Also blieb ich und setzte mich langsam in Bewegung, auf Nighton zuhaltend. Kurz vor ihm hielt ich an. Er hatte noch nicht einmal registriert, dass ich vor ihm stand.
Ein letztes Mal noch zögerte ich, dann überwand ich mich und ergriff fest seine glühenden Hände. Mit einem Mal war die Furcht vor seiner Berührung weg, als hätte es sie nie gegeben. Ich bog seine Arme auseinander und umarmte ihn, meinen Kopf fest an seinen Brustkorb drückend, sodass ich sein Herz hören konnte. Es hämmerte so intensiv, dass es mich nicht wundern würde, wenn es gleich aus seiner Brust hervorplatzen würde.
Doch nach ein paar Augenblicken, in denen ich mich an ihn schmiegte und einfach nur atmete, beruhigte sich sein Herzschlag zunehmend. Kurz darauf lief eine Bewegung durch seinen Körper.
Ich sah zu Nighton auf, der über meinen Kopf hinwegstarrte. Sein Kiefer war fest zusammengepresst, und ich sah, dass seine Augen rot und glasig erschienen. Dazu konnte ich die noch nicht vollständig getrocknete Spur einer einzelnen Träne erkennen, die ihm über die Wange gelaufen war. Diese ungewohnte Verletzlichkeit, die ich noch nie an ihm erlebt hatte, traf mich völlig unvermittelt.
Plötzlich schniefte er. Dieses Geräusch irritierte sowohl ihn als auch mich. Er runzelte die Stirn und blinzelte einige Male, bevor er auf mich hinabsah. Für einen Moment währte sein unergründlicher Blick, doch dann legte er ebenfalls seine Arme um mich und drückte mich nur noch fester an sich.
In dieser Sekunde endete der Druck, den ich mir seit Freitag durch Dorzars Übergriffigkeit und seine Drohung, es vor Nighton zu verheimlichen, selbst gemacht hatte. Zwar gab es immer noch die nicht unbedeutende Sache mit Freitag, doch die war gerade in den Hintergrund gerückt. Es war, als würde jemand einen Damm einreißen, der die wahre Flut von Tränen zurückgehalten hatte. Minutenlang heulte ich Rotz und Wasser. Nighton hielt mich einfach fest, ließ mich weinen, bis meine Tränen versiegt waren und nur noch ein dumpfer Schmerz in meinem Kopf zurückblieb.
Irgendwann löste ich mich etwas von ihm. Mein Gesicht klebte vom Blut und den Tränen. Nach einem langen Moment der Stille holte er auf einmal scharf Luft und begann mit leiser, monotoner Stimme zu sprechen.
»Das war es also, was du mir nicht sagen wolltest.«
»Ja«, flüsterte ich und legte meinen Kopf wieder an seine Brust. Seine Nähe beruhigte mich, und das brauchte ich jetzt mehr als alles andere.
Nighton presste seine nächsten Worte mit sichtlicher Anstrengung hervor: »Es – es tut mir so, so leid.« Überraschung durchzuckte mich, und ich zog den Kopf zurück, um in seine Augen zu blicken, die wieder über mich hinwegschauten.
Erschrocken fragte ich: »Warum?«
»Weil ich nicht da war, um dich zu beschützen, wie ich es hätte tun sollen. Ich... ich dachte, dass ich... könnte ich die Zeit zurückd...«
»Nein«, unterbrach ich ihn energisch und schüttelte den Kopf. »Das war nicht deine Schuld! Du bist der Yindarin, ich weiß, wie das ist, du kannst nicht immer überall gleichzeitig sein.« Meine Stimme versagte, als ich sah, wie Nighton seine Lippen bebend zusammenpresste.
