Bevor ich Sam ins Haus hinein folgte, berührte ich mit der Hand die weiße Holzfassade des Hauses. Sie war von der Sonne ganz aufgewärmt.
Sobald ich durch die Haustür trat, erwartete ein Teil von mir, vom Blitz oder so getroffen zu werden. Vor allem nach den Sorgen und Aussagen, die Nighton geäußert hatte. Der stand mit nervösem Gesichtsausdruck inmitten des länglichen Foyers auf dem Holz-Parkett und beobachtete mich, als würde auch er jederzeit mit einer Katastrophe rechnen. Doch es geschah nichts. Weder flüsternde Stimmen noch sich bewegende Möbelstücke oder ein Ächzen, das durch das Haus ging - offensichtlich war es wirklich nur ein Haus. Vielleicht war die Wand im Keller auch nur eine Wand?
Erleichtert atmete ich aus, ehe ich den Blick schweifen ließ. Ein grüner Läufer führte von hier bis zu einer Doppeltreppe, deren Holzstufen so sehr glänzten, als ob noch nie jemand seinen Fuß auf sie gesetzt hätte. Ich wusste nicht genau, was ich erwartet hatte. Vielleicht ein kühles Ambiente aus Marmor. Aber keine wohnliche Umgebung. Links neben mir stand ein völlig überfüllter Kleiderständer, dahinter nahm ein uralter Schrank die Wand bis zu einem runden Türbogen ein.
»Gut, ich - ich bin im Keller und warte da«, sagte Nighton. Er wirkte furchtbar angespannt. Sam murmelte »Alles klar« und schob mich auf den Türbogen zu. Er schien nicht gerade gut auf Nighton zu sprechen zu sein. Kein Wunder, nach dem Anpfiff, den er Mittwoch von ihm kassiert hatte.
Das Zimmer, das ich soeben betreten hatte, war eine Küche. In ihrer Mitte stand eine große Kochinsel, umgeben von Sitzhockern. An der Wand rechts sah ich einen ausladenden Kühlschrank, der geschäftig brummte und weiter hinten an der lichtgefluteten Fensterfront konnte ich einen Tisch mit vier Stühlen entdecken, auf dem eine prall gefüllte Obstschale stand. In der Luft lag zu meiner Verwunderung der Geruch nach Gebackenem. Man könnte meinen, dass gleich eine Familie durch die nächste Tür kommen würde. Alles wirkte so bewohnt und benutzt, es fühlte sich fast heimisch an, und das, obwohl ich hier gar nicht wohnte.
»Wie schön es hier ist!«, stellte ich andächtig fest und lief weiter nach rechts und durch einen weiteren Türbogen, der in ein ebenso helles Esszimmer führte. Auf dem Weg durch die Küche zu dem Esszimmer kam ich noch an einer Holztür vorbei. Hinter der lag laut Sam, der mir inzwischen wieder folgte, eine kleine Speisekammer.
Auf einem rechteckigen Teppich im Esszimmer stand ein weißer Glastisch mit acht dazugehörigen, einladend wirkenden Korbsesseln. Auf dem Tisch entdeckte ich eine Vase mit frischen Schnittblumen und an der Decke hing ein hübscher Kronleuchter mit hellblauen Schirmchen.
Sam zeigte auf die Blumen und erklärte, plötzlich wieder grinsend: »Wenn Penny nicht gerade backt, schleppt sie dieses Grünzeug an. Wusstest du, dass Nighton Blumen hasst? Er sagt, er muss von ihnen niesen. Hat man da noch Worte, ein Yindarin mit Pollenallergie!« Er lachte, hörte aber sofort auf, als er meinen Blick bemerkte. Ein betroffener Ausdruck machte sich auf seinem Gesicht breit.
»Sorry«, stotterte er mit roten Ohren und zog die Schultern ein. »Ich muss mich immer noch dran gewöhnen, dass du - dass er - na, an alles eben.«
Ich versuchte, meinen tödlichen Blick unter Kontrolle zu bringen und antwortete versöhnlich, wohlwissend, dass Nighton uns vermutlich hören konnte: »Schon gut. Du kannst nichts dafür. Für mich ist es auch noch neu. Vor allem das Alleinsein.« Ich merkte gar nicht, wie sich ein trauriger Ausdruck auf mein Gesicht zu legen schien, denn auf einmal fand ich mich in einer tröslichen Umarmung von Sam wieder. Verwirrt erwiderte ich sie.
