»Ich kann sie alle sehen, Jenny! Tommy und Dad und… oh, da ist Nana! Und Herr von und zu Knautschgesicht, was macht der denn da?« Anna saß auf dem Barhocker, den Blick in die Ferne gerichtet, als würde sie eine unsichtbare Welt beobachten. Vor ihr stand eine dampfende Tasse Kakao, die sie kaum beachtete.
Ich sah vom Abwasch auf und verzog das Gesicht. Das ging schon seit dem gestrigen Abend so. Selbst heute Morgen, bevor ich zur Schule aufbrach, hatte ich Anna murmelnd und ins Nichts starrend vorgefunden. Die anderen hatten es gestern kaum fassen können, als Nighton ihnen erzählt hatte, dass Azmellôn gestorben und meine kleine Schwester nun seine Nachfolgerin war. Natürlich hatten sie alle einen neugierigen Blick auf unsere achtjährige Attraktion werfen wollen, was ich jedoch rigoros unterband, indem ich sie aus der Küche warf.
»Wer ist denn bitte Herr von und zu Knautschgesicht?«, fragte ich und schüttete Spülmittel ins Becken.
Anna lächelte verklärt zur Decke hinauf. »Das ist einer von Nanas Katern. Der mit den dicken Streifen im Fell.«
Ein leises Lachen entfuhr ihr, doch das Lächeln war irgendwie… anders, als ich es gewohnt war. Ich hob die Augenbrauen und schüttelte den Kopf, aber das Unbehagen in mir wuchs. Wie sollte ich das alles nur Thomas beibringen?
Nighton trat in die Küche. Seine Stirn war in Falten gelegt, während er Anna einen sorgenvollen Blick zuwarf. Er begrüßte mich mit einem sanften Kuss in den Nacken und lehnte sich dann neben mir an die Theke.
»Na, Anna?« Er hob das Kinn und versuchte, beiläufig zu klingen. »Alles klar bei dir?«
Anna nickte und blickte in die Ferne, während ein träumerisches Funkeln in ihren Augen lag.
»Kannst du mir genau sagen, wo du Uriel gesehen hast?« Nighton sprach sanft, als würde er ein scheues Tier beruhigen. »Wir suchen sie sehr dringend. Vielleicht kannst du uns helfen.«
Anna hörte auf, zur Decke zu starren, und wandte langsam den Blick zu ihm. Plötzlich lag ein Ausdruck von Furcht in ihren Augen, der mir einen Schauer über den Rücken jagte. »Sie… sie hat mich bemerkt«, flüsterte sie ängstlich. »Sie war gruselig. Um sie herum waren viele, viele Tannen… und ein großer Bär. Ein Braunbär.« Ihr Blick trübte sich wieder, und ein seltsames Lächeln spielte auf ihren Lippen, als sie den Kopf zurücklehnte und in die Leere starrte.
Ich trocknete meine Hände ab und warf Nighton einen entschlossenen Blick zu, der ihm den Wink gab, mir ins Wohnzimmer zu folgen. Dort drehte ich mich zu ihm um, die Verzweiflung in meiner Stimme kaum verbergend. »So kann es nicht weitergehen! Sie sollte sich um die Schule und ihre Freunde kümmern und nicht solche… Dinge sehen, Nighton. Sie ist ein Kind, verdammt!«
Nighton sah mich an, und seine Miene war schwer und bedauernd. Er hob die Schultern, als könnte er nicht ändern, was bereits geschehen war. »Ich weiß. Aber Azmellôns Kraft ist in ihr. Was sie sieht und fühlt, ist Teil dieser Macht. Das können wir nicht einfach abstellen.«
Ich verschränkte die Arme und biss mir auf die Lippe, den Blick fest Annas Rücken gerichtet. Leise murmelte ich: »Es ist trotzdem falsch… und ich kann nicht glauben, dass Azmellôn einfach Anna gewählt hat. Sie hat es nicht verdient, in diese Welt gezerrt zu werden.«
Nighton legte eine Hand auf meine Schulter und drückte sie sanft, bevor er vorsichtig und nachdenklich zugleich sagte: »Es gibt wohl Dinge, die wir nicht steuern können, so sehr wir uns auch dagegen wehren. Aber wir können Anna zur Seite stehen.«
Sein Blick war fest, und er hielt meinen für einen langen Moment, als wollte er mir seine Zuversicht einflößen. Ich seufzte und nickte schließlich, auch wenn die Furcht, Anna zu verlieren, mir das Herz zusammenschnürte.
