Kaum eine Sekunde später sah ich mich mit der glänzenden Spitze eines Pfeils konfrontiert, die nur Zentimeter vor meinem Gesicht schwebte. Ich bekam nicht einmal Zeit, Angst zu empfinden. Hinter dem Pfeil tauchte eine eigentümlich aussehende Frau mit olivfarbener Haut, blauschwarzen Dreadlocks und ziemlich wenig Kleidung auf. Sie spannte einen ellenlangen Bogen und wirkte nicht so, als würde sie zögern zu schießen.
»Was hast du dem Gesalbten angetan?«, wollte sie mit bedrohlichem Unterton wissen. Sie hatte mit einem starken Akzent gesprochen, den ich nicht einordnen konnte.
»Was? Wem? Ihm? Gar nichts!«, stammelte ich und krallte mich in die Rinde des Baumes hinter mir. Ich konnte der Schützin ansehen, dass sie mir nicht glaubte.
»Du hast ihn mit deinen dreckigen Händen angefasst, Mensch, du hast ihn verhext! Ein Yindarin geht nicht einfach so zu Boden!«, zischte sie.
Ha. Als müsste sie mir etwas über das Yindarin-Dasein erklären! Ich schnappte nach Luft und entgegnete wütend, das Kinn herausfordernd anhebend: »Verhext? Ich habe rein gar nichts mit ihm gemacht, du bist ja geiseskrank!«
Dafür bohrte sich die Pfeilspitze härter gegen meine Kehle. Wäre es möglich gewesen, ich hätte mich durch den Baum gedrückt, um ihr zu entkommen. Vielleicht sollte ich besser mein großes Maul halten?
Ihr feindseliger Blick wanderte kurz an mir rauf und runter, ehe er zur Seite glitt, wo eine weitere Frau erschien. Die beiden glichen sich bis auf ein Haar, was wohl bedeuten musste, dass es Zwillinge waren. Die andere Frau sank, ihren eigenen Bogen umschnallend, neben Nighton auf die Knie, der schon dabei war, zu sich zu kommen.
»Langsam, Yindarin«, beschwor sie ihn und machte beruhigende Gestiken, als der sich aufsetzen wollte. Doch Nighton schlug ihre helfend ausgestreckten Hände beiseite und stemmte sich ächzend in eine sitzende Position. Da fiel sein Blick erst auf mich und dann auf die Frau, die nach wie vor auf mich zielte und mich so in Schach hielt. Nicht, dass ich eine ernstzunehmende Gefahr gewesen wäre.
Schreck und Zorn verteilten sich wie Säure in Nightons nunmehr vollständig grünen Augen. Sofort rappelte er sich auf und fuhr er aus der Haut.
»Ashila! Weißt du eigentlich, wer sie ist? Sie ist heren aen yindarinsin, bist du vollkommen verrückt geworden? Nimm den Bogen runter!«
Ich wusste nicht, was diese Worte bedeuteten, aber sie hatten bestimmt mit mir und meiner Vergangenheit als Yindarin zu tun.
Nervös fixierte ich die grimmig dreinblickende Ashila, die mit vorgerecktem Unterkiefer und bebenden Nasenflügeln immer noch auf mich zielte. Ihr Blick durchbohrte mich so, wie sie es wohl gerne mit ihrem Pfeil getan hätte. Das Holz ihrer Waffe nur noch fester umklammernd hakte sie beinahe ungläubig nach: »Sie? Sie ist heren aen yindarinsin?«
Mit drei nicht besonders gangsicheren Schritten war Nighton bei ihr.
»Ja, verdammt! Denkst du, ich scherze?!«
Diese Ashila senkte tatsächlich den Bogen und schaute zu Nighton. Ich indes atmete aus. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich die Luft angehalten hatte. Aber jetzt mal im Ernst, was zur Hölle ging denn mit diesen beiden Furien ab? Machten die das öfter? Unschuldige Leute gegen Bäume schubsen und mit Pfeil und Bogen bedrohen?
»Bist du verletzt, Yindarin?«, wollte Ashila ohne Umschweife wissen, ohne mich aus den Augen zu lassen, und schnallte sich ihren Bogen ebenfalls um. Auch die andere erhob sich nun, mir einen seltsamen Blick zuwerfend, den ich zu ignorieren versuchte. Nighton gab ein neuartig klingendes, gruseliges Knurren von sich, bei dem sich sogar mir die Nackenhaare sträubten.
