Aus dem ersten Stock war plötzlich ein lautes Poltern zu hören, und bevor ich realisierte, was vor sich ging, tauchte eine halbnackte, tropfnasse Evelyn auf der Treppe auf, ein Handtuch nur notdürftig um ihren Körper gewickelt.
»Ich dachte schon-«, schnappte sie, bevor sie lautstark zu schimpfen begann: »Kannst du dich nicht mal ankündigen? Du kannst doch nicht einfach hier reinkommen, ich dachte, du wärst Selene!« Wütend schüttelte sie den Kopf. »Und wolltest du nicht Anna finden?«
Sofort ließ Nighton mich los, stellte mich sanft auf die Füße. Sein Gesicht spiegelte das, was ich zu befürchten begonnen hatte, noch bevor er den Kopf langsam schüttelte.
»Ihr hattet kein Glück«, flüsterte ich leise. In meinen Augen begann es zu brennen. Der Hauch von Freude, der mich beim Anblick seiner Rückkehr durchflutet hatte, begann zu verblassen.
»Nicht wirklich, nein«, gab er zu. Die Müdigkeit in seiner Stimme war beinahe greifbar.
Evelyn zog die Mundwinkel leicht nach oben, ihre Augen mit einem Anflug von Mitleid auf mir ruhend. »Tut mir leid, Jen.« Und mit diesen Worten verschwand sie wieder ins Bad, als hätte sie die Schwere der Situation für einen Moment gespürt und wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte.
Ich schluckte schwer, während meine Gedanken kreisten. Anna… wie oft hatte ich sie in den letzten Tagen vor Augen, gefangen in einem Albtraum, aus dem ich sie nicht befreien konnte. War ich wirklich so naiv gewesen, zu hoffen, dass er sie finden würde? Ein Teil von mir hatte es erwartet, ja, aber tief drinnen war da immer die Angst gewesen, dass Selene stärker war, als wir uns eingestehen wollten.
Und als würde es helfen, schlang ich wieder die Arme um Nightons Brustkorb, presste mich an ihn. Die Worte, die ich ihm vor wenigen Wochen an den Kopf geworfen hatte, drängten sich in mein Bewusstsein zurück. Ich war sie jeden Abend durchgegangen, hatte sie jedes Mal bereut. Auch jetzt bohrten sie sich in mein Herz, schmerzhafte Erinnerungen daran, wie wütend und verletzt ich gewesen war.
»Nighton…« Ich schluckte schwer, zögerte einen Moment, bevor ich weitersprach. »Es tut mir leid. Für das, was ich gesagt habe, das war ungerecht, nach allem, was war. Ich war so wütend, und ich…«
Nighton schnalzte mit der Zunge und strich mir über den Rücken. »Nicht entschuldigen.« Seine Stimme war ruhig, fast weich, und in seinen Augen lag eine sanfte Traurigkeit, wie ich erkannte, als ich aufsah. »Nach allem, was passiert ist… nach allem, was du durchmachen musstest – ich verstehe, warum du das gesagt hast. Es war eine Ausnahmesituation. Es ging um Anna… da würde jeder durchdrehen.«
Ich spürte, wie meine Kehle eng wurde, aber gleichzeitig fiel eine Art unsichtbarer Last von meinen Schultern. Seine Worte gaben mir die Erlaubnis, mich nicht weiter selbst dafür zu verurteilen, und dennoch fühlte ich einen tiefen Stich in der Brust. Ich legte meine Stirn an seine Schulter, brauchte den physischen Kontakt, um die Wogen meiner Gefühle zu beruhigen.
»Und ich bin so höllisch froh, dass wenigstens du wieder da bist«, brachte ich hervor. »Ich hatte solche Angst, dass dir etwas passiert. Ich wusste nicht, ob…« Ich konnte den Satz nicht zu Ende bringen, meine Stimme versagte. Die Vorstellung, dass er für immer fort sein könnte… nein, darüber wollte ich nie wieder nachdenken.
