Im Laufschritt hetzte ich auf den Turm zu. Mein Herz wummerte vor sich hin, und mir war vor Angst um Anna so schlecht, dass ich das Gefühl hatte, mich gleich übergeben zu müssen. In meinem Magen lag ein gärender Stein aus Zorn, der allein Selene galt. Wieder hatte ich mich ausnutzen, bestehlen und belügen lassen. Und nun… nun war alles noch viel, viel schlimmer geworden.
Aber das war jetzt nicht wichtig. Anna schwebte in Gefahr, und ich… ich musste hoffen, dass Nighton bei ihr war. Aus meiner Angst wurde Panik. Sie sprang gegen meine Rippen wie ein Tier, das ausbrechen wollte. Aber ich biss die Zähne zusammen, rang sie nieder. Ich durfte meine Angst um Anna nicht die Oberhand gewinnen lassen, nein, ich musste zurück zu den Erzengeln. Selene durfte mir Anna nicht nehmen!
Während ich dem Turm näher kam, brannten mir die Tränen in den Augen. Alles war umsonst gewesen – die Vorbereitung, die Hoffnungen, das Bangen. Ich hatte so kurz davorgestanden, wieder ein Yindarin zu sein, und diese Chance war mir durch die Finger geronnen wie Sand. Was würden Nighton, die Erzengel, meine Freunde dazu sagen? »Nein, nicht jetzt!«, fauchte ich leise und versuchte, den Schmerz ebenso wegzusperren wie die Panik. Für all das war kein Raum. Es durfte keinen geben.
Ohne zu zögern, sprang ich in das Portal und ließ mich von seinen wirbelnden Kräften verschlingen, bis ich auf der anderen Seite rauskam. Ich stolperte kurz, der raue Wind traf mich wie ein Peitschenhieb, doch ich zwang mich, auf Jason zuzurennen. Er stand immer noch da, wie ich ihn verlassen hatte, starr vor dem Stein.
Aber wie sollte ich zu ihm durchdringen?
In meiner Verzweiflung griff ich einfach nach seinem Arm und riss grob daran. Ein Glück – es genügte. Jason fuhr zusammen, seine Augen verengten sich vor Anstrengung, als er den Dolch aus dem Stein zog. Der Boden bebte unter uns, und der Turm begann zu sinken, langsam und unaufhaltsam. Jason packte mich und zog mich mit sich die Treppen runter. Dunkle Wolken begannen sich am Himmel zu ballen, Blitze zuckten und krachten durch sie hindurch.
Plötzlich hielt Jason inne, fuhr zu mir herum, ergriff mich fest an beiden Unterarmen und schüttelte mich mit entgeisterter Miene. »Was ist passiert?! Warum bist du noch ein Mensch?«
Seine Worte durchbrachen die Fassade, und die Angst, die ich so verzweifelt zurückgehalten hatte, brach endgültig aus mir heraus. »Selene!«, war jedoch alles, was mir über die Lippen kam. Jason runzelte die Stirn, verstand nicht. »Was ist mit ihr?«
Meine Kehle schnürte sich noch weiter zu, und es fühlte sich an wie ein Kampf, Worte hervorzubringen. »Sie hat – sie ist jetzt ein Yindarin, ich konnte nichts tun!«
Schock und Entsetzen zeichnete sich auf dem Gesicht des Erzengels ab. Er ließ mich abrupt los, als hätte er sich verbrannt. Dann begann er, unablässig zu fluchen, während er rastlos hin und her lief, immer wieder in den Himmel blickend, als würde er sich eine Antwort von da oben erhoffen. Doch dann wandte er sich mit einem schnellen Ruck wieder zu mir und hob seine Stimme, um den Wind zu übertönen: »Das ist nicht deine Schuld, hörst du?« Seine Worte waren fest, eindringlich – aber ich schüttelte nur verzweifelt den Kopf. Natürlich war es meine Schuld. Wenn ich nicht gewesen wäre, hätte Selene niemals die Gelegenheit bekommen, ein Yindarin zu werden.
