Hinter mir hörte ich Schritte. Schwer, entschlossen. Es war Nighton. Ich drehte mich langsam um, bereit für den Schlag. Er stand im Türrahmen, seine Hand ruhte an der Tür, während er mich unverwandt ansah. Sein Gesicht war so vertraut, so tröstlich. Aber ich konnte den Blick nicht halten. Nicht heute. Nicht jetzt.
Also wandte ich mich wieder ab.
»Ist bei dir alles in Ordnung?«, fragte Nighton. Seine Stimme klang zwar beiläufig, aber der misstrauische, wachsame Unterton war unüberhörbar.
Ich nickte, spürte jedoch, wie mein Kopf dabei unnatürlich wackelte. Verdammt, bleib einfach ruhig, Jennifer!
»Ja, klar, alles in bester Ordnung«, log ich und hoffte inständig, dass er die Nervosität in meiner Stimme nicht bemerkte.
Sein Blick verengte sich leicht, sein Gesicht wurde zu einer Maske aus vorsichtiger Sorge. Argwöhnisch bohrte er weiter: »Das klingt aber nicht so. Ich kenne dich, Jen. Was ist gestern passiert? War was mit diesem Owen?«
Nighton trat einen Schritt näher, doch seine Präsenz fühlte sich plötzlich erdrückend an. Mit sanfter Bestimmtheit legte er eine Hand auf meine gesunde Flanke und nahm mir die wackelnde Bohnendose aus der Hand. Dann drehte er mich behutsam zu sich um, bis ich gezwungen war, direkt auf seinen blauen Pullover zu blicken. Ich wollte weglaufen, weit weg von hier, doch ich wusste, dass es keinen Ausweg gab. Nicht jetzt.
Da hoben seine Finger auch schon mein Kinn an, und ich musste widerwillig hoch in seine moosgrünen Augen schauen, die mich fast röngten. Es gab keinen Ort, an dem ich mich verstecken konnte.
»Du hast geweint«, stellte Nighton mit alarmierter Stimme fest. Seine Stirn legte sich in Falten. Ich versuchte, mich von ihm zu lösen, doch seine Hand hielt mein Kinn sanft, aber bestimmt fest. Mein Blick wanderte zur Seite, weg von seinen durchdringenden Augen.
»Und zwar ziemlich viel«, fügte er hinzu. Seine Stimme war jetzt endgültig voller Besorgnis. Die Sorgenfalte zwischen seinen Augenbrauen vertiefte sich.
»Raus damit, was ist passiert?«
Mein Herz raste. Panik schnürte mir die Kehle zu. Was sollte ich jetzt sagen? Die Wahrheit? Unmöglich! Die Gedanken schossen wie Feuerwerk durch meinen Kopf, bis ich schließlich eine Notlüge herauspresste.
»Schuhe. Meine Schuhe. Ich … habe sie verloren.« Meine Stimme klang brüchig, aber zumindest war es keine komplette Lüge. Meine High Heels lagen immer noch in diesem Raum... in dem Raum, wo alles passiert war.
»Du hast deine Schuhe verloren?«, wiederholte Nighton gedehnt und ziemlich ungläubig. Er lockerte seinen Griff um mein Kinn, und ich drehte mich erleichtert um.
»Ja. Weil ich … zu viel getrunken habe. So, jetzt ist es raus. Ich habe so viel gesoffen, Nighton, das würdest du gar nicht glauben. Und wenn ich viel trinke, dann neige ich zum hysterischen Heulen. Auch wenn es nur um Schuhe geht.« Beim Reden wurde meine Stimme fester, als ob die Lüge durch die Wiederholung glaubhafter wurde. Doch als ich über die Schulter in sein Gesicht sah, spürte ich, dass ich ihn nicht überzeugt hatte.
Nightons Augen musterten mich scharf, als ob sie nach einer Lücke in meiner Fassade suchten. Sein Gesicht blieb wachsam, die Sorge darin nur allzu deutlich zu erkennen.
Was, wenn er nicht locker ließ? Was, wenn er die Wahrheit herausfand?
Ich griff erneut nach der Dose mit den Bohnen. Meine Hände zitterten immer noch, aber wenigstens nicht mehr so heftig. Nighton holte tief Luft, vermutlich um mich weiter auszufragen, doch bevor er das tun konnte, stürmte Sam in die Küche. Er wirkte aufgeregt und schob seine Brille nervös immer wieder ein Stück die Nase hinauf.
