»Warum sagst du mir nicht einfach, was ich wissen will?«, seufzte Kellahan und schaute auf seine Armbanduhr. Ich presste meinen Mund nur noch fester zusammen und heftete den Blick wie all die Male zuvor in den letzten zwei Wochen auf das Notausgangsschild, zu dem orange Linien auf dem Boden lotsten. Sie bildeten den einzigen farblichen Kontrast in dem ansonsten schneeweißen, runden Labor. Über mir brannte das grelle Licht einer verstellbaren Laborlampe. Das einzige Geräusch, wenn Kellahan mich nicht gerade bearbeitete, waren das leise Surren der Maschinen und das Ticken einer Uhr, die über mir an der Wand hing. Wie immer waren meine Handgelenke und Knöchel fest in die metallenen Fesseln der Liege eingespannt, die sich kühl anfühlten. Ich konnte mich kaum bewegen. Doch selbst wenn ich es gekonnt hätte, mir fehlte die Kraft. Umso lächerlicher fand ich es, dass man mich überhaupt festschnallte. Ich war zu einhundert Prozent das Ungefährlichste, das es hier drin gab - warum also dieser Akt?
Aber gut. Vielleicht wollte Kellahan auch nur seine Macht demonstrieren. Schien er ja bitter nötig zu haben.
Nach unserem missglückten Ausbruch wurden Gil und ich in Einzelhaft gesteckt, doch ich beschwerte mich nicht und sagte auch sonst den Tag über nicht viel. Wenigstens hatte ich jetzt ein Klo und musste nicht ständig darum bitten, rauszudürfen.
Seitdem bearbeitete Kellahan mich fast täglich. Dieses war nun das inzwischen siebte Verhör, das ich über mich ergehen lassen musste. Er redete schon seit einer halben Stunde auf mich ein und wollte mir alles entlocken, was ich wusste, doch ich schwieg eisern. Genau wie all die Male zuvor. Und langsam verlor Kellahan die Geduld, das spürte ich.
Neben mir stand ein Arzt, der sein Gesicht hinter einer chirurgischen Maske verbarg. Nur seine kalten Augen fixierten mich, während seine Finger ständig am Schieberegler der Infusionspumpe spielten. Der Schlauch des gesamten Systems mündete in meinen Arm. In diesem Moment konnte ich fühlen, wie sich die Flüssigkeit des TRU-3-Serums in meine Venen schlich, kalt und brennend. TRU-3, so hatte Kellahan es mir erklärt, war eine Art Wahrheitsserum. Man verabreichte es, und die Zielperson plauderte aus dem Nähkästchen. Sollte sie jedenfalls. Doch da dieses Mittel nicht für Menschen konzipiert worden war, wusste keiner die nötige Dosierung, weswegen ich eigentlich nur ohne Unterbrechung unter den Nebenwirkungen litt. So auch jetzt. Mein Magen krampfte, und mir wurde übel, so schrecklich übel, dass ich dachte, ich müsste mich im Schwall übergeben. Die Schmerzen wurden mit jedem Tropfen schlimmer. Es fühlte sich an, als würde ein Feuer in meinem Bauch lodern, und ich konnte kaum klar denken.
Kellahan schritt um mich herum wie ein Raubtier, das seine Beute im Blick behielt. Seine Schritte hallten auf dem harten Boden wider, und jedes Mal, wenn er in mein Blickfeld trat, spannte ich mich noch mehr an, was die Schmerzen nur verschlimmerte. Sein Gesicht war eine Maske aus berechnender Kälte. Kein Mitleid, nur der Fokus auf seine Mission.
»Wo liegen Ober- und Unterstadt?« Seine Stimme war glatt, fast sanft, aber ich konnte den schneidenden Unterton nicht überhören.
Ich biss die Zähne zusammen und starrte an die Decke. »Ich... weiß es nicht«, keuchte ich und spürte, wie mein Körper gegen die Schmerzen ankämpfte. Es war eine Lüge, und das wusste Kellahan.
Er nickte dem Arzt zu, der den Schieberegler leicht nach oben drehte. Sofort fühlte ich, wie das TRU-3 schneller in meinen Körper strömte. Ein gewaltiger Krampf zog sich durch meinen Bauch, und ich schrie auf, konnte es nicht mehr zurückhalten. Es war, als ob tausend Nadeln unter meiner Haut brannten, ein Schmerz, der meine Sinne überflutete.
»Lügen sind keine Option, Jennifer«, behauptete Kellahan über meinen Schrei hinweg mit kalter Geduld. »Du wirst es mir sagen. Irgendwann. Warum das Ganze also unnötig in die Länge ziehen? Wo liegen die Zugangspunkte zu Ober- und Unterstadt? Ich weiß, dass es welche gibt.«
Ich rang nach Atem, während mein Körper vor Schmerz und Übelkeit bebte. »Ich weiß es nicht!«, stieß ich hervor, während sich meine Stimme überschlug. Mir war bewusst, dass jede Lüge Kellahan nur noch mehr provozierte.
»Schwachsinn«, knurrte der und beugte sich näher zu mir. Ich konnte seinen Atem auf meiner Haut spüren, warm und voller Verachtung.