Jason trat einen Schritt näher. Der Blick seiner goldenen Augen haftete auf mir. »Hör zu«, begann er erneut, mit etwas weicherer, aber nicht weniger drängender Stimme. »Ich werde die Meilensteine abfliegen und meine Geschwister aufwecken. Einer von uns wird dich unterwegs einsammeln. Es geht schneller, als wenn wir gemeinsam laufen. Wir müssen sofort zum Schloss, die Oberste muss davon erfahren. Wenn Selene ein Yindarin ist, bedeutet das das Ende!«
Ich wollte protestieren, wollte ihm sagen, dass Selene hinter Anna her war, aber bevor ich auch nur den Mund öffnen konnte, stieß Jason sich bereits vom Boden ab. Mit einem ohrenbetäubenden Krachen durchbrach er die Schallmauer, während er den Himmel in einem schnellen Bogen durchquerte und in die Tiefe schoss.
Mir blieb kaum Zeit, durchzuatmen, als die Angst erneut zuschlug. Mein Kopf dröhnte, mein Herz raste, und das Bild meiner Schwester, die in Selenes Klauen geriet, brachte mich fast um den Verstand.
Ohne also Zeit zu verlieren, sprintete ich die Stufen hinunter. Meine Beine trugen mich schneller als je zuvor. Alles, woran ich denken konnte, war Anna. Hoffentlich war Selene noch nicht ins Schloss eingedrungen!
Ich hatte gerade Gabriels Stein hinter mich gebracht, da legte sich plötzlich ein rauschender Schatten über mich. Bevor ich reagieren konnte, hob ich ab – der Boden verschwand unter meinen Füßen. Der Schrei blieb mir im Hals stecken, doch als ich aufblickte, sah ich, dass es nur Michael war, der mich trug. Sein Gesicht war grimmig, seine Lippen fest zusammengepresst, während er mit mir durch die Lüfte schoss.
In einem Tempo, das mir den Atem raubte, legten wir die Strecke der letzten anderthalb Tage in weniger als drei Minuten zurück. Vor dem Steinbogen am Fuße des Berges warteten bereits die anderen Erzengel. Sobald wir landeten, prasselten Fragen auf mich ein, wie eine Flut, die mich zu ersticken drohte. Ich stand da, eingekesselt von den aufragenden Erzengeln und wusste gar nicht, wem ich zuerst antworten sollte.
Doch da donnerte Michaels Stimme über die Lichtung. »Ruhe! Hört auf, sie zu bedrängen, das Wie ist nebensächlich! Wir müssen zurück ins Herz, also kommt her, ihr alle!«
Dankbar klammerte ich mich an seinen Plattenhandschuh, während die anderem seinem Befehl folgten. Ein flackernder Moment, das bekannte Rotieren – und der Wald, der uns umgeben hatte, wich der erhabenen Kühle des Thronsaals. Ich sog scharf die Luft ein, versuchte, das aufsteigende Übelkeitsgefühl zu ignorieren.
Der Thronsaal war leer. Keine Himmelswachen, keine Isara. Nichts. Nur ohrenbetäubende Stille. Mein Herz versackte. Was, wenn…
»Teilt euch auf. Jennifer, du bleibst bei mir. Die dunkle Göttin wird bestimmt bei der Obers-«
»Nein!«, schnitt ich ihm das Wort ab und riss meinen Arm aus seinem Griff, bevor ich mich zurückhalten konnte. Michael stutzte und zog eine Augenbraue hoch, und auch die anderen blieben abrupt stehen. Alle Blicke waren wieder auf mich gerichtet.
»Selene will nichts von Isara«, stieß ich hervor. »Sie will Anna! Das hat sie mir selbst gesagt.«
Uriel erbleichte. Ihr Gesicht war wie aus Marmor gehauen, als sie die Worte aufnahm.
»Was?! Sie ist hinter der Seherin her? Warum sagst du das erst jetzt?!«
Verzweifelt schnappte ich nach Luft. »Wann hätte ich es denn sagen sollen? Ihr habt mich doch nicht mal ausreden lassen!«
Michael spannte den Kiefer an, wechselte einen kurzen, wortlosen Blick mit seinen Geschwistern, bevor er entschlossen nickte. »Gut. Trotzdem machen wir es wie geplant. Ich gehe zum Rosenturm. Komm, Jennifer Ascot. Vielleicht ist es noch nicht zu spät.«
Ohne ein weiteres Wort setzte er sich in Bewegung. Ich musste rennen, um mit ihm Schritt zu halten. Während wir durch die menschenleeren Gänge liefen, fragte ich mich immer wieder: Wo waren die alle?