»Leute, es ist im Fernsehen!«, verkündete er, was auch immer das heißen mochte. Die Anspannung in seiner Stimme war kaum zu überhören.
Nighton machte große Augen.
»Was, wirklich?«, fragte er, und ich sah, wie seine Haltung sich veränderte, wie sein Fokus von mir abglitt. »Komm, Jen!« rief er und folgte Sam eilig aus der Küche.
Ich atmete erleichtert aus. Nighton war abgelenkt, wenigstens für den Moment. Ich stellte die Bohnen zurück auf die Arbeitsplatte und schloss mich den anderen an, die bereits ins Wohnzimmer stürmten.
Als ich dort ankam, sah ich, wie Melvyn gerade die Lautstärke erhöhte. Die NBC News liefen. Zwei Moderatoren füllten den Bildschirm, ihre Mienen ernst. Im Hintergrund zeigte ein Bild eine Hausruine, die mir seltsam vertraut vorkam.
»Nun, Hank-«, begann gerade die eine Moderatorin, ihre Stimme triefend vor Sensationslust, »-wir wollen unseren Zuschauern die neuesten und myteriösesten Meldungen der Woche nicht vorenthalten! Viele von Ihnen haben sicherlich schon von dem geheimnisvollen Internat gehört.«
Internat? Geheimnisvoll? Was war denn jetzt schon wieder los?
»Ganz genau, Portia«, stimmte der andere Moderator namens Hank zu. Er wirkte ernst, als er fortfuhr. »Heute Morgen hat ein Forschungsteam des Militärs an der Ostküste Schottlands eine unglaubliche Entdeckung gemacht. Hubschrauber haben ein völlig unbekanntes Gebiet entdeckt, das auf keiner Landkarte verzeichnet ist und scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht ist. In diesem Gebiet befindet sich ein Gebäude, das wie ein altes Internat aussieht. Auf einem Torpfosten fand man den Namen ‚Maw of Dun‘Creld‘ eingraviert. Doch hier wird es wirklich seltsam: Dieses Internat existiert nirgendwo in den offiziellen Aufzeichnungen, es gibt keine Hinweise auf eine Schule mit diesem Namen, weder im Internet noch in historischen Dokumenten.«
Ich spürte, wie sich meine Nackenhaare aufstellten. Ein seltsames Gefühl kroch über meine Haut, wie kaltes Wasser, das über meinen Rücken lief. Man hatte Dun'Creld entdeckt? Wie? Und warum sah das einst so eindrucksvolle Internat auf einmal so aus, als wäre es jahrhundertelanger Witterung ausgesetzt gewesen? Was hatte das zu bedeuten?
»Und als wäre das nicht schon merkwürdig genug-«, fuhr Portia fort, »-meldeten die Forscher erhöhte Strahlungswerte, die von einem ungewöhnlichen Mechanismus unter einer Steinplatte ausgehen. Wegen dieser Strahlung wurde das Gebiet sofort unter Quarantäne gestellt. Das Militär hat den Bereich weitläufig abgesperrt, um die genauen Umstände zu untersuchen.«
»Wir wissen noch nicht, was dies alles bedeutet-«, fügte Hank hinzu, »-aber wir werden die neuesten Informationen so schnell wie möglich an Sie weitergeben.«
Melvyn schaltete den Fernseher stumm. Ein unbehagliches Schweigen legte sich über den Raum. Mein Kopf schwirrte. Internat, Strahlung, Quarantäne? Was, zum Teufel, ging hier vor sich? Ich runzelte besorgt die Stirn. Das klang alles andere als gut.
»Die Menschen haben Dun'Creld gefunden«, flüsterte Penny entsetzt und warf einen panischen Blick zu Sam, der ebenso fassungslos dreinschaute.
»Und was machen wir jetzt? Vor allem, wie ist das passiert?« Evelyns Stimme klang schockiert, während sie die Luftaufnahmen Dun'Crelds auf dem Bildschirm anstarrte. Das Internat sah aus, als wäre Godzilla durchgetrampelt.
»Verdammte Scheiße«, knurrte nun auch Melvyn und sein Gesicht verfinsterte sich. »Wie konnte die olle Clementine das nicht vorhersehen?«
Nighton starrte mit verengten Augen auf den Fernseher, als ob er mit purem Willen die Zeit zurückdrehen könnte. Seine Stimme klang fest, aber seine Augen verrieten eine tiefe Sorge.