»Na und? Kein Oberstadt, kein Unterstadt und auch sonst keine Dimension ist es wert, dass du so etwas durchmachen musst. So lange hatte ich gar nichts, nur meine Hörigkeit, Selenes Befehle und so viel Gleichgültigkeit, bis du dahergestolpert kamst und mir endlich einen Sinn gegeben hast. Ich will nichts mehr als dich bei mir zu haben und zu beschützen, doch immer wieder gleitet mir dieses Vorhaben durch die Finger! Und es scheint von Mal zu Mal schlimmer zu werden.«
Seine Worte lockten doch noch einige Tränen aus der Reserve, aber mein Herz wurde ganz warm und weit. Ich hätte die Augen schließen und den Moment genießen können, wenn nicht der drohende Freitag wie ein dunkler Schatten über mir gehangen hätte. Sollte ich ihm vielleicht doch alles sagen? Nur was, wenn die Zwillinge zuhörten? Was, wenn - nein, nein, ich durfte einfach nicht.
Da schluckte Nighton und sah zur Seite. Leise und fast etwas nachdenklich sagte er: »Sekeera - sie - sie hat zum ersten Mal mit mir gesprochen.« Kurz wusste ich nichts mit dieser Info anzufangen. Ehrlich gesagt ließ sie mich eher leer zurück, aber trotzdem versuchte ich, mich für ihn zu freuen.
»Wirklich? Aber das ist doch gut!«
Aber Nighton schien anderer Meinung zu sein.
»Nein!«, stieß er hervor. »Bisher hat sie mir immer nur ihre Stimmungen und Gefühle aufgedrückt, aber eben - da hat sie wirklich mit mir geredet. Oder geschrien, besser gesagt. Wegen ihr habe ich Melvyn so zugerichtet. Als sie gehört hat, was passiert ist, hat sie mich verdrängt, aus dem Weg geräumt, einfach so! Ich wusste, dass sie schwer zu kontrollieren ist, aber so? Sie ist so stark!«
»Ja, das ist sie«, hauchte ich und spürte abermals den Schmerz über Sekeeras Verlust in meinem Herzen. Anhand von Nightons wegdriftendem Gesichtsausdruck erkannte ich, dass er offenbar gerade mit meinem Yindarin sprach. Sehnsüchtig musterte ich sein Gesicht. Was gäbe ich darum, ihre Stimme zu hören?
Vorsichtig fragte ich: »Was sagt sie?«
Nighton runzelte die Stirn, bevor er antwortete: »Sie beleidigt mich.«
Ein Prusten entwich mir. Das klang definitiv nach Sekeera. Auch Nightons Mundwinkel zuckten leicht, als er mich losließ und sich abwandte. Offenbar hatte sie noch mehr zu sagen, denn seine Mimik änderte sich von überrascht zu belustigt zu verärgert. Irgendwann sah er mich an.
»Ich soll dir sagen, dass sie gerade hinter dir steht und dich umarmt, auch wenn du das nicht spüren oder sehen kannst«, sagte er. Ich legte eine Hand auf meinen Mund und schielte über meine Schulter ins Nichts. In meiner Kehle machte sich ein fetter Kloß bemerkbar. Fast wollte ich mir einbilden, Sekeeras Berührung zu spüren.
»Jetzt redet sie davon, dass sie dich vermisst.« Zuerst lächelte Nighton, dann hob er eine Augenbraue. »Und mich hasst sie. Ja, ist gut, kann ich verstehen. Ruhe. Ruhe!« Er schüttelte den Kopf, als wollte er die Stimme in seinem Kopf loswerden. Nachdem offensichtlich Ruhe in seinem Schädel eingekehrt war, wandte er sich wieder mir zu. Sein Blick glitt schon an mir vorbei auf das Gemetzel hinter mir, da sagte ich ernsthaft und ohne groß drüber nachzudenken: »Jason war noch rechtzeitig, bevor Dorzar mich - er war zwar dabei, aber - er hat nicht - du weißt schon.« Ich senkte den Kopf. Nighton atmete erleichtert aus.