»Kannst du Nighton spüren? Oder Anna?«, fragte ich ängstlich, während wir eine Treppe hochstiegen. Michael gab nur ein Brummen von sich, das ich nicht deuten konnte, aber da hatten wir schon die Brücke betreten, die zu Azmellôns Turm führte.
»Anna?! Nighton?« Ich brüllte aus voller Kehle, doch ich erhielt nur ein unerträgliches Schweigen. Ungeachtet der schwindelnden Höhe wurde ich schneller, sodass ich den Erzengel überholte. Es zählte nur eins: Anna. Vorn sah ich schon ein paar Engel im geöffneten Portal zum Turm stehen. Bei ihnen entdeckte ich auch Isaras Kehrseite. Eine kalte, unaufhaltsame Welle neuer Angst breitete sich in mir aus. Was war da vorn los? Hatte Selene etwa… Was, wenn sie auch Nighton etwas angetan hatte? Mein Magen zog sich zusammen, und die Übelkeit in mir stieg.
Als Michael und ich herangestürmt kamen, drängten sich die Engel hastig zur Seite, sodass wir eintreten konnten. Zu meiner unendlichen Erleichterung erkannte ich gleich hinter dem Portal Nightons Rücken. Erleichterung flammte kurz in mir auf. Es ging ihm gut. Aber dann… bemerkte ich es. Schlitternd kam ich im Rahmen des Portals zum Stehen und ergriff die Tür. Da war Blut. Worte, die jemand mit blutigen Fingern an das Holz geschmiert hatte: Zu spät.
Ein eiskalter Schauer rann mir den Rücken hinab, und mein Herz setzte aus. Halb verdeckt neben dem Eingang lag ein Engel der Himmelswache. Sein Brustkorb war zerfetzt, sein lebloser Blick starrte ins Nichts.
Einen Moment lang stand ich einfach nur da, sah auf die Szenerie, unfähig zu atmen. Ich wusste schon, was mich erwarten würde. Alles in mir schrie, aber mir kam kein Laut über die Lippen. Dann setzte mein Körper sich wie von selbst in Bewegung. Ich trat an Nighton vorbei, der sich offenbar nicht auf seine Umgebung konzentriert hatte. Seine Augen weiteten sich vor Schock, als ich einfach so an ihm vorbeilief und nach Anna rief.
»Jen?! Wieso bist du noch ein Mensch? Was ist passiert?« Er packte mich am Arm, doch ich machte mich los, schob seine Hände beiseite, packte ihn mit beiden Händen am Shirt und schrie ihn an: »Wo ist Anna?!«
Er sah mich an. In seinen Augen entstand ein Ausdruck voller Schmerz und Unverständnis. »Jennifer…«
»Nighton - wo ist sie?« Meine Stimme zitterte, doch ich wurde nur lauter, als ob Lautstärke die Angst in mir übertönen könnte.
»Es gab einen Zwischenfall«, meldete sich Isara mit ruhiger Stimme zu Wort und trat auf uns zu. Ihre Worte prallten wie ein dumpfer Schlag gegen mich, während ich aus dem Augenwinkel mitbekam, wie Michael im Hintergrund den Turm inspizierte. Aber da war nichts – kein Zeichen eines Kampfs, kein Blut, nichts.
Es war, als würde ich tief, tief fallen, unfähig, Halt zu finden. Mein Kopf explodierte vor Gedanken, und jeder einzelne stach mir ins Herz. Selene hatte Anna entführt? In einem Schloss, das von lauter Engeln und einem Yindarin nur so wimmelte? Die Vorstellung war so surreal, dass ich es nicht fassen konnte. Bilder einer leblosen Anna schossen vor mein inneres Auge. Dazu Selene, grinsend, höhnisch, während die Welt um uns herum zerfiel.
Die Tränen liefen jetzt unaufhaltsam über meine Wangen. Wie sollte ich das jemals Thomas beibringen? Wie?
Nighton legte mir vorsichtig die Hände auf die Schultern. Seine Berührung war sanft, doch sie fühlte sich wie ein Schlag an. »Es tut mir…«
»Aber das nützt nichts!« Mein Zorn explodierte, und ich stieß ihn grob gegen die Brust. Seine Augen spiegelten den Schmerz, den ich selbst so tief in mir spürte.
»Wo warst du? Du – du hast gesagt, du siehst nach ihr, und jetzt… jetzt ist sie…« Meine Stimme bebte, überschlug sich, während ich die Wut und den Schmerz aus mir herausschrie. Nighton ließ die Schultern sacken.
