn gerührt an, dann nahm ich meine Freundin fest in die Arme. Sie erwiderte die Umarmung unerwartet fest.
»Danke, Evelyn«, wisperte ich. Nach ein paar Sekunden allerdings knurrte Evelyn: »So, genug der Liebe, lass mich los, ich bin kein Kuscheltier. Heb dir das für deinen Angebeteten auf.«
Ich musste lachen und gab Evelyn frei, die sich brummelnd an ihren lila Strähnchen zog und ein paar Schritte zurücktat.
Amanda war inzwischen aufgestanden und nickte mir zu, bevor sie nach draußen zeigte. »Alle hier haben gerade noch mal bestätigt, dass kein feindlich gesonnener Dämon in der näheren Umgebung ist. Die meisten sind wahrscheinlich Nighton und Pearl gefolgt, genau wie wir es geplant haben.«
Das sollte mich wohl beruhigen, aber der Gedanke, dass sie alle dort draußen sein würden und ihr Leben für mich riskierten – mitten in diesem Chaos –, machte es schwer. Trotzdem zwang ich mich zu einem Lächeln. »Danke«, sagte ich leise. »Danke, dass ihr euch alle so um mich sorgt. Aber wehe, auch nur einer von euch kommt nicht lebend aus Oberstadt zurück. Das meine ich ernst.«
Sam grinste mich an. »Bitte. Mach dir mal keine Sorgen. Wir passen auf uns auf.«
Ich nickte wieder, obwohl ich immer noch das seltsame Gefühl hatte, dass etwas schieflaufen würde. Trotzdem straffte ich mich erneut und atmete tief durch. »Gut. Dann lasst uns fahren.«
Außerhalb von Harenstone wartete ein blauer Skoda Fabia. Ich blinzelte. Thomas schien seine Autos aber auch zu wechseln wie Unterwäsche! Mein Bruder stand schon an der Fahrertür, während Gil und Nivia hinter mir hergingen. Der eisige Wind trieb ein paar einzelne Schneeflocken vor sich her, und ich zog meine Jacke enger um mich. Der Abschied lag hinter mir, jetzt zählte nur noch das Vorankommen.
Als ich mich auf den Beifahrersitz setzte, sah ich Thomas an. Er wirkte immer noch gedankenverloren, auch sein Abschied von Sam, mit dem er doch eigentlich so eng befreunden war, war recht kühl ausgefallen. Evelyn hatte er nicht mal eines Blickes gewürdigt. Ich wollte etwas sagen, ihn fragen, ob alles in Ordnung war, aber die Worte blieben mir im Hals stecken. Was sollte schon in Ordnung sein? Unsere kleine Schwester war nicht bei uns, unser Dad vegetierte in einer Nervenheilanstalt vor sich hin, unsere Familie war zerrissen – und nun schwebte ich auch noch in unmittelbarer Lebensgefahr.
Hinter mir stiegen Gil und Nivia ein, und als die Tür sich hinter mir schloss, spürte ich Nivias Hand auf meiner Schulter. »Alles wird gut, Jennifer«, versicherte sie mir mit einer Überzeugung, die ich fast glauben wollte. Ich nickte, mehr aus Gewohnheit. Doch als ich unwillkürlich eine Hand auf meinen Bauch legte, konnte ich nicht anders, als ein kleines Lächeln zuzulassen. Nivia fragte daraufhin Gil, ob er Nightons Teleporter dabeihabe, was der bejahte.
Thomas startete den Motor, und der Wagen setzte sich in Bewegung. Ich sah nach hinten, suchte nach Sam und Evelyn, deren Gesichter ich am Fenster der Küche entdeckte. Sie winkten mir, also winkte ich zurück. Kurz darauf rollten wir die Einfahrt hinab, und bald schon wurde das Geräusch der Reifen auf der schneebedeckten Straße zu einem monotonen Hintergrundgeräusch. Ich starrte aus dem Fenster und versuchte mit aller Macht, die dunklen Gedanken beiseitezuschieben. Wir würden das schaffen. Keinem würde etwas passieren. Das musste ich einfach glauben.
Schon seit zweieinhalb Stunden pflügte das Auto durch die verschneite Landschaft. Der Schnee lag so hoch, dass er die Straßenränder vollständig verschluckt hatte, und die Räder knirschten unheilvoll auf dem gefrorenen Untergrund. Die Wolken hingen schwer und dunkel am Himmel, und obwohl es erst Mittag war, wirkte alles um uns herum wie in eine endlose, grauweiße Dämmerung gehüllt. Ich hatte das Gefühl, die Kälte würde sogar durch die Fensterscheiben dringen, und dass trotz der vollaufgedrehten Heizung, die im Auto lief.
Keiner von uns sprach. Thomas hielt stur den Blick auf die Straße gerichtet, seine Hände krampften sich fast schon um das Lenkrad. Nivia saß hinter mir wie eine Statue. Ihre Augen verfolgten jede Bewegung draußen, als könnte sie durch die Schneedecke hindurch etwas Unheilvolles erkennen. Neben ihr drehte Gil sich in aller Seelenruhe ein paar Zigaretten, obwohl er genau wusste, dass ihm wahrscheinlich keiner von uns erlauben würde, im Auto zu rauchen. Ich noch am allerwenigsten.