»Danke, dass du es mir gesagt hast«, flüsterte er, nahm meine Hände in seine und drückte sie sich fest an die Brust. »Ich wollte dich das nicht fragen, aber... danke.«
Ich lächelte ihn an, was er zu erwidern versuchte, doch etwas schien ihn abzuhalten. Wieder driftete sein Blick in den Hintergrund, bevor er fast bitter sagte: »Ich will es zwar nicht wahrhaben, aber ich verstehe, wieso du mir nichts von Freitag sagen wolltest.« Sein Kiefer verhärtete sich erneut, während er fortfuhr. »In mir war schon immer Dunkelheit, Jen. Sekeera verstärkt die nur noch, weil sie so wahnsinnig stark, unkontrollierbar und mächtig ist. Ich weiß nicht, ob ich es schaffe, dasselbe Maß der Kontrolle auf sie auszuüben, wie du es getan hast«, murmelte er leise, den Blick nicht von der Blutlache hinter mir abwendend.
»Ich weiß«, seufzte ich. »Aber das ist das Los eines Yindarin. Du wirst lernen, damit umzugehen. Du bist erst seit wenigen Monate einer, also mach dir nicht so viel Druck. Weißt du noch? Deine Worte. Außerdem, so wild und konflikfreudig Sekeera manchmal auch sein mag - in ihrem Kern ist sie gut. Sie würde niemals zulassen, dass du etwas wirklich Dummes tust. Du musst ihr einfach vertrauen, habe ich auch gemacht. Und irgendwann fügt sich alles.«
Nightons Blick traf wieder meinen. Er schüttelte leicht den Kopf. »Ich weiß nicht, wie ich dich verdient habe.«
Ein schwaches Lächeln huschte über mein Gesicht, und ich löste meine Hände aus seinen. »Komm, lass uns das Massaker hier sauber machen, bevor Anna es noch zu Gesicht bekommt.«
Nighton runzelte die Stirn, dann sah er auf die Uhr, die Jason an einem der Bogengänge angebracht hatte. Er zog eine Grimasse und bemerkte: »Es ist fast neun. Du musst doch zur Schule.«
Ich schnaubte und zuckte mit den Schultern, während ich zum Tisch trat.
»Als ob mich das jetzt interessiert. Ich kann immer noch zur nächsten Stunde gehen.« Nighton zuckte ebenfalls mit den Schultern und kam zu mir, um mir zu helfen. Gemeinsam sammelten wir die verstreuten Waffen ein, stellten den Tisch wieder an seinen Platz und begannen, das Blut mit Handtüchern aufzuwischen. Ich wollte gerade für die hartnäckigen Flecken einen Eimer in der Küche mit Wasser befüllen, da räusperte sich Nighton im Hintergrund. Ich hielt inne und drehte mich um.
»Darf ich dich was zu Freitag fragen?«, begann er vorsichtig.
Mein Herz setzte einen Schlag aus, und ich biss mir auf die Lippe, während der Wasserstrahl unaufhaltsam den Eimer füllte. Ich wollte nicht über Freitag sprechen. Nicht jetzt. Nicht jemals. Aber ich nickte stumm.
»Warum war er dort? Um dich mitzunehmen? Wenn ja, warum hat er es nicht getan? Also - sofern du drüber sprechen kannst.«
Die Erwähnung von Dorzars Namen ließ mich schaudern und meine Schultern sanken. Es war, als ob eine unsichtbare Hand mich niederdrückte. Es war wie ein Automatismus. Ich zögerte, dann erklärte ich leise und nüchtern, wie Dorzar mir beweisen wollte, dass er nie blufft und ich mich immer vor ihm in Acht nehmen sollte. Es beantwortete Nightons Fragen nicht wirklich, aber es schien ihm trotzdem genug zu sein. In seinen Augen lag ein Ausdruck tiefer Abscheu, als er meinen Worten lauschte.
Für einen Moment war ich kurz davor, ihm alles zu sagen, ihm das Dunkle, Verborgene anzuvertrauen, das mich von innen auffraß. Doch die Angst packte mich wieder. Was, wenn die Zwillinge mich beobachteten? Wenn sie wussten, wo ich war und jeden meiner Schritte verfolgten? Die Paranoia keimte in mir auf, ihre Wurzeln griffen nach mit aller Macht nach mir. Was, wenn sie draußen vor der Kirche lauerten? Oder auf dem Dach saßen und zusahen, wie ich zerbrach? Plötzlich fühlte ich mich wieder beobachtet, als wären ihre Augen überall. Der Drang, alle Geheimnisse preiszugeben, war dennoch so stark, dass Nighton sofort merkte, dass ich mit etwas zurückhielt. Mein Mund öffnete sich automatisch und schloss sich wieder, während ich versuchte, die richtigen Worte zu finden.