»Ich bin echt froh, dass du hier bist. Ohne dich ist es total langweilig, und mich dir wochenlang nicht zeigen zu dürfen, war so hart«, erwiderte Sam leidig und drückte mich noch mehr. Erst, als ich röchelte, schob er mich von sich und räusperte sich.
»Komm, es gibt noch viel zu sehen«, versprach er über die Schulter zeigend.
»Hey, Sam«, hielt ich ihn zurück. »Tut mir leid wegen Mittwoch. Ich hätte dich nicht so drängen dürfen.« Entschuldigend schaute ich meinen Freund an, der überrascht die Augenbrauen hochzog und dann kommentierte: »Nicht der Rede wert, aber danke, das ist nett von dir. Nett und gruselig.« Damit lächelte er mich zahnreich an und lief in den Flur. Ich zog eine Grimasse und folgte ihm.
»Wer hat denn die ganzen Möbel bezahlt? Das sieht alles so teuer aus«, fragte ich und betrachtete den sorgsam angefertigten Deckenstuck.
Sam ließ ein »Hm« ertönen, ehe er dazu sagte: »Na, ich denke deine Mum. Wir wissen noch nicht viel über dieses Haus. Ihr Nachlass ist scheinbar einfach so aufgetaucht und da stand drin, dass sie es dir vermacht.«
Er öffnete die Tür zu einem Bad mit Eckbadewanne. Hier sah ich, dass das Bad renoviert worden war, denn das Mobiliar war noch nicht alt, auch das Waschbecken machte einen eher neuen Eindruck.
Neben dem Bad lag das Wohnzimmer. Betrat man es durch den Türbogen vom Flur aus, befand sich auf der linken Seite ein Kamin mit Marmorplatte, über dem ein erschreckend großer Fernseher hing. Vor dem Kamin standen zwei Sofas und ein Drehsessel. Sie alle waren um einen niedrigen Couchtisch angeordnet, auf dem ein silbernes Deko-Teeservice stand. In der Ecke links entdeckte ich einige deckenhohe Bücherregale voller steinalter Bücher. Ich schenkte ihnen aber kaum Beachtung, sondern lenkte meine volle Aufmerksamkeit auf einen Konzertflügel, der in einer der Erkernischen stand.
»Oh!«, stieß ich hervor und stürzte mich sofort auf das edle Instrument.
Sam nickte im Angesicht meiner Begeisterung und mutmaßte: »Deine Mum muss gewusst haben, dass du spielen kannst.«
Andächtig betastete ich das feine Elfenbein und verliebte mich sofort in den Flügel. Da fiel mir noch etwas anderes ins Auge, diesmal hinter Sam und damit an der Wand, an der sich auch der Türbogen zum Flur befand.
»Ist das etwa eine-«
Sam schaute über die Schulter, griff nach einem Geschirrtuch an einem Haken und schwang es sich in Barkeeper-Manier über die Schulter.
»Jep. Hier gibt es eine Bar. Ich habe mir sagen lassen, dass ich der beste Mochitomixer auf der gesamten Insel bin.« Mit gespielt hochnäsiger Miene stellte Sam sich hinter dir Bar und posierte. Ich musste lachen und gab nur ein »Jaja« von mir.
Sam schaffte es kaum, mich von der Bar weg zu bewegen, doch bald schon befanden wir uns auf der Treppe in den ersten Stock. Der erwies sich als weniger spektakulär als das Erdgeschoss. Kam man die Doppeltreppe nach oben, so fand man sich in einem quadratischen Flur mit brauner Wandtäfelung wieder, von dem ein paar Türen abgingen. Auf der linken Seite gab es nur eine, da dort noch eine einzelne Treppe in den zweiten Stock führte, wo laut Sam nur Abstellräume waren. Auch hier oben lag ein grüner Läufer. Sam bedeutete mir, in das Zimmer zu gehen, das sich genau gegenüber der Treppe befand. Es handete sich um ein längliches Schlafzimmer mit einer dunkelroten Damast-Tapete.