Nighton schob mich ein Stück nach hinten, um mir ins Gesicht sehen zu können, hob die Augenbrauen leicht und schaute mich an, als könne er es nicht fassen. »Du hattest Angst um mich?« Seine Lippen zuckten in einem belustigten Lächeln, und ein leises Lachen entglitt ihm, bevor er den Kopf leicht schüttelte. »Ich bin die Gefahr, die deine Nähe mit sich bringt, inzwischen mehr als gewohnt.«
Trotz der Ernsthaftigkeit der Situation musste ich leicht schmunzeln. »Das ist nicht lustig«, murmelte ich, leicht schmollend, aber seine Wärme, seine Nähe und das sanfte Zucken seiner Mundwinkel erweckten in mir eine Art erleichterte Heiterkeit. »Ich meine es ernst. Ich hatte wirklich Angst. Du und Sekeera, ihr seid nicht unsterblich, und du warst sehr lange weg, ohne, dass ich was gehört habe.«
Nighton sah mich einen Moment an, sein Ausdruck weich und voller Zuneigung, bevor er seine Hand sanft auf meine Wange legte. »Tut mir leid, dass du dir Sorgen gemacht hast«, sagte er leise. »Aber ich bin hier. Dir passiert nichts, mir passiert nichts. Wir sind hier… zusammen.« Seine Daumen strichen sanft über meine Wange, und der Blick, den er mir zuwarf, ließ mein Herz schneller schlagen.
Ich lächelte ihn an. Dass ich das schaffte, verblüffte mich. Immerhin wog die Sorge um Anna so schwer, dass sie kaum Spielraum für meine Mundwinkel bot. Tief durchatmend nickte ich mit dem Kopf in Richtung des Wohnzimmers und seufzte: »Ich brauche jetzt Alkohol. Dann kann ich deine Erzählung ertragen. Willst du auch?«
Nighton zögerte kurz, sein Blick wanderte über mich, als wollte er in mir lesen. Schließlich zuckte er mit den Schultern und brummte: »Warum eigentlich nicht.« Er folgte mir zur Bar. Dort spürte ich, wie sein Blick über mich glitt. Plötzlich legte er den Kopf schief und sagte: »Deine Haare… sie gefallen mir.«
Ich rang mir ein Lächeln ab, doch das verging schnell wieder. Ich griff nach einer Flasche Whiskey vom Regal und schenkte zwei Gläser ein. Ein Teil von mir wollte gar nicht wissen, wie die Suche verlaufen war. Nighton und Jason waren so lange weggewesen – und so riesig war Unterstadt nun auch nicht. Wo konnten Selene und Asmodeus sie bloß verstecken?
»Die anderen müssten auch jeden Moment kommen«, meinte Nighton da. Ich reichte ihm das Glas. »Wer kommt?« Ich runzelte die Stirn, mit den Gedanken nur halb bei seiner Aussage, halb immer noch bei der Vorstellung, Anna zu verlieren.
Nighton sah mich verwirrt an und setzte sich auf einen der Barhocker. »Hat Sam nichts gesagt?«
»Nein, der ist Karotten kaufen«, erwiderte ich nicht minder verwirrt. Nighton stöhnte auf, rieb sich über die Augen und sah plötzlich noch erschöpfter aus, als er sowieso schon war.
»Das heißt, ihr wisst also noch von gar nichts.« Er stützte sich auf seine Unterarme, das Glas fester umfassend. »Ich hatte eigentlich gar nicht vor, schon zurückzukommen. Tharostyn und die Erzengel haben Jason und mich bei unserer Suche unterbrochen und zurückgerufen. In Oberstadt nahe des Löwenkopfes sind gestern wohl dutzende Breschen aufgetaucht, die jetzt noch inaktiv sind. Die Engel rechnen zu jedem Moment mit einem Angriff aus Unterstadt. Selene und Asmodeus wollen ihren groß angekündigten Plan wohl starten.«
Ein Schauer lief mir über den Rücken. Das klang nicht nur schlecht, das klang nach einer Katastrophe. Wenn Selene und Asmodeus mit ihren Plänen voranschritten… bedeutete das dann, dass meine Zeit bald gekommen war? Immerhin wusste ich, dass sie mich noch zu irgendetwas brauchen würden, was auch immer das sein mochte. Allein daran zu denken, ließ Übelkeit in mir aufwallen. Fast mechanisch nahm ich mein eigenes Glas, umrundete die Bar und setzte mich neben Nighton. Er nahm einen Schluck der goldbraunen Flüssigkeit, ehe er mich direkt ansah und tief Luft holte. »Jen – wir wissen, wo Anna ist.«
Ich machte große Augen. Meine Finger krampften sich unwillkürlich um das Glas. »Wo ist sie?«, flüsterte ich. »Warum hast du sie nicht-«
»Weil ich nicht allein reinkomme.« Seine Worte klangen ruhig, aber in seiner Stimme lag ein Gewicht, das mich erzittern ließ. »Selene und Asmodeus halten deine Schwester in den Wolkenkerkern fest. Das ist ein Ort-«
»-in der Unterwelt«, beendete ich tonlos seinen Satz. »Ich erinnere mich. Im Internat haben sie darüber erzählt.« Wenn das stimmte, dann war es noch schlimmer, als ich befürchtet hatte. Mir drehte sich der Magen um. Die Unterwelt war ein gewaltiger Dimensionsriss zwischen Unterstadt und der Hölle. In dieser allesverschlingenden Vorhölle ragten titanengleiche Gebirgsformationen auf, deren Gipfel sich wie Speerspitzen in die Höhe bohrten, soweit das Auge reichte. Die drei höchsten Berge hatte die Höllenlegion unter jahrhunderterlanger Pein in Türme verwandelt – die Wolkenkerker, Unterstadts beliebtester Ort für seine besonders unliebsamen Feinde. Ein endlos tosender Sturm umkreiste sie wie ein sengender Wächter, ein höllisches Chaos aus dichtem Rauch und Feuer, das jede Hoffnung auf eine Flucht erstickte.