»Wie viele existierende Architerristen gibt es? Wer sind die Anführer der Diviterristen und Inferoterristen? Komm schon! Früher oder später wirst du schon noch damit rausrücken. Also, wie viele?«
Mein Kopf drehte sich, alles verschwamm. »Leck mich«, presste ich hervor. Meine Kehle war so trocken wie Sandpapier, und ich war schon von Kopf bis Fuß nassgeschwitzt, obwohl es kühl war.
Der Arzt drehte erneut am Regler, dieses Mal viel mehr. Die Schmerzen schossen durch meinen Körper wie ein glühender Draht, und ich schrie, konnte es nicht zurückhalten. Es war zu viel, alles in mir wollte aufgeben, wollte einfach nur, dass es aufhörte.
»Warum tust du dir das an?« Kellahans Stimme war nun fast trügerisch sanft. »Du könntest es so viel einfacher haben. Sag mir einfach, was ich wissen will. Wo ist Nighton? Wie ist er ein Yindarin geworden? Wer sind eure Verbündeten? Worüber habt ihr am Telefon gesprochen?«
Ich schüttelte den Kopf, oder zumindest versuchte ich es. »Ich weiß es nicht!«, schrie ich erneut, und die Tränen brannten in meinen Augen. Die Übelkeit stieg weiter an, und ich hatte das Gefühl, als würde ich jeden Moment das Bewusstsein verlieren. »Ihr könnt mich... nicht brechen!«
Kellahan lachte leise und behauptete: »Du überschätzt deine Widerstandskraft, Jennifer. TRU-3 ist für Wesen wie dich nicht gemacht. Es wird dir immer mehr wehtun, bis du mir antwortest.«
Ich versuchte, mich auf etwas anderes zu konzentrieren, irgendetwas, um den Schmerz zu verdrängen. Aber es gab kein Entkommen. Mein Körper verriet mich, die Krämpfe wurden schlimmer, und ich konnte nichts tun, als zu wimmern. Ich fühlte, wie mein Wille immer mehr zerbrach, unter der Last der Schmerzen und des Serums.
»Wie viele arbeiten mit euch zusammen?«, fragte Kellahan weiter. Seine Stimme war nun geduldiger, fast beruhigend. »Gib auf. Quäl dich doch nicht unötig!«
Doch ich presste nur wieder die Lippen zusammen, starrte an die Decke, versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Aber sie kamen trotzdem.
»Nie«, flüsterte ich, kaum hörbar. »Niemals.«
Kellahan stützte sich mit einer Hand auf dem Stuhl ab und näherte sich mir, bis ich fast seine Wimpern zählen konnte. Er seufzte und sagte: »Du denkst hoffentlich nicht, dass ich schon das Schlimmste bin, was TI zu bieten hat. Was denken Sie, Dr. Russo? Finden Sie nicht auch, dass wir Ajax anfragen sollten?«
»Finde ich, Sir«, bestätigte Dr. Russo.
Ich wusste nicht, wer Ajax war, und noch weniger wusste ich, ob ich das herausfinden wollte. Kellahan lächelte gehässig, als er meinen Blick bemerkte.
»Wenn Turanos ältester Sohn erst mal anfängt, dich zu durchleuchten, wirst du dir wünschen, dass ich an seiner Stelle stünde«, drohte er leise. Sein Blick wanderte hoch zu dem Arzt. »Volle Dosis, Doc. Und dann lassen Sie hier aufräumen.« Er nickte Dr. Russo zu, der den Schieberegler noch ein Stück weiter nach oben schob.
Ich schrie auf, mein Körper bog sich gegen die Fesseln, und die Welt um mich herum verblasste in einem Meer aus Schmerz und Dunkelheit. Ich konnte nur noch beten, dass ich das Bewusstsein verlor.
Doch das Serum sorgte dafür, dass ich alles spürte. Jede Welle des Schmerzes, jede Welle der Verzweiflung. Und in der Ferne, am Rande meines Gehörs, hörte ich Kellahans ruhige, bedrohliche Stimme: »Und stellen Sie eine Anfrage ans HQ. Scheint, als bräuchten wir Ajax wirklich.«
Zwei Wachen schleppten mich zurück in meine Zelle. Oder was sie hier eine Zelle nannten. In Wirklichkeit war es ein Raum für Isolation, ohne Fenster, aber dafür mit einer Glaswand, durch die ich den unaufhörlichen Blick der beiden Wachen spüren konnte, die rund um die Uhr im Vorraum meiner Zelle standen. Aber zumindest gab es hier eine Pritsche und ein Klo, was mehr war, als ich in Trakt sechzehn gehabt hatte. Diese zwei Dinge waren zu meinen einzigen Freunden geworden.
Ich krümmte mich vor Schmerzen und legte eine Hand auf meinen rebellierenden Magen, während ich mich in die Ecke schleppte, die ich die letzten Tage nicht verlassen hatte. Dort kauerte ich mich wieder hin und ließ mich gegen die kalte Wand sinken. Ein in Plastik eingewickeltes Sandwich lag vor mir auf dem Boden. Mechanisch hob