»Ich weiß es nicht. Aber eines ist sicher: Im Internat gibt es ein Verzeichnis aller existierenden Dämonen und Engel in Großbritannien. Wenn die Menschen anfangen zu schnüffeln und diese Aufzeichnungen finden...« Er ließ den Satz bedrohlich in der Luft hängen.
»Ja, aber-«, Penny setzte sich auf und lehnte sich mit aufgerissenen Augen nach vorne, »-was für ein Militär ist da im Spiel? Die British Army doch nicht? Und warum liegt das Internat in Trümmern?«
Nighton zuckte mit den Schultern. Dafür antwortete Melvyn an seiner Stelle.
»Miss Dawes wird sich selbst zerstört haben. Sie war der Keeper des Internats. Wenn sie stirbt, wird das Internat vernichtet. Vielleicht war Dun'Creld vor etwas in Gefahr und das war ihr letzter Ausweg. Oder sie hat einen Dimensionswandler benutzt.« Melvyn strich sich das lange Haar aus dem Gesicht, dann durch seinen Bart, bevor er weitersprach. »Soweit ich weiß, kann man mit so einem Gerät Zustände aus anderen Dimensionen mit denen unserer Welt vertauschen.«
Evelyn ließ eine Kaugummiblase platzen und sah ihren Lover verwirrt an. »Versteh ich nicht.«
»Das spielt keine Rolle«, warf Nighton rasch ein. »Worauf es ankommt, ist, dass wir jetzt alle in Gefahr sind. Die Menschen werden garantiert alles daransetzen, uns zu finden und hinter alles kommen zu wollen, wenn sie dieses Verzeichnis in die Finger bekommen.« Er stieß einen Fluch aus und sprang von der Sofakante auf. »Ich muss telefonieren.«
Damit erhob er sich von der Sofakante und verließ das Wohnzimmer, jedoch nicht ohne mir im Vorbeigehen sanft über die Wange zu streichen und mich anzulächeln. Ich ließ es mir zwar nicht anmerken, aber mir lief dabei ein Schauer über den Rücken. Eigentlich hatte ich gedacht, es würde mir besser gehen, wenn er bei mir wäre. Doch das Gegenteil war eher der Fall, was mich ziemlich erschütterte.
Während die anderen noch hitzig diskutierten, stand ich stumm an den Türrahmen gelehnt und starrte auf die Bilder des verfallenen Internats. Ein seltsames Gefühl beschlich mich dabei, eine Art merkwürdige Anziehung, die ich nicht richtig einordnen konnte.
Ich schüttelte den Kopf und schloss die Augen. Blödsinn, redete ich mir ein.
Hinter mir tauchte Thomas auf. Er trug seine Kopfhörer um den Hals und hielt ein Thunfisch-Sandwich in der Hand. Unsere Blicke trafen sich kurz, dann fragte er vorsichtig: »Wie geht es dir?«
Ich zuckte nur mit den Schultern und versuchte, ein Lächeln zu erzwingen, aber meine Mundwinkel gehorchten nicht. Thomas sah zu Melvyn, der gerade mit Evelyn über Miss Dawes lästerte, und warf ihm einen wütenden Blick zu. Als ich das bemerkte, stieß ich ihm warnend meinen Ellbogen in die Rippen.
»Was ist denn da los?«, wechselte mein Bruder schnell das Thema und deutete kauend auf den Fernseher. Seine Aufmerksamkeit driftete jedoch sofort zu Evelyn ab, und ich konnte sehen, dass er meiner Erklärung kaum folgte. In diesem Moment kam Anna angehüpft, angelockt vom Lärm des Fernsehers. Sie schien zu glauben, dass sie nun auch etwas schauen dürfe. Ich machte ihr einen Strich durch die Rechnung und schickte sie zurück in ihr Zimmer.
Kurz darauf kam Nighton zurück und klopfte Thomas freundschaftlich auf die Schulter, sodass dieser sich prompt an seinem Sandwich verschluckte. Dann bedeutete er Melvyn, den Fernseher auszumachen, der der Aufforderung nachkam.
»Also«, begann Nighton und stützte eine Hand in die Seite, während er sich mit der anderen die Nasenwurzel rieb, als ob er einen aufkommenden Kopfschmerz vertreiben wollte.
»Folgendes: Du und du-«, er zeigte auf Penny und Evelyn, »-ihr geht nach Oberstadt und helft der Himmelswache beim Errichten des Schutzwalls. Das ist vor allem für dich, Penny, da wird es einiges an alten Büchern durchzuwälzen geben.«
Evelyns Gesichtsausdruck verriet wenig Begeisterung, und sie zwirbelte an ihren grellrosa Strähnen herum. Penny hingegen nickte übereifrig, bereit, sich der Aufgabe zu stellen.