Er erwiderte: »Nein, bin ich nicht, und sie zu eurem Glück auch nicht. Was tut ihr überhaupt hier? Ich sagte doch, dass ich auf mich selbst aufpassen kann.«
»Wir suchen nur die Ngeblaka«, erklärte Ashila, was selbst in meinen Ohren nach einer Ausrede klang. Aus meinen Internatszeiten wusste ich, dass Ngeblaka ein selten benutztes Wort für Ghul war. Hm. Scheinbar hatte ich dort doch einiges gelernt.
Wieder knurrte Nighton und machte eine abwehrende Handbewegung.
»Die sind nachtaktiv. Erzählt mir keinen Blödsinn, ich weiß, dass die Oberste euch auf mich angesetzt hat. Sagt Isara, dass ich euch nicht brauche und erst recht nicht in meiner Nähe haben will!«
Die zwei Frauen tauschten einen Blick aus.
»Wir werden es an die Oberste weitertragen. Doch eine Sache wurde versprochen. Eine Sache muss eingehalten werden«, behauptete die, deren Namen ich nicht wusste, ehe sie auf mich zukam, ihre Finger nach mir ausgestreckt. Beinahe wäre ich zurückgezuckt, doch sie griff nur nach meiner Hand und schloss die ihre um meine Faust. Verwirrt schaute ich ihr entgegen. Die Frau versuchte ein Lächeln und begann zu sprechen.
»Verzeih, Mädchen aus den Legenden. Uns war nicht bewusst, wer du bist.«
Mir entwich ein Auflachen. Doch dann begriff ich, dass ihre Bezeichnung kein Witz war. Also verrutschte mir das Lachen und ich bemühte mich um eine ernste Miene.
»Mädchen aus den Legenden?«, wiederholte ich zweifelnd. »Klar, ich. Ich habe überhaupt nichts Tolles getan, es ist also völlig übertrieben, mich so zu nennen.«
Überrascht zog die Frau die Augenbrauen hoch und sah Nighton an, der die ganze Szenerie mit gefurchter Stirn beobachtet hatte. Auf mich zeigend fragte sie: »Sie weiß es nicht?«
»Was weiß ich nicht?«, wollte ich sofort wissen und spürte, wie sich Misstrauen in mir breitmachte, erst recht, als Nighton nicht sofort antwortete. Ein ungutes Gefühl entstand in meiner Magengegend. Hatte er mir etwa was verschwiegen? Erst, als Nighton meine verengten Augen und mein misstrauischer Gesichtsausdruck auffielen, öffnete er den Mund und erklärte ruhig: »Ich hätte es dir schon noch gesagt, nur bisher gab es keine Gelegenheit. Unter den Engeln gilst du seit deinem Kampf gegen die Dämonengöttin quasi als Heldin, weil du sie vertrieben und trotzdem überlebt hast. Die anderen Yindarin vor die konnten das nicht von sich behaupten.«
Ich runzelte die Stirn. Das war alles? Das sollte so toll sein? Die Maßstäbe der Engel für Heldentaten lagen offenbar ziemlich niedrig. Unbeeindruckt hob ich die Schultern an und brummte: »Tja. Ja. Aber so beeindruckend war das auch nicht.«
»Wie auch immer, wir sollten jetzt gehen. Es ist fast neun.« Nighton winkte mich zu sich. Unter den wachsamen Blicken der Frauen ging ich auf ihn zu. Nighton wartete, bis ich vor ihm herlief, dann rief er drohend über die Schulter: »Wehe, ihr folgt mir! Ich bin vielleicht nicht ganz auf der Höhe, aber sowas kriege ich durchaus noch mit!«
Auch ich warf den beiden noch einen letzten Blick zu, ehe sie von Nightons Statur verdeckt wurden. Das Gefühl nicht loswerdend, dass sie zwei uns trotzdem folgen würden, ging ich voran zum Teleportstern. Ein Blick auf die Uhr meines Handys offenbarte mir, dass es wirklich schon kurz vor neun war. Meine Güte, hatte das alles wirklich so viel Zeit gekostet?