An den Füßen der Wolkenkerker befanden sich hunderte Brutkammern – riesige, lebendige Kavernen, in denen die Legionen der Dämonen heranwuchsen, abartig und zahlreich. Soweit ich wusste, war noch nie ein Gefangener aus den Wolkenkerkern entkommen. Dort, wo das Licht längst keinen Namen mehr hatte, gab es keine Rettung.
Ich starrte auf meine Hände, fassungslos, mit dem Gefühl, als wäre die Welt plötzlich um mehrere Schattierungen dunkler geworden. »Aber… aber was machen wir jetzt?«, flüsterte ich mit Tränen in den Augen. Ich konnte das einfach nicht verstehen. Wie grauenvoll musste es bloß für Anna sein? Ein kleines Mädchen an diesem schrecklichen Ort?
Nighton verzog das Gesicht. »Sobald wir das Breschen-Problem in Oberstadt gelöst haben«, begann er dann aber erstaunlich erschlossen, »werde ich mit so vielen Engeln wie nötig zu den Wolkenkerkern gehen und versuchen, Anna zu befreien. Durch meine Vergangenheit weiß ich, wo der Eingang in diese Zwischendimension liegt. Ich war sogar schon da.« Er schauderte, und das war nicht gerade hilfreich für mein Kopfkino.
Selenes Worte rutschten mir wieder in den Kopf. Es ergab einfach keinen Sinn für mich. »Was kann Selene nur von Annie wollen?« Ich schluckte, versuchte, die Fassung zu bewahren. Irgendwie.
Nighton holte tief Luft, als würde er einen letzten Atemzug nehmen, bevor er sich in düstere Tiefen stürzte. »Anna trägt Azmellôns Erbe in sich und ist deshalb außerordentlich mächtig. Seher können, mit der richtigen Anleitung und wenn sie es wirklich wollen, ganze Reiche vernichten. Die Seher vor Azmellôn waren Berater, so wie Tharostyn oder der Rat. Aber Azmellôn ist ins Exil gegangen und wurde zum Orakel, unangreifbar und abgeschottet in seinem Turm. Selene hat schon früher davon geredet, dass sie einen Seher braucht – wofür, hat sie allerdings nie gesagt. Aber es wird nichts sein, was uns gefallen dürfte – und Anna noch weniger.«
Ich richtete den Blick auf mein Glas. Meine Hände zitterten leicht, während ich es noch fester umklammerte. Meine arme Anna. Was für Ängste musste sie bloß durchstehen? Eingesperrt in dieser schrecklichen Hölle, allein, fern von allem, was sie je gekannt hatte – ohne einen Funken Hoffnung.
Die Tränen brannten inzwischen heiß in meinen Augen, doch Nighton wechselte plötzlich das Thema, bevor ich mich darüber wundern konnte. »Unser Problem ist aber, dass wir viel zu wenige sind, um Selene und Asmodeus ernsthaft entgegentreten zu können. Vor allem jetzt, wo sie… wie ich ist.« Sein Blick wurde angespannt und durchdringend. »Der Rat der Engel hat sich dazu entschieden, die Menschen, also TI, um Hilfe zu bitten, um ihre Kraft im bevorstehenden Kampf zu bestärken. Völlig geisteskrank, wenn du mich fragst, aber was ich denke, interessiert niemanden. Warum auch, ich bin ja nur der Yindarin, der zwischen ihnen und Unterstadt steht.« Er leerte sein Whiskeyglas mit einem Zug und stellte es auf die Bar, bevor er die Arme verschränkte und sich nach hinten lehnte.