»Warum schaust du denn so traurig aus, Jenny? Du kannst doch mitkommen, wenn ich wieder nach Oberstadt gehe.« Anna stand plötzlich im Türrahmen, lächelte und blinzelte mich unschuldig an. »Und ich kann bestimmt auch da zur Schule gehen!«
Ich runzelte die Stirn. »Hast du etwa gelauscht?«
Anna schüttelte hastig den Kopf, doch ein verschmitztes Grinsen verriet sie.
In diesem Moment kamen Melvyn, Sam, Gil und Jason die Treppe herunter, warfen uns einen flüchtigen Gruß zu und liefen zur Haustür hinaus. Die Zeit für ihre abendliche Patrouille begann mal wieder. Das hatte ich ganz vergessen. Mein Blick wanderte zu Anna, und eine Sorge machte sich breit.
»Was, wenn Asmodeus hier auftaucht? Was, wenn er Anna mitnimmt?«, wandte ich ein. Bei diesem Gedanken wurde mir übel. Nighton winkte ab. »Wenn er auftaucht, breche-«
Er hielt inne, als er meinen Blick registrierte, den ich schnell und warnend in Annas Richtung geschossen hatte, räusperte sich und korrigierte dann hastig: »Dann bekommt er einen... äh... Präsentkorb.«
Annas Gesicht verzog sich augenblicklich zu einer gelangweilten Grimasse. Offensichtlich hatte sie mit etwas 'Interessanterem' gerechnet.
An Anna gewandt sagte ich: »Thomas kommt bestimmt gleich. Pack deinen Kram schon mal zusammen.« Ich hob auffordernd die Augenbrauen. Mit einem Seufzen trottete Anna in den Flur. »Ihr wollt doch nur allein sein«, grummelte sie.
Nighton grinste. »Deine Schwester ist ein kluges Kind.«
»Nicht witzig.« Ich schüttelte den Kopf und drehte mich zur Seite. »Wie soll ich das alles nur Thomas erklären?« Ich seufzte und ließ mich von Nighton in eine Umarmung ziehen, die meine Nerven für einen Moment beruhigte.
»Ich höre deinen Bruder kommen. Er hat gerade geparkt«, verkündete er nach einigen Augenblicken, und da schrillte auch schon die Türklingel. Ich fuhr hoch und entwand mich Nightons Armen, lächelte kurz und fuhr mit dem Finger leicht über seinen Bart. Sein berühmtes, umwerfendes Lächeln ließ mein Herz für einen Moment aussetzen, doch das erneute Klingeln riss mich aus dem Bann.
Tief durchatmend ging ich in den Flur und öffnete die Tür. Es war tatsächlich Thomas. Er stand da in Pullover und Jeans, doch etwas an ihm war nicht wie sonst. Er war bleich, Schweiß glänzte auf seiner Stirn, und er wirkte, als hätte er einen Geist gesehen. Mein Lächeln gefror. »Thomas?«
Er zeigte mit zitternder Hand zur Seite. Verwirrt lehnte ich mich aus der Tür, und was ich sah, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Mich am Türrahmen festhaltend, rief ich mit panischer Stimme: »Nighton? Ich glaube, du solltest herkommen!«
Noch im selben Augenblick stand Nighton neben mir, und sein Gesicht nahm einen zutiefst überraschten Ausdruck an.
Neben meinem verängstigten Bruder, mitten auf der Veranda, stand eine Frau, die wie ein Krieger aus einem epischen Schlachtfeld wirkte. Sie war noch größer als Nighton, muskulös und mächtig, mit einer Präsenz, die die Luft um sie herum regelrecht zum Flimmern brachte. Ein ellenlanger, blonder Zopf fiel ihr über die Schulter, ihre Haut war von dutzenden blau leuchtenden Tattoos überzogen, und eine beeindruckende Lederrüstung schmiegte sich an ihren massiven Körper. An ihrem breiten Gürtel hingen mehrere Waffen, und in ihren Händen hielt sie eine Doppelaxt, verziert mit seltsamen Symbolen. Ihre Augen waren voller Zorn, und eine tiefe Narbe, die quer über ihr Gesicht verlief, teilte ihre Unterlippe.
Wer war DAS denn, und warum hatte Nighton Thomas, aber nicht sie gespürt??
»Wo ist er?!«, grollte die Frau mit tiefer Stimme und sah an mir vorbei. Durch ihre Kehle rollte ein drohendes Gewitter, und hinter ihr begann ein Lichtbündel sich zusammenzuballen. Meine Augen weiteten sich, und instinktiv wich ich einen Schritt zurück. Thomas war kreidebleich und starrte die Axt an, die sich nur Zentimeter von seiner Kehle entfernt befand.