Ich konnte geradezu fühlen, wie die Stille immer schwerer wurde. Meine Gedanken wanderten zu Nighton. Wo war er gerade? Hatten er und die anderen die Verfolger abgeschüttelt? War der Plan aufgegangen? Ich wünschte mir so sehr, bei ihm zu sein, dass es wehtat. Instinktiv legte ich eine Hand auf einen Bauch und schloss kurz die Augen. Wir schaffen das, wiederholte ich wie ein Mantra in meinem Kopf. Nighton hatte mir gesagt, dass ich stark war, und ich wollte ihm glauben. Musste ihm glauben.
Plötzlich kam mir ein Gedanke, also wandte ich den Kopf und durchbrach die Stille. »Thomas?«, fragte ich zögernd und sah zu ihm hinüber. Sein Blick rührte sich nicht vom Horizont. »Warst du eigentlich nochmal bei Dad?«
Seine Antwort kam schnell, fast zu schnell. »Warum sollte ich?« Seine Stimme war unerwartet kühl und scharf, was mich sehr wunderte. Irritiert zog ich die Augenbrauen zusammen und erwiderte: »Weiß nicht. Dachte nur, vielleicht… na ja, keine Ahnung.« Ich schwieg. Irgendetwas an ihm stimmte nicht. Seine Haltung war zu steif, seine Finger zu fest um das Lenkrad geschlossen. Ich bemerkte, dass er nicht einmal blinzelte, während er stur die verschneite Straße anstarrte. Im Seitenspiegel sah ich, wie Nivia den Blick vom Schneetreiben genommen hatte und Thomas Hinterkopf anstarrte. Sie runzelte kurz die Stirn, dann wechselte sie einen Blick mit Gil, bevor sie sich plötzlich vorlehnte und vorschlug: »Sollen wir mal einen Fahrerwechsel machen? Was hältst du davon, Thomas?«
»Ja, lass mich fahren«, sprang Gil Nivia bei und sah auf. »Dann sind wir wenigstens nicht erst an Ostern in Nairn.«
Aber Thomas reagierte anders als erwartet. Seine Mundwinkel begannen, nervös zu zucken, und auf einmal lachte er. Es war leise, fast tonlos, aber so bizarr, dass es mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.
»Tommy?«, flüsterte ich mit zittriger Stimme. Mein Herz schlug augenblicklich schneller, als er den Kopf leicht zur Seite drehte und mich ansah. Zum ersten Mal, seit wir losgefahren waren, begegnete er mir wirklich mit seinem Blick – und was ich darin sah, ließ die Welt um mich herum stillstehen.
Das waren nicht Thomas‘ Augen.
Sie veränderten sich vor meinen Augen, wurden dunkler, tiefer, als würde etwas Fremdes aus ihnen herausblicken. Seine Gesichtszüge verzogen sich, langsam und grotesk. Die Haut begann zu schimmern, fast wie Wachs, das sich unter unsichtbarer Hitze verformte. Ich konnte nicht wegsehen, selbst als sein Gesicht sich zu verändern begann.
Die Haare wurden länger, rötlicher. Die Kieferpartie verschob sich, wurde schmaler, femininer, während die Lippen voller wurden. Das war nicht mehr Thomas – das war…
»Nel?«
Ich starrte ihn – sie – an, absolut unfähig, mich zu rühren. Die Erinnerungen schossen mir durch den Kopf. Elinor. Nel. Nellie. Meine beste Freundin. Die Gestalt, die ich immer für Nel gehalten hatte, die ihre Rolle perfekt gespielt hatte. Das konnte nicht sein. »Das bist du…« Meine Stimme versagte beinahe. »Dawn! Aber…«
Bevor ich weitersprechen konnte, drehte Dawn wieder den Kopf zur Straße, ihre Finger lösten sich kurz vom Lenkrad. Sie sah aus, als wollte sie etwas sagen, doch dann schlossen sich ihre Hände fester um das Steuer. Ihre Schultern bebten.
Im selben Moment schossen zwei Schatten knapp über das Auto, bevor sie sich mit unheilvoller Präzision etwa hundert Meter voraus auf der Straße materialisierten. Sie hatten uns gefunden.
»Nein«, flüsterte ich, mehr als zu mir selbst als zu jemand anderem. Nein, das kann nicht sein. Das darf nicht sein. In meinem Kopf schrie eine verzweifelte Stimme, dass das alles ein Fehler sein musste. Doch tief in mir wusste ich es besser. Sie hatten uns von Anfang an durchschaut. Uns überwacht. Alles war eine Lüge gewesen. Wir hatten niemals eine Chance gehabt.
»Ich hatte keine Wahl. Sie… sie haben mich dazu gezwungen«, wisperte Dawn schließlich. Ihre Stimme war brüchig, ein einziger Schmerz.
Nivia reagierte zuerst. Sie lehnte sich nach vorne, explodierte vor Licht. Doch bevor sie eingreifen konnte, ruckte das Lenkrad in Dawns Händen, und das Auto geriet ins Schleudern.
Ich schrie auf und klammerte mich an den Türgriff. Der Wagen drehte sich mehrfach um die eigene Achse. Die Reifen kreischten auf dem Eis, Schnee und Schatten wirbelten vor meinen Augen, während das Auto unkontrolliert über die Straße und auf die zwei Gestalten zuschoss. Ein letzter Gedanke, durchfuhr mich, bevor wir von der Straße abkamen: Das hier war eine Falle.
Ein dumpfer Aufprall.
Schmerz.
Schwärze.
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- Ende Band Zwei -
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