Ich hatte die Augen aufgerissen. »Turano Industries… um Hilfe bitten?«, wiederholte ich entsetzt. »Sind die jetzt völlig durchgeknallt? Haben die Engel etwa vergessen, dass TI übernatürliche Wesen jagen und wie Laborratten zerlegen? Und wie soll das bitte funktionieren? Wir können Kellahan und seine Armee ja schlecht einfach anrufen! Und selbst wenn uns das gelingen sollte – wer sagt, dass sie dich dann nicht einfach schnappen?«
Nighton rieb sich den Nacken. Dabei nickte er zustimmend, einen missmutigen Ausdruck im Gesicht. »Sehe ich ganz genauso. Genau deshalb kriegen wir gleich Besuch«, sagte er düster. »Tharostyn hat angeblich einen Plan, aber man wollte mir in Oberstadt nichts Konkretes sagen.«
Kurz schüttelte er den Kopf, dann stieß er einen Seufzer auf und sah mich an. Er versuchte ein Lächeln und legte mir sanft die Hand auf den Rücken. »Du hast mir gefehlt«, murmelte er leise.
Ein kaum merkliches Lächeln huschte über mein Gesicht, auch wenn mir immer noch nach Verkriechen und Heulen zumute war. »Frag mich mal«, erwiderte ich.
Einen Moment lang saßen wir schweigend da, die Dunkelheit unserer Gedanken wie eine schwere Decke über uns. Dann nahm Nighton mir das Glas aus der Hand, dessen Inhalt ich noch nicht mal angetastet hatte, stand auf und hielt mir beide Hände hin.
Ich sah zu ihm auf, suchend und fragend, und er erwiderte meinen Blick mit einem sanften Schimmern in seinen Augen. »Ich könnte eine Dusche vertragen«, sagte er, seine Stimme war nun fast zärtlich. »Wäre schön, wenn du mitkommst.«
Mein Inneres war hin- und hergerissen. Anna war dort draußen irgendwo, gefangen in der Unterwelt, allein und verängstigt. Wie konnte ich hier sitzen, über sowas wie… das nachdenken, was Nighton mit mir machen wollte, so zwanglos, als wäre die Welt um uns nicht gerade dabei, auseinanderzubrechen?
Nighton schien meine Zweifel direkt zu spüren. »Hey«, murmelte er sanft und verstärkte den Druck seiner glühenden Hände um meine. »Wir müssen uns nicht… beeilen. Wir können auch einfach nur duschen. Ich meine, sieh mich an. Ich will nur bei dir sein. Mehr nicht.«
Ein kleiner, fast schmerzhafter Knoten bildete sich in meiner Brust, aber sein Verständnis gab mir Halt. »Ja, das wäre sehr schön«, flüsterte ich und nickte schließlich zögerlich, während sich der Knoten langsam zu lockern schien.
Er lächelte leicht, ein Hauch von Beruhigung in seinen Augen, als er mir half, mich auf die Beine zu ziehen. Die Idee einer einfachen, stillen Nähe ohne Ansprüche, ohne Erwartungen – genau das war es, was ich jetzt brauchte.
Unsere längst überfällige Zweisamkeit blieb uns leider nicht lang vergönnt. Das wilde Klopfen an der Badezimmertür durchbrach den kurz währenden Frieden, gefolgt von Evelyns aufgeregter Stimme: »Tharostyn und die anderen sind da!«
Nighton war schneller als ich und verschwand bereits wieder in frischen Klamotten, während ich mir nur schnell die Haare abrubbelte. Es war immer noch ungewohnt, sie so kurz zu haben. Sobald auch ich fertig war, folgte ich ihm nach unten, wo ich schon seine gedämpfte, gereizte Stimme hörte. Hatte ich was verpasst?
Gerade als ich ins Wohnzimmer treten wollte, hielt ich verblüfft inne. Was war denn hier los? Die ganze Stube schien von Engeln und Dämonen belagert, wie bei einer Volksversammlung. Davon hatte Nighton mir nichts gesagt! Ich ließ meinen Blick über die Anwesenden schweifen und erkannte Tharostyn, Nivia und Melvyn, alle fünf Erzengel, sowie Evelyn, Gil, Sam und eine Handvoll unbekannter Engel. Und dann entdeckte ich Penny – doch ich brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass sie das tatsächlich war.