Nighton brachte uns ohne Umwege nach London. Dort nieselte es, doch unter den Bäumen, die dem Teleportstern ein Dach boten, waren wir von den meisten Tropfen geschützt. Er schaute sich wachsam um, ehe er sich in Bewegung setzte. Gemeinsam liefen wir das kurze Stück durch den Park, überquerten auf Höhe meines Zuhauses die Hauptstraße und stiegen die Treppe hoch zur Haustür.
»Wer waren die beiden Tussis eigentlich?«, fragte ich dort schließlich und schloss auf.
Nighton gab ein unwirsches Geräusch von sich.
»Tussis? Lass sie das besser nicht hören. Das sind Leibwächterinnen, die die neue Oberste auf mich angesetzt hat. Dieses Kind ist der Meinung, ich könnte nicht selbst auf mich achtgeben und bräuchte Tag und Nacht Aufpasser.«
»Pah«, machte ich mitleidlos und betrat den Hausflur. Drinnen war es zum Glück trocken. »Kommt mir bekannt vor.«
»Haha«, entgegnete Nighton augenverdrehend. »Das kann man nicht vergleichen. Immerhin bin ich viel älter und erfahrener als du und ich brauche niemanden, der mich beschützt, auch wenn zwischen Sekeera und mir noch immer nicht alles rund läuft. Du hingegen scheinbar immer noch, wenn du der Ansicht bist, dich in einer Woche einer Horde menschenfressender Ghule und einem Chvelargoth entgegenzustellen und dann auch noch zwei Elitejägerinnen beleidigen zu müssen.«
Ich grummelte nur. Wir stiegen die Treppe hoch zu meiner Wohnung. Oben angekommen hielt Nighton mich zurück. Ich wusste schon, worüber er reden wollte. Und ich sollte mit meiner Vermutung Recht behalten.
»Hör mal«, fing er nachdenklich an und schob die Hände in die Hosentaschen. »Ich weiß nicht, was da eben im Wald passiert ist. Meine Erinnerung ist ... verschwommen, aber ich schätze, das hat mit Sekeera zu tun. Ich weiß nicht, ob ich es mir einbilde, aber sie ist etwas greifbarer als die Wochen zuvor. Habe ich das dir zu verdanken?« Fragen schaute er mich an, den Kopf schiefgelegt.
Ich schlug den Blick nieder und schluckte. Also hatte er das gesamte Gespräch zwischen mir und Sekeera gar nicht mitbekommen? Das erklärte zumindest, wieso er mich erst jetzt drauf ansprach und nicht schon auf dem Weg, oder nachdem wir die Jägerinnen getroffen hatten.
Kurz spielte ich mit dem Gedanken, einfach zu lügen, aber dann entschied ich mich dagegen. Ich konnte mich schließlich nicht darüber aufregen, angelogen zu werden und es dann selbst tun. Das hätte was von einer Doppelmoral. Aber erfahren musste er ja trotzdem nicht alles. Hoffentlich hatte er dann auch seinen Annäherungsversuch vergessen, der mir, jetzt, da er mir einfiel, die Hitze auf die Wangen trieb. Das entging Nighton natürlich nicht, aber offensichtlich wusste er es wirklich nicht mehr, denn er wirkte ehrlich verwundert über mein Erröten.
Um keine Frage dazu gestellt zu bekommen, beeilte ich mich zu antworten: »Möglich.«
Nighton fixierte mein Gesicht. Ich konnte ihm ansehen, dass er gern weiter nachgebohrt hatte, doch da fiel sein Blick auf meine Handgelenke. Seine Augen weiteten sich erschrocken und er griff ohne Vorwarnung nach meinen Armen. Diesmal ließ ich ihn gewähren und zog meine Hände nicht zurück.
»Warum hast du so rote Handgelenke?«, wollte er wissen. In seinem Kopf schien es zu rattern, dann ging ihm ein Licht auf. Schrecken überzog sein Gesicht, als ihm klarwurde, wo die Flecken herrührten.
»Das war ich, oder?« Er schluckte betroffen, als ich nickte. »Es tut mir so, so leid, Jennifer. Ich wollte das wirklich nicht.«
Ich räusperte mich und entzog ihm meine Handgelenke.