Links an der Wand stand ein wunderschönes Himmelbett mit Seidenvorhängen auf einem braunen Teppich. Das Bett selbst wirkte unbenutzt und wurde von zwei Nachttischen mit Lampen flankiert. Auf der gegenüberliegenden Zimmerseite standen ein paar Schränke sowie eine abgenutzte Sesselgarnitur. Die hohen Fenster wurden von grauen, bodenlangen Vorhängen bedeckt. Neben dem linken Nachttisch führte eine Tür in ein weiteres Bad. Auch hier gab es eine Eckbadewanne und es roch nach Zitronenreiniger.
Als ich fragte, erklärte Sam, dass dieses Zimmer als Einziges unbewohnt war. Zwar hatte sich laut ihm Nighton ab und zu hierhin zurückgezogen, es aber nie für sich beansprucht.
»Das könnte ja deins werden!«, schloss er am Ende aufgeregt und wackelte mit den Augenbrauen. Doch ich zögerte.
»Sam«, begann ich unsicher, »Nur weil ich mir das Haus ansehe, heißt das doch nicht, dass ich hierbleibe. Ich habe schon ein Zuhause und außerdem-«
»-außerdem läuft hier ein tyrannischer Yindarin rum. Schon klar.« Er rollte mit den Augen, ehe er sich erschrocken die Hände auf den Mund presste, als hätte er soeben vergessen, dass Nighton uns hören konnte. Als ich nicht reagierte, sondern den Pfosten des Bettes berührte, räusperte Sam sich und bemerkte vorsichtig und mit ausgewählt wirkenden Worten: »Nighton hat nie viel darüber erzählt, was bei deinem Kampf gegen die Dämonengöttin passiert ist.« Ich wusste, dass eine unausgesprochene Frage hinter seinen Worten lag. Dennoch fragte ich zurück: »So? Was hat er denn gesagt?«
Sam lehnte sich an den Türrahmen. Er schickte einen unsicheren Blick gen Boden.
»Nur, dass du deinen Yindarin geopfert hast, um ihn vor dem Tod zu retten. Und dass du Selene vertrieben hast, wodurch die Engel dann die vielen Breschen schließen konnten. Sonst nichts.«
»Hm«, brummte ich. Natürlich war Nighton nicht ins Detail gegangen, was den ausführlichen Hergang meiner Konfrontation mit Selene betraf. Wieso hätte er auch nicht lügen sollen? Alles andere hätte entweder in seiner Vernichtung oder einer Gefangennahme geendet.
Doch Sam schaute mich immer noch neugierig an. Ein Teil von mir würde Nighton zu gern auffliegen lassen, doch ich beschloss, das vorerst sein zu lassen. Vielleicht würde mir das noch einen Vorteil verschaffen. Also lächelte ich Sam gespielt unbekümmert an und sagte: »So ähnlich war es auch.«
Er furchte die Stirn und erkundigte sich, die Stimme zu einem Flüstern senkend: »Und wieso hast du so einen Hals auf ihn?«
»Weil er-«, kurz stockte ich, während ich nach einer möglichst einleuchtenden Erklärung suchte. Doch dann beschloss ich, es von mir zu schieben und schwenkte um: »Weißt du was, frag doch einfach Nighton. Ich bin sicher, er erklärt es dir gerne.«
Damit schickte ich Sam ein vielsagendes Lächeln und lief an ihm vorbei zurück in den Flur. Ich wollte nicht weiter an Nighton denken oder über ihn reden. Sam folgte mir und verzichtete zu seinem und zu meinem Glück darauf, weiter nachzubohren.
Die anderen Türen, die vom Flur abzweigten, führten in die anderen Schlafzimmer. Sam erzählte, dass Penny und Evelyn sich eins teilten, er selbst hatte ein anderes mit einem Dämon namens Melvyn bezogen und im dritten und letzten residierte ein Engel namens Nivia. Von den beiden Letzteren hatte ich noch nie gehört, doch Sam erklärte, dass sie seit Beginn der Erd-Missionen mit dabei waren, aber oft ihr eigenes Ding machten.
Als ich das Wichtigste besichtigt hatte, gingen wir zum Schluss in den Keller, wo Nighton auf uns wartete. Auf der Kellertreppe überlegte ich hin und her, stellte mir die mystischsten Dinge vor, die eine Wand an sich haben könnte, doch als wir im muffigen Keller vor einer Wand aus grauem Stein stehenblieben, war ich ziemlich unbeeindruckt. Das einzig Besondere war, dass sie hier nicht hineinpasste.