In einer seltsamen Rüstung stand sie da, die glatt einer antiken Kriegerin hätte gehören können, aber aus bronzefarbenem Metall bestand, glänzend und auffällig. Sie trug einen Brustpanzer mit scharfen, eleganten Spitzen, dazu Schienen an Unterarmen und Beinen sowie einen breiten Gürtel, in den ein fünfeckiger, orangefarbener Stein eingelassen war. Über dem Ganzen schwebte ein zarter Hauch aus langen Stoffbahnen, die an ihrem kurzen Kettenrock hingen und mit ihren Bewegungen leicht mitschwangen. Schwarze Runen zogen sich über die gesamte Rüstung, als wäre sie mit irgendeiner Macht belegt. Selbst Sam und Evelyn konnten ihren Blick nicht von ihr lösen, und ich ertappte mich dabei, wie auch ich sie anstarrte. Bei genauerem Hinsehen entdeckte ich, dass selbst ihre Rückenplatte speziell angepasst war – breite, schräge Öffnungen für ihre Flügel, wie eine Rüstung für einen Krieg.
Neben ihr stand Elisae, fast wie ein Spiegelbild in identischer Aufmachung. Ihre Augen trafen meine, und sie senkte leicht den Kopf. Unbehaglich schluckte ich und winkte zögerlich zu Penny, die mir mit einem kurzen, fast verunsicherten Lächeln antwortete.
Doch Nightons aufgebrachte Stimme lenkte meine Aufmerksamkeit schnell um.
»Diese Idee ist völlig wahnsinnig! Was, wenn sich uns der Dämon entzieht und in London wütet? Glaubt ihr wirklich, das wird unsere von vornherein geringe Chance steigern, dass TI uns überhaupt zuhört und nicht direkt das Feuer auf uns eröffnet?« Seine Worte schienen regelrecht zu beben, als er Tharostyn gegenüberstand, der sich nur auf seinen Stock stützte und Nighton säuerlich entgegensah.
»Wenn du eine bessere Idee hast, Yindarin, dann raus damit!« Seine für Tharostyns Verhältnisse gereizte Stimme bohrte sich regelrecht in den Raum. Michael hob beide Hände, als wollte er die beiden beruhigen, doch Nighton ließ sich nicht bremsen.
»Das würde die Menschen nur bestärken, uns weiter zu jagen und einzusperren! Was, wenn dieser Ajax auftaucht? Ich habe euch doch bis ins Detail erzählt, was in Irland vorgefallen ist, er ist kein Mensch! Ihr spielt mit Feuer, und London ist das Opfer!«
Ich schob mich an ein paar der Anwesenden vorbei und kam direkt neben Uriel zum Stehen, die mir freundlich, aber mit ernster Miene zunickte. Doch in ihrem Blick lag noch etwas anderes, etwas Eigenartiges, fast wie ein stilles Wissen. Sie hatte mir schon häufiger diese geheimnisvollen Blicke zugeworfen, und es ließ mich jedes Mal aufs Neue grübeln. Auch Gabriels Augen hafteten auf mir, sodass ich verunsichert zu Boden sah. Wussten sie etwas, das ich nicht wusste?
Tharostyn zog die Stirn kraus und stützte sich schwer auf seinen Stock. »Genau deshalb sind wir alle hier, damit dieser Plan funktioniert. Niemand kommt gegen die geballte Macht der Erzengel und eines Yindarin an. Also analysiere nicht bis zum Umfallen – es wird gutgehen, Nighton, vertrau auf Aona. Die Menschen werden sich zeigen und uns mit etwas Glück beistehen, wart’s ab. Diskussion beendet, Yindarin.« Ohne ein weiteres Wort humpelte er zwischen den Anwesenden hindurch in Richtung Haustür, während Nighton stocksteif stehenblieb, die Fäuste geballt, als würden seine Worte ihn plötzlich im Stich lassen. Ich warf Jason einen Blick zu, der das Ganze mit besorgtem Ausdruck verfolgte.
»Vielleicht sollten wir den Dämon wenigstens erst einmal ansehen und dann entscheiden«, schlug er vor. Nightons Blick, in puren Ärger getränkt, streifte ihn.