»Ich war bei Anna. Fast den ganzen gestrigen Tag. Ich konnte doch nicht ahnen, dass so etwas passiert. Selene war viel zu schnell«, versuchte er verzweifelt, sich zu rechtfertigen, doch ich wollte davon nichts hören. Seine Worte prallten an der Mauer meiner Wut ab, ohne auch nur den geringsten Effekt.
Erstickt rief ich: »Irgendjemand hier ist ein Verräter, irgendjemand in diesem Schloss steht auf Selenes Seite! Sag mir die Wahrheit, hast du was damit zu tun?!«
Nighton starrte mich an. Nach ein paar Sekunden murmelte er mit einer Mischung aus Unglauben und Entsetzen: »Das meinst du nicht ernst.«
Ganz ehrlich? Ich wusste nicht mehr, was ich noch denken sollte. Tief in meinem Inneren wollte ich daran glauben, dass es nicht seine Schuld war. Dass er sich geändert hatte. Dass er zu den Guten gehörte. Doch in diesem Augenblick fiel mir das auf einmal furchtbar schwer.
Ohne auf seine Worte zu reagieren, drehte ich mich um und rannte aus dem Turm, über die Brücke und zurück ins Schloss. Meine Schritte hallten laut in den leeren Gängen wider, aber ich hörte nichts mehr. Ich wollte nur noch weg. Weg von Nighton, weg von Isara, weg von allem.
Mit den Nerven vollkommen am Ende hing ich auf einem Stuhl im Esszimmer von Harenstone und stützte beide Ellbogen auf die Tischplatte. Die letzte Nacht hatte ich kein Auge zugetan, dabei war ich so müde gewesen. Doch der Schlaf hatte einfach nicht kommen wollen.
Wie in Trance starrte ich auf die altmodischen Motive auf meiner Teetasse, in die ich einen Schuss Rum gegeben hatte. Ab und zu entwich mir ein Seufzer, schwer und leer.
Jason hatte mich gestern nach Hause gebracht, war dann aber zu den anderen nach Oberstadt verschwunden. Nighton war seitdem nicht aufgetaucht, als hätte er nie existiert. Nur Sam, Gil, Nivia und Evelyn waren bei mir im Haus, als Aufpasser, aber sie hielten sich fern, respektierten mein Bedürfnis nach Einsamkeit. Evelyn hatte gestern zwar noch versucht, mir Mut zu machen, war daran aber kläglich gescheitert. Ihre Worte hatten mich nicht interessiert. Mich interessierte gar nichts mehr.
Alles war meine Schuld.
Jeder Gedanke kreiste um diesen einen Satz, der mich innerlich auffraß. Es war nicht Nightons Schuld, es war meine. Allein meine. Meine Schuld, dass Selene ein Yindarin geworden war. Meine Schuld, dass Anna entführt wurde. Meine Schuld, dass wir uns in dieser aussichtslosen Situation befanden. Die Last dieser ganzen Schuldgefühle fühlte sich erdrückend an, als würde sie mich langsam, aber sicher unter sich begraben.
Ich fühlte mich so elend. Lächerlich. Wie eine Versagerin. Ich hatte allen Ernstes erwartet, wieder ein Yindarin zu werden. Daran, dass Selene oder Asmodeus oder sonst wer eingreifen könnte, hatte ich nicht einen Gedanken verschwendet. Wie konnte ich überhaupt glauben, dass ich für irgendetwas bereit war, wenn mir diese Weitsicht fehlte? Wenn ich nicht einmal meine eigene Familie beschützen konnte? Wie sollte ich dann verhindern, dass die Welt ins Chaos stürzte?
Ein trockenes Schluchzen brach aus meiner Kehle hervor, und ich wischte mir mit einer fast rohen Bewegung über die Nase. Ich hätte Nighton so gern hier bei mir. Seine beruhigende Nähe hätte mir geholfen. Doch ich hatte ihn vor allen anderen verdächtigt. An seiner Stelle würde ich mich auch nicht bei mir blicken lassen. Ich rührte in meiner Tasse, doch eigentlich gab es nichts zu rühren, außer der unendlichen Leere, die sich in mir ausgebreitet hatte.