Nighton hob die Hände, seine Stimme ruhig und beschwichtigend. »Uriel, das ist eine ziemliche Überraschung. Wir sollten uns alle beruhigen.«
Ich starrte ihn an, den Schock noch immer in meinen Gliedern. Das war Uriel? Dieser lebende Fleischberg von Frau, die mit einer Axt bewaffnet drohend vor uns stand, sollte ein Erzengel sein?
»Ich will sofort wissen, wo der Spion ist, der es gewagt hat, in meinem Kopf herumzustochern!« Sie schwenkte die Axt bedrohlich und trat näher an Thomas heran, dessen Augen vor Angst flackerten. »Ich weiß genau, dass er in diesem Haus ist. Holt ihn her, damit ich ihn eigenhändig richten kann! Niemand stiehlt meine Gedanken, niemand sieht durch meine Augen!«
Thomas quiekte erschrocken auf, und ich spürte, wie meine eigene Panik sich in meinem Brustkorb zusammenzog.
Im Hintergrund sah ich Jason, Sam, Gil und Melvyn, die sich vorsichtig näherten. Jason jedoch erstarrte, als er erkannte, wer da vor unserer Haustür stand. Auch Uriel hielt inne, die aggressive Miene entglitt ihr kurz, bevor sie die Stirn runzelte und sich langsam zu ihm umdrehte.
»Du!«, stieß sie erstaunt hervor.
»Schwester.« Jason trat vorsichtig näher, und obwohl seine Stimme ruhig war, konnte ich einen unterschwelligen Zorn darin hören. Ich fragte mich insgeheim wieder, was ihn dazu gebracht hatte, sich von seinen Geschwistern, den Erzengeln, abzuwenden.
Uriel ließ ihn nicht aus den Augen und kniff die Augen misstrauisch zusammen. »Steckst du etwa mit diesem… sehenden Spion unter einer Decke, Azrael?!«
Jason hob die Hand und bedeutete Sam, Gil und Melvyn, Abstand zu halten, bevor er weiter auf Uriel zuging. »Du reagierst über, Uriel. Niemand hier hat dich ausspioniert. Azmellôn ist tot und hat seine Kräfte einem kleinen Mädchen übertragen. Sie hat dich zufällig gesehen, als dein Name fiel. Wir haben dich gesucht – das hast du doch bemerkt, oder?«
Uriels Blick flackerte, während sie Jasons Worte verarbeitete. Ein Muskel in ihrem Kiefer zuckte, und dann drehte sie den Kopf zu Nighton und mir.
»Zeigt mir das Kind!«, forderte sie. Ihre Stimme war felsenhart.
»Natürlich«, sagte Nighton, so freundlich, dass es mich erschaudern ließ. »Komm doch rein.« Ich sah ihn entgeistert an und konnte mir ein »Bloß nicht!« jedoch gerade so verkneifen. Das konnte er nicht ernst meinen! Dieser wandelnde Muskelberg würde mir alles im Haus zerstören, das war so sicher wie das Amen in der Kirche.
Aber da sollte Uriel mich noch überraschen. Sie sicherte ihre Axt auf ihrem Rücken, nickte knapp und schob sich wortlos zwischen uns hindurch. Der Türrahmen war für ihre imposante Größe zu niedrig, aber sie duckte sich ohne einen Laut, und jeder ihrer Schritte wirkte fließend. Für ihre Masse bewegte sie sich erstaunlich grazil.
Nighton trat nah an mich heran und raunte leise: »Am besten wäre es, du überlässt mir das mit Uriel und Anna. Dein Bruder sieht aus, als würde er gleich umkippen.«
Ich folgte seinem Blick zu Thomas, der starr und blass an derselben Stelle stand und aussah, als sei er nur einen Hauch davon entfernt, das Bewusstsein zu verlieren. Verständnisvoll nickte ich, und als Nighton kurz meine Schulter drückte, machte ich mich auf den Weg zu Thomas.
Hinter mir hörte ich Nighton durch das Treppenhaus rufen: »Anna, komm mal runter!«
Ich trat auf die Veranda, hakte ich mich bei Thomas unter und zog ihn sanft mit mir die Treppe runter. Anfangs sträubte er sich, als könnte er sich dadurch der Realität entziehen, doch schließlich ließ er sich widerstandslos führen. Sein Blick klebte an der Haustür, als könnte diese furchterregende Frau mit der Axt jeden Moment wieder herausbrechen.