Nighton schaute zu Melvyn hinunter. »Du und ich, wir gehen zum Internat und schauen, was wir verhindern können. Und Sam-«, er zeigte auf mich, »-ich vertraue sie dir wieder an. Eigentlich hatte ich andere Pläne für dich, aber so ist es am besten. Du passt auf, dass sie weder entführt, benutzt, provoziert, terrorisiert oder verletzt wird. Und halte sie vom Backen ab.« Er zwinkerte mir zu, scheinbar in der Hoffnung, dass das meine Stimmung heben würde, aber mein Gesicht blieb ausdruckslos. Mir war nicht nach Lachen zumute. Stattdessen senkte ich den Blick, hob ihn jedoch sofort wieder, als ich von Nighton direkt angesprochen wurde.
»Ich weiß, du willst mit, aber dieses Mal haben wir kaum Zeit und-«
Ich fiel ihm sofort ins Wort. »Ist kein Problem.«
Nighton blinzelte überrascht und zog die Augenbrauen hoch. »Ehrlich? Okay, gut. Dann ist alles besprochen. Auf geht es. Wir treffen uns im Anschluss wieder alle hier. Und Sam, wenn es brennt, bringst du sie nach Oberstadt, kapiert?« Sam nickte, und es kam allgemeine Aufbruchsstimmung auf. Ich wollte mich unauffällig zurückziehen, aber da hatte ich die Rechnung ohne Nighton gemacht. Im Flur hielt er mich zurück, indem er mich am Arm ergriff. Er wartete kurz, bis die anderen vorgelaufen waren, dann begann er mit Sorge in der Stimme zu sprechen.
»Mit dir stimmt doch was nicht. Ich kenne dich, Jen, was ist los?«, bohrte er nach. Er ließ einfach nicht locker.
»Es ist nichts. Ich bin nur müde. Und verkatert«, war alles, was ich ausweichend antwortete.
Nighton versuchte, in meinen Augen eine Lüge zu erkennen, aber ich hatte ein so ausdrucksloses Gesicht aufgesetzt, dass es ihm nicht gelang. Resigniert ließ er meinen Arm los, machte einen Schritt auf mich zu und wollte mir einen Kuss auf die Stirn geben. Instinktiv wich ich zurück, obwohl ich das gar nicht wollte. Jetzt war sein Misstrauen nämlich endgültig geweckt. Aber Melvyn drängelte im Hintergrund zum Aufbruch, da alle anderen bereits draußen waren.
Nighton nickte ihm zu, dann zeigte er auf mich.
»Wir zwei sprechen uns nachher noch mal. Und dann will ich die Wahrheit wissen«, verkündete er fast drohend, schüttelte noch einmal den Kopf und verließ dann die Wohnung, die Tür hinter sich zuziehend.
Langsam setzte ich mich in Bewegung. Sam und mein Bruder standen im Türrahmen zur Küche und unterhielten sich über das beste Curry in London. Eigentlich wollte ich es unterdrücken, aber auf ihrer Höhe entkam mir ein unkontrollierter Schluchzer, und ich legte mir erschrocken eine Hand auf den Mund. Sam warf erst Thomas und dann mir einen fragenden Blick zu.
»Ist es echt so schlimm, dass er ohne dich geht? Er ist doch bald wieder da. Und hey, ich finde es auch beschissen, dass wir hier festsitzen. Ich meine, hätte er nicht ausnahmsweise mal Penny-« Am Ende brach er ab und sagte gar nichts mehr.
Ich wischte mir mit dem Ärmel über die Nase und atmete tief aus.
»Tut mir leid. Ich habe einen Kater. Mir geht es heute nicht so gut. Ich brauche meine Ruhe.«
Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte ich mich abrupt um und ging direkt in mein Zimmer. Kaum hatte ich die Tür hinter mir geschlossen, brach die Fassade zusammen, die ich so mühsam aufrechterhalten hatte.
Ein leises Wimmern entfuhr mir, als ich mich an die Tür lehnte und langsam zu Boden sank. Die Tränen stürzten mir erneut aus den Augen und ich konnte nichts dagegen tun. Mein Körper zitterte, während ich mich hilflos und vollkommen allein fühlte.
Nie im Leben würde ich es bis nächste Woche durchhalten, Nighton anzulügen. Doch das hieße, meine Familie in Gefahr zu bringen.
Was sollte ich nur tun?