Sein Stirnrunzeln vertiefte sich, und er neigte den Kopf. Seine Augen durchbohrten mich wachsam und eine Spurt weit ängstlich-besorgt. »Komm schon, sag, was du sagen willst. Es kann nicht schlimmer werden, als es schon ist.«
Da stellte sich ein beklemmendes Gefühl in meiner Brust ein. Nein, nein, ich durfte auf keinen Fall etwas sagen! Ich konnte niemanden in Gefahr bringen. Niemanden! Nicht Nighton, nicht die anderen. Also schob ich mein Stottern und Zögern auf den schrecklichen Abend mit Dorzar und war froh, dass Nighton mir tatsächlich glaubte und nicht weiter nachbohrte. Ich kehrte mit dem vollen Eimer zurück und begann, zusammen mit ihm das Blut vom Boden zu wischen.
Während des Putzens wurde mir warm, und ohne nachzudenken, zog ich meinen Schal ab und wischte mir mit dem Handrücken über die Stirn. Die hässlichen, lila-gelben Flecken an meinem Hals und entlang meines Schlüsselbeins entblößten sich. Sogar Dorzars Zahnabdruck wurde sichtbar.
Ich merkte aus dem Augenwinkel, wie Nighton sich etwas aus seiner knienden Position aufrichtete, also hob auch ich den Kopf an. Sein Blick haftete auf den Flecken, und seine Augen weiteten sich. Dunkle Erkenntnis glomm in ihnen. Er nahm mir den Schal ab.
»Zieh die Jacke aus,«, sagte er leise, aber eindringlich.
Ich ließ den Schwamm fallen und schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Ausziehen!« Nightons Stimme zitterte, und seine Hand umklammerte den Schal fester.
Ich kämpfte gegen das Bedürfnis an, wieder in Tränen auszubrechen. Langsam und widerwillig schälte ich mich aus der Lederjacke. Unter ihr trug ich ein dünnes, langärmliges Sweatshirt, das die Flecken kaum verdeckte.
Nighton warf den Schal auf einen Stuhl, erhob sich und zog auch mich auf die Beine. Er griff nach meinem linken Arm und schob den Ärmel hoch. Seine Berührung war sanft, aber entschlossen. Ich wandte den Blick ab, zu beschämt, um hinzusehen.
Er sog scharf die Luft ein, als er die Flecken sah, die sich über meinen Arm zogen. Er schob den Ärmel meines anderen Arms hoch, der ähnlich schlimm aussah.
»Wo noch?« fragte er.
Den Mund zusammenkneifend deutete ich auf mein Bein und dann auf meine Flanke, die am meisten schmerzte.
Nighton ging um mich herum und hob vorsichtig mein Shirt an der Seite hoch. Ich versteifte mich, als seine Finger meine empfindliche Haut berührten. Das Hämatom war gewachsen. Es breitete sich vom untersten Rippenbogen bis zum Hüftknochen aus. Die Fingerabdrücke von Dorzars Hand waren immer noch deutlich zu sehen, wie eine ständige Erinnerung an den Schmerz.
Ich verspürte den Drang, mich ihm zu entziehen, erst recht, als Nighton den riesigen blauen Fleck berührte. Seine Finger krampften sich um den Stoff meines Shirts. Unsere Blicke trafen sich, und ich sah die Wut und den Schmerz in seinen Augen. Sein Unterkiefer schob sich nach vorne, und seine Nasenflügel bebten.
»Ich bringe ihn um«, zischte Nighton hasserfüllt.
Ich riss mich los, zog das Shirt glatt und sah ihm fest in die Augen. »Nein.«
Mit einem Augenaufschlag zu ihm nach oben packte ich all meine Wut auf Dorzar in das Folgende: »Ich bringe ihn um.«