»Es ist ein Grottenmahr. Was daran soll unsere Entscheidung beeinflussen? Das ist der komplette Wahnsinn, wie man es auch dreht!« Er stapfte kopfschüttelnd Tharostyn hinterher, der eben durch die Haustür verschwunden war. Ein kalter Luftzug zog ins Haus. Über Nacht hatte es wieder geschneit, und draußen lag eine zentimeterdicke Schneedecke. Ich wollte schon los, um die Tür hinter ihnen zu schließen, als ich auf dem Vorplatz von Harenstone ein riesiges Käfigkonstrukt entdeckte. Ich erstarrte im Türrahmen. Träumte ich? Nein, da stand tatsächlich ein Käfig, groß wie ein Container und von vier in Rüstung gepanzerten Engeln mit blau glimmenden Lanzen bewacht.
Mit offenem Mund trat ich auf die Veranda und starrte auf das gefangene Monstrum, das sich zischend und fauchend im Inneren des Käfigs wand. Der Grottenmahr war etwa so groß wie ein Kleinwagen, besaß eine glatte, sandfarbene Haut und keinen einzigen Augenansatz – nur dieses erschreckend große Maul, aus dem sich weitere, kleinere Mäuler herausklappen ließen, wie in einem verdrehten Abklatsch des Films Alien. Unwillkürlich zog ich meine Strickjacke enger, als wäre das eine Schutzmaßnahme. Das meinten die Engel ja wohl hoffentlich nicht ernst?
Nighton wies mit aggressiver Miene auf den Dämon. »Und wirklich – ihr seid bereit, dieses Ding auf die Menschen loszulassen, nur um eine Kontaktaufnahme mit TI zu erzwingen?«
Tharostyn nickte entschlossen.
»Ja, der Rat hat es beschlossen, und alle hier Anwesenden unterstützen diesen Plan. Notfalls könnten wir es auch ohne dich tun, Nighton, aber du solltest mit dabei sein. Schließlich repräsentierst du beide Spezies und bist zudem der Stärkste unter uns. Es wäre im Falle eines Scheiterns deutlich schlechter um uns bestellt, wenn du nicht mitkämst.« Er hielt Nightons prüfendem Blick stand und warf zugleich einen Wink in Richtung des Käfigs. Ich konnte nur den Kopf schütteln.
Nighton ignorierte seine Worte und drehte sich leicht um. »Und woher stammt dieser Dämon überhaupt? Wer hat das Ungetüm eingefangen?«
»Ich«, meldete sich Jason, sichtlich stolz. Er und einige der anderen waren uns auf die Veranda gefolgt. »Über meine Kontakte vom Schwarzmarkt war es ein Leichtes, an einen Grottenmahr zu kommen. Und unsere frischgebackene Seraph Penelope hat mir geholfen, ihn transportfertig zu machen.« Er nickte Penny zu, die sich ein stolzes Lächeln verkniff.
Nighton fuhr sich durch das noch feuchte Haar und schüttelte den Kopf, bevor er die Hände theatralisch hob. »Gut, von mir aus, offenbar bin ich überstimmt. Aber heult später bloß nicht rum, wenn der Grottenmahr halb London und ein paar von euch zum Frühstück verspeist hat. Komm, Jen.« Dem Dämon und allen Anwesenden einen letzten, düsteren Blick zuwerfend, stapfte er zurück ins Haus, wobei er mich mit sich zog, die Treppen hinauf und auf direktem Weg in unser Schlafzimmer. Ich hatte nicht mal die Chance, zu protestieren. Von unten schollen noch einige Gesprächsfetzen hinauf, die jedoch sofort verstummten, als die Tür ins Schloss fiel.