»Schon gut, das ist passiert, weil Sekeera und du gerungen habt. Dafür mache ich dir keinen Vowurf.«
Nighton zögerte, ehe er zugab: »Aber ich mache mir einen. Ich hätte besser aufpassen müssen. Das hat Sekeera schon so oft gemacht, also mich außer Gefecht setzen. Aber noch nie so. Ich kann es mir nicht erklären, doch dass du dadurch verletzt wurdest-«
»Jetzt mach kein Drama draus«, unterbrach ich ihn mit ungewollter Schärfe. Daraufhin schluckte Nighton nur und nickte langsam.
»Okay«, willigte er ein und holte Luft. »Dann werde ich wohl mal zur Themse gehen und schauen, was da los ist. Geh du nur, sonst kriegst du noch so was Profanes wie Hausarrest.«
Ich grummelte: »Soll er mal versuchen, mir Hausarrest zu geben. Regeln haben mich noch nie gejuckt.«
Damit entlockte ich Nighton ein Auflachen. Doch er sagte nichts, sondern wandte sich ab und lief die Treppen runter. Ich verharrte noch, bis ich ihn nicht mehr sehen konnte, dann schloss ich auf und knallte die Wohnungstür etwas zu stark zu. Aufstöhnend drehte ich mich zu ihr um und dotzte meinen Kopf ein paar Mal gegen das Holz. Am liebsten hätte ich ihn fester dagegen gerammt, aber das hätte Fragen aufgeworfen. Im Augenwinkel sah ich nämlich meinen Vater, der mit seiner gezückten Armbanduhr aus dem Esszimmer herankam und meinen kleinen Ausfall mitbekam. Etwas verstört steckte er seine Uhr weg und fragte: »Was ist denn mit dir los«
Augenrollend entgegnete ich: »Es war ein anstrengender Nachmittag, ich bin einfach nur müde. Darf man das neuerdings nicht mehr sein oder gibt es dafür auch Regeln?«
Mein Dad überging meinen bissigen Unterton.
»Gehst du ins Bett?«
Ich kickte die Schuhe von meinen Füßen und nickte.
»Ja, gleich. Also dieses Haus musst du dir anschauen kommen, Dad, es ist echt schön.«
Mein Vater verzog nur leicht das Gesicht. »Ich denke eher nicht.«
»Wieso?«
Er seufzte und erklärte: »Es ist ein komisches Gefühl, dass du noch andere Eltern hast. Tut mir leid, hattest. Und dass die dir wohl mehr geben konnten als ich.« Plötzlich ließ er die Schultern hängen, und wie er so im Türrahmen dastand und traurig dreinschaute, tat er mir einfach nur leid.
Ich ging auf ihn zu und umarmte ihn ganz fest, ehe ich ihm ins Ohr flüsterte: »Dich wird nie jemand ersetzen. Und nur, weil ich jetzt stolze Besitzerin eines Hauses voller Dämonen und Engel bin, bist du doch kein schlechter Vater. Im Gegenteil! Du kümmerst dich ganz prima. Zum Beispiel deine neun Uhr Regel. Die ist … großartig!«
Damit brachte ich Dad zum Lachen.
»Ich muss schon sagen, ich hätte ja nicht damit gerechnet, dass ihr pünktlich seid. Eigentlich schade. Ich hätte diesen Riesen gern zusammengefaltet. Die Chance dazu hatte ich bei dir bislang nicht, du hattest ja noch nie einen Freund.«
Ich löste mich los von meinem Vater, der sich die Brille etwas höher schob. »Er ist nicht mein Freund«, stellte ich klar und musste unwillkürlich wieder an Nightons unerwartete Annäherung denken.
Dad gab ein zufriedenes Geräusch von sich und kommentierte: »Das ist auch besser so. Er ist ohnehin viel zu alt für dich. Und jetzt Marsch ins Bett, du hast morgen Schule.«
»Es ist kurz nach neun!«
Er kicherte. »Lass mich doch meine Witzchen reißen. Gute Nacht, mein Schatz. Anna?! Ins Bett! Ich habe genau gesehen, dass du da im Flur stehst!«
Damit stob er an mir vorbei, um Anna wieder ins Bett zu schicken.
Lächelnd sah ich ihm hinterher. Ich liebte meine Familie. Zum Glück hatte ich sie noch. Wenigstens sie waren mir geblieben.