Vielleicht… vielleicht war das hier einfach nicht mehr meine Welt. Der Gedanke bohrte sich tief in mein Herz, genau in dem Moment, als die Haustür schwungvoll geöffnet wurde. Stimmen waren zu hören – das waren Nighton und Jason. Ich fuhr mir mit dem Ärmel übers Gesicht, hektisch, als könnte ich so das Elend und Selbstmitleid einfach von mir abwischen. Meine Beine reagierten automatisch, und ich sprang auf, rannte in den Flur. Einen winzigen Moment lang flackerte die Hoffnung auf, dass Anna bei ihnen sein könnte.
Doch sobald ich Nighton gegenüberstand und ihn sah – erschöpft, die Schultern schwer - und realisierte, dass Anna nicht bei ihm war, brach etwas in mir. Ich schluckte, und meine eigenen Schultern sanken hinab, als könnte ich sie nicht mehr tragen. Jason schickte mir einen kurzen Blick, drückte mir die Schulter und verschwand nach oben.
»Ihr habt sie also nicht gefunden«, murmelte ich tonlos. Meine Stimme war nur ein Hauch, ausgelaugt von der Müdigkeit und der Angst um Anna. Ich wollte es nicht glauben, nicht wahrhaben, aber Nightons Miene erzählte alles, was ich nicht hören wollte.
Er schüttelte nur den Kopf. Kein Wort. Kein ‚Es tut mir leid‘. Nur dieses stumme, leere Kopfschütteln. »Nein«, sagte er schließlich, doch es war fast zu leise, um wirklich gehört zu werden.
Die Tränen keimten wieder in meinen Augen auf, brannten, drängten sich nach draußen. Ich drehte mich weg, schniefte leise und biss mir auf die Lippe, um nicht laut loszuheulen.
»Ich werde aber nicht aufgeben.« Seine Worte waren fest und entschlossen. Ich drehte mich langsam wieder zu ihm um, sah die ungewöhnliche Härte in seinen Augen. Die Wärme, die er mir sonst entgegenbrachte, war verschwunden. Nighton kam mir etwas näher, doch seine Nähe fühlte sich kalt und distanziert an. Er hielt direkt vor mir an, und doch war es mir, als befänden Meilen zwischen uns.
»Ich bleibe nicht lange. Jason und ich gehen nach Unterstadt und versuchen, Anna zu finden. Vielleicht kriegen wir die Zwillinge in die Hände. Mal schauen. Ich weiß nicht, wann ich zurückkomme.«
Ich schaffte es gerade so, zu nicken. Ein Teil von mir wollte sich bei Nighton entschuldigen, doch ich fand weder die Kraft noch die passenden Worte dazu. Trotzdem spürte ich es in meinem Inneren rebellieren. Er würde gehen und ich sollte… was? Warten? Wieder einmal? Nightons Stirn legte sich auf einmal in Falten, und ein seltsamer Ausdruck entstand in seinen Augen.
»Verstehst du, was ich dir gerade versuche zu sagen?«
Ich zog die Augenbrauen zusammen. »Ja, wieso?«
Plötzlich ergriff Nighton meine Unterarme. Seine Berührung war fest, aber nicht beruhigend. Sein Blick durchbohrte mich. »Ich komme erst wieder, wenn ich sie gefunden habe. Das kann in einem Tag, einer Woche oder in einem Monat sein. Sie ist weg, obwohl ich in der Nähe war und es hätte verhindern können. Ich werde das wiedergutmachen.«
Mein Mund öffnete sich reflexartig, als wollte meine Zunge ihm widersprechen, ihn von sich aus anflehen, nicht ohne mich zu gehen – aber bevor ich irgendetwas sagen konnte, ließ er mich abrupt los. Noch bevor er sich umdrehte und die Treppe nach oben ging, spürte ich, wie sich die Einsamkeit wie kaltes Blei in meinem Brustkorb ausbreitete. Er war bereits weg, obwohl er noch im Haus war.
Als ich die Tür oben zufallen hörte, zuckte ich zusammen. Oh Gott, was hatte ich getan? Nichts fühlte sich richtig an. Jede Sekunde in diesem Moment war wie eine quälende Erinnerung daran, was ich ihm vorgeworfen hatte. Und das war alles andere als eine Kleinigkeit gewesen.
Als Nighton kurz darauf wieder herunterkam, stand ich immer noch an Ort und Stelle. Er trug einen Rucksack über der Schulter, und bei seinem Anblick zog sich alles in mir zusammen.