Natürlich wusste ich, was jetzt kommen würde, und verschränkte die Arme, während ich mich auf mein Bett setzte und Nighton dabei fixierte. »Also los, sag’s schon«, seufzte ich, als er wortlos zum Kleiderschrank ging. Er warf mir einen irritierten Blick zu. »Was meinst du?«
Ich räusperte mich, setzte eine todernste Miene auf und ahmte seine tiefe Stimme übertrieben nach. »Du bleibst hier in Sicherheit, Jennifer. Ich muss schließlich dafür sorgen, dass du wehrloses Menschenkind nicht in die Schusslinie gerätst oder als Dämonensnack endest.«
Nighton blinzelte verwirrt, legte dann den Kopf schief und ein Grinsen stahl sich auf sein Gesicht. »War das etwa eine Imitation? Hast du gerade versucht, mich nachzumachen?«
Ich verkniff mir ein bitteres Grinsen und erwiderte: »War gut, hm? Jetzt sag es schon, damit ich mich damit abfinden kann.«
Doch Nightons Grinsen wurde nur breiter, als er meine schwarze Winterjacke aus dem Schrank zog und mir ein Paar Handschuhe zuwarf. »Nein, du kommst mit, mein wehrloses Menschenkind.« Das leichte Zucken seiner Mundwinkel verriet mir zur zu gut, wie sehr er sich über meine verdatterte Reaktion amüsierte.
Ich setzte mich gerade hin, verengte die Augen und musterte ihn skeptisch. »Ach ehrlich? Wer bist du, und was hast du mit dem echten Nighton gemacht?«
Nighton schloss den Schrank und trat näher, ein unerwartetes Lächeln auf den Lippen. »Ich habe dir nach der Sache in Unterstadt versprochen, dass wir dich mitnehmen. Und ich halte mein Wort. Außerdem sind genug Leute dabei, da wirst du sicher nicht in Gefahr sein.« Er zog einen Dolch hervor und hielt ihn mir mit dem Griff voran entgegen. »Aber«, fügte er hinzu und kam noch näher, »mir wäre wohler, wenn du den hier bei dir trägst. Der gleiche, den du damals der Schlange so gekonnt ins Auge gejagt hast. Nicht verlieren, okay? Und schneid dich bloß nicht.«
»Ich bin ja nicht blöd«, brummte ich, nicht wissend, wo ich hinsehen sollte, und nahm den Dolch entgegen – auch wenn ich insgeheim glücklich und aufgeregt darüber war, dass er mich mitnahm. Damit hatte ich nicht gerechnet.
Nightons Grinsen schwand nicht, und bevor ich reagieren konnte, beugte er sich zu mir und küsste mich sehr lange. Ein energisches Klopfen an der Tür jedoch unterbrach uns und ließ ihn genervt aufseufzen.
»Keine Sekunde Ruhe heute«, beschwerte er sich und musterte mich dann von Kopf bis Fuß. »Es ist saukalt draußen, Jen. Zieh dir lieber was Warmes an. Komm runter, wenn du fertig bist.«
»Warum bleibst du nicht und schaust zu?«, schlug ich mit einem vielsagenden Lächeln vor, bevor ich mich bremsen konnte. Nighton war bereits auf dem Weg zur Tür, hielt dann jedoch kurz inne, als das Klopfen von draußen immer heftiger wurde. »Verdammt nochmal, wir kommen gleich!«, rief er gereizt.
»Ja, sorry euch zwei Liebeshungrige bei der Fummelei zu stören, aber die anderen wollen los. Also raus mit euch aus dem Bett, und zwar schnell!«, kam es von außerhalb der Tür. Nighton riss grollend die Tür auf und Evelyn schlug sich wie aus Reflex die Hände vor die Augen, grinste aber frech dabei.
»Ich bin nicht nackt, Evelyn, also lass den Kinderkram, wir haben uns nur unterhalten!«, fuhr Nighton sie an, während Evelyn durch die Finger lugte und schließlich die Hände sinken ließ. »Jaja, das hätte ich jetzt auch gesagt.« Damit schickte sie mir einen auffordernden Blick und rauschte durch den Flur und die Treppe runter. Grummelnd folgte Nighton ihr.
Ich seufzte abermals, schlüpfte in eine Jeans, zog die Winterjacke an und ging ebenfalls nach unten. Im Flur schlüpfte ich noch schnell in meine Springerstiefel und verstaute den Dolch sicher im Ärmel.
Die anderen warteten draußen auf mich – der Wurm war verschwunden, und einige der Engel waren bereits vorgegangen. Nur Evelyn, Sam und Nighton standen noch vor dem Haus.
Nighton streckte mir seinen Arm hin, in den ich mich einhakte. Es war schon dunkel und zudem extrem kalt. Während wir zur Teleportplatte liefen, herrschte größtenteils Schweigen, nur Sam und Evelyn unterhielten sich leise über Penny, wie ich hörte. Bei der Platte holte ich tief Luft, nervös, aber voller Hoffnung, dass der Plan der Engel funktionieren würde – und dass die Menschen bereit wären, zuzuhören.