Jemand hatte den ganzen Kram, der hier unten wohl für gewöhnlich zu lagern schien, an die Seiten geräumt, um den Weg zur Wand freizumachen. Zu meinem Erstaunen verschwanden einige Dinge bis zur Hälfte oder teilweise fast gänzlich in der Wand, als sei diese erst hier entstanden, nachdem jemand die Sachen dort abgestellt hatte. Es wirkte beinahe wie ein Glitch in der Welt. Inmitten des Chaos konnte ich Holzkisten, Setzkästen, einen zerschlissenen Boxsack, ein Leinwandregal, mehrere alte Sessel und Sofatische sowie ein kaputtes Paravent, gestapelte Stühle, gefüllte Säcke und Spinnenweben ausmachen.
Nighton stand auf, sobald wir die Treppe hinter uns ließen. Sein Gesicht war glatt und ausdruckslos, aber ich wusste, dass er jedes Wort mitangehört hatte. Sofern sein Gehör überhaupt so gut funktionierte, immerhin blockierte Sekeera ihn ja.
»Fertig?«, fragte er an Sam gewandt. Der bejahte. Nighton zeigte an die Decke und sagte: »Gut. Danke, Sam. Du kannst oben warten.«
Sam blinzelte verwirrt. Wahrscheinlich hörte er nicht oft ein Danke von Nighton. Er schickte mir einen Blick, dann lief er die Treppe wieder nach oben. Ich hingegen wandte mich der Wand zu. Mein Interesse war vollends geweckt. Vielleicht war nun der Moment für den Blitzschlag gekommen?
»Also-«, fing ich an und musterte die fugenlose Wand, »- das ist die Wand? Was ist so toll an der? Sieht für mich ganz normal aus.«
Nighton zuckte mit den Schultern, trat dann aber auf die Wand zu und berührte sie mit der flachen Hand. Es war eine vorsichtige Berührung, doch es reichte aus, um ein Vibrieren durch den Raum fahren zu lassen. Erschrocken ging ich leicht in die Knie, um das Gleichgewicht zu wahren. Da tauchten plötzlich aus dem Nichts leuchtende Schriftzeichen an der Wand auf, die ich nicht lesen konnte. Mit offenem Mund musterte ich sie.
»Was steht da?«, wollte ich wissen.
»Blut von meinem Blut«, las Nighton vor. Verwirrt musterte ich die Schrift und trat, die Hände in die Seiten stemmend, zurück.
»Klingt wie ein Rätsel«, überlegte ich. »Das hier war Siwes Haus. Ich bin ihr Blut. Also sollte ich es versuchen, oder?«
Nighton schaute mich einen Moment lang ungläubig an. In dieser Sekunde schien der alte Nighton durchzublitzen, der so oft an meiner Intelligenz gezweifelt hatte.
Langsam, als müsste er mir die Situation noch einmal bewusst machen, fragte Nighton: »Das meinst du nicht ernst, oder?«
Verwirrt blinzelte ich. War das so eine blöde Frage gewesen?
»Ich - ich weiß nicht. Vielleicht würde es ja helfen.«
»Ja, klar, deinem Untergang vielleicht!«, rutschte es Nighton heraus. Ich sah ihm an, dass er sich sofort auf die Zunge biss. Wahrscheinlich hatte er das gar nicht sagen wollen und rechnete nun damit, von mir Eins aufs Dach zu bekommen. Doch ich hatte nicht vor, ihn deshalb anzufahren. Stattdessen lachte ich einmal auf und hob die Schultern an.
»Ist vielleicht wirklich eine blöde Idee.«
Die Überraschung auf Nightons Gesicht war nahezu greifbar. Er schien mit allem gerechnet haben, nur nicht mit einem Einlenken meinerseits. Etwas verunsichert sagte er: »Dann - dann lass uns wieder hochgehen. Diese Wand - etwas Unangenehmes geht von ihr aus.«
Ich stimmte zu, schaute aber noch einmal über die Schulter, ehe ich Nighton folgte. Er hatte Recht, etwas war mitdieser Wand. Tief in mir wusste ich, dass es besser war, nichts zu riskieren. Jedenfalls nicht jetzt. Wer wusste schon, was ich damit lostreten würde?