»Werde ich denn… werde ich was von dir hören?«, stotterte ich. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, um den Bruch zu kitten.
Nighton kam vor mir zum Stehen. »Eher nicht.« Seine Augen verengten sich, als er weitersprach, fast, als würde er seine Worte abwägen. »Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich komme schon klar. Bin ich immer. Und du hast jetzt Zeit, dir darüber Gedanken zu machen, wo ich dich sonst noch hintergangen haben könnte.« Das Lächeln, das mit seinen Worten einherging, war kalt, leer, beinahe grausam. Es durchfuhr mich regelrecht. »Vergiss deine Schule nicht, und tu nichts Blödes, während ich weg bin. Sam und Evelyn werden rund um die Uhr bei dir sein.«
Ich starrte ihn an, während der Kloß in meiner Kehle wuchs. Jede Silbe war wie ein Stich, und ich konnte nichts dagegen tun. Ich wollte ihn anflehen, mich nicht so anzusehen, nicht so von mir zu denken oder zu sprechen, aber meine Lippen blieben fest verschlossen. Mein ganzer Körper fühlte sich taub an, meine Gedanken überschlugen sich. Die Tränen, die ich mit aller Macht zurückzuhalten versuchte, drohten durchzubrechen, aber ich kämpfte darum, sie unten zu halten.
Entgegen meiner Erwartung zog Nighton mich trotzdem an sich, fester als sonst, als wollte er die Distanz mit einem letzten Moment überspielen. Doch die Umarmung war so schnell wieder vorbei, dass ich nicht einmal die Arme anheben konnte. Im nächsten Moment ging er auch schon zur Tür, öffnete sie und verschwand nach draußen. Hinter mir kam Jason die Treppe herabgepoltert und folgte Nighton, allerdings nicht, ohne mir eine flüchtige Umarmung zukommen zu lassen. Ich blieb an Ort und Stelle, starrte Nighton hinterher, unfähig, auch nur einen Schritt zu machen, auch wenn ich es hätte tun sollen.
Und dann war er weg. Die winterliche Kälte, die durch die offenstehende Tür drang, erschien mir plötzlich noch kälter, die Dunkelheit draußen noch bedrückender. Ich starrte auf die Stelle, an der Nighton eben noch gestanden hatte. Zehn Minuten vergingen, vielleicht mehr, ich wusste es nicht. Alles um mich herum verblasste, während die Angst, die tief in mir brodelte, stetig anwuchs.
Die Angst, dass er nicht zurückkommt.
Die Angst, dass er Anna nicht fand.
Die Angst, dass es das war.
Es fing an zu schneien. Der Wind trieb die Flocken durch die Haustür, sodass ich mich langsam in Bewegung setzte, mit dem Ziel, die Tür zu schließen. Doch der Weg war ewig. Mein Verstand schrie nach Antworten, suchte nach etwas Greifbarem, doch alles fühlte sich nur noch bedeutungslos an. Hätte ich ihn aufhalten sollen? Hätte ich etwas sagen müssen, irgendwas? Hätte das was geändert? Nighton war weg, entschlossen, eine Schuld zu begleichen, die nicht die Seine war. Und ich… ich war hier, allein, mit nichts als meiner eigenen Verzweiflung, nachdem ich ihm das inzwischen Undenkbare vorgeworfen hatte. Was blieb mir noch?
Plötzlich zog ein stechender Schmerz durch meinen Unterleib, und ich keuchte auf. Automatisch presste ich beide Hände auf meinen Bauch, als ob das den Schmerz lindern könnte, aber es wurde nur schlimmer. Mir wurde übel, und ich fuhr herum, stürmte direkt ins Badezimmer, wo ich mich über die Toilette beugte und mich erbrach.
Erschöpft ließ ich mich danach am Badewannenwand nieder, den Kopf auf den kalten Rand gelegt. Der Schmerz in meinem Bauch pochte noch nach, aber das war nichts im Vergleich zu dem, was in meinem Herzen tobte.
Die Tränen, die ich so lange unterdrückt hatte, liefen jetzt unaufhaltsam über mein Gesicht. Ich konnte sie nicht mehr zurückhalten. Der Kloß in meinem Hals, die erdrückende Last auf meiner Brust, alles brach über mich herein.
Verdammter Alkohol. Und verdammte Hilflosigkeit.