Neben den parkenden Autos blieb ich stehen, während die Kälte auf meiner Haut prickelte. Thomas kam sofort zum Punkt.
»Jen, was… was zur Hölle ist hier los?« Seine Stimme bebte, und er rieb sich nervös die Hände, die vor Anspannung zitterten. »Erst Anna, dann diese Frau, die aussieht, als wäre sie einem verdammten Albtraum entsprungen! Weißt du, was sie gemacht hat? Sie ist an einer Ampel einfach zu mir ins Auto gestiegen und hat mich mit ihrer Axt bedroht! Wer ist diese Person?!«
»Tut mir leid, Thomas«, murmelte ich und schluckte, um meine eigene Unsicherheit zu verbergen. »Das ist Uriel. Sie ist… ein Erzengel.«
Thomas fuhr sich fahrig durchs Haar, seine Hände glitten immer wieder über seine Stirn, als könnte er die Anspannung einfach wegwischen. »Erzengel? Sie ist eher ein verdammtes Schlachtross mit Waffen! Warum ist sie überhaupt so schwer bewaffnet? Und was in aller Welt will sie von Anna?!«
Er griff nach meinen Händen, und die Verzweiflung in seinen Augen sprang mich richtig an. »Sag mir, was los ist, Jen. Wo bist du hier reingeraten? Und lüg mich nicht an! Keine Geheimnisse, okay? Ich will die Wahrheit hören!«
Ich spürte, wie sich mein Magen zusammenzog, als sein Blick sich fest in meinen bohrte. Aus dem Haus hörte ich Uriel, deren tiefe Stimme dumpf grollend zu hören war, als würde sie uns bis hier draußen verfolgen. »Es ist kompliziert«, begann ich und sah kurz zur Haustür zurück. Dann atmete ich tief durch und suchte nach den richtigen Worten, bevor ich ihm alles schilderte - wie Anna vor meiner Tür gestanden hatte, was sie in Oberstadt durchgemacht hatte, und dass Azmellôn sie nun als seine Nachfolgerin bestimmt hatte. Thomas starrte mich fassungslos an, das Entsetzen in seinen Augen spiegelte meine eigenen Gefühle wider.
»Und jetzt ist sie… Anna ist… nein!« Er ließ mich los und schüttelte den Kopf, als könnte er die Wahrheit einfach von sich werfen. »Das kann nicht sein! Sie kann nicht einfach so… Teil von dem Ganzen werden! Anna ist noch ein Kind, Jen!«
»Glaub mir, Thomas, ich sehe das genauso. Sie gehört hierher, in diese Welt, nicht in meine übernatürliche.« Ich legte ihm eine Hand auf den Arm und hielt seinen Blick fest. Mein Einverständnis überraschte ihn, und für einen Moment schien die Wut aus seinen Augen zu weichen. Doch dann schlich sich das Entsetzen wieder zurück. Er wandte sich ab, rieb sich die Schläfen und murmelte vor sich hin, als könne er das alles nicht fassen.
»Und was jetzt? Willst du Anna etwa dort lassen? Bei denen?«
Ein Gedanke kam mir in den Sinn, und ich warf einen schnellen Blick über die Schulter, um sicherzugehen, dass uns niemand beobachtete. Dann sah ich Thomas ernst an, deutete auf meine Ohren und dann zum Haus – eine stumme Botschaft, dass die anderen uns womöglich hörten. Thomas’ Gesicht verzog sich vor Verwirrung, doch dann nickte er. Er hatte verstanden.
Mit Händen, Füßen und Mimik deutete ich ihm an, was ich plante: dass er Anna noch heute Nacht nehmen und so weit weg wie möglich bringen sollte, heimlich und ohne ein Wort an die anderen. Thomas’ Augen weiteten sich, und er sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren.
»Das ist dein Plan?«, flüsterte er voller Unglauben. »Jen, das ist verrückt!« Hastig zischte ich ein »Pscht« und zeigte aufgeregt auf das Haus.
Thomas zögerte, seine Kiefer mahlten, als er den inneren Konflikt mit sich ausfocht. Schließlich nickte er widerwillig, und ich spürte, wie eine Welle der Erleichterung durch mich rollte.
Mit einem Blick, der unsere heimliche Abmachung besiegelte, gingen wir zurück ins Haus. Ich wusste, dass mein Plan irre war - aber ich wollte nicht, dass Anna den Rest ihres Lebens in diesem Turm ausharren musste. Es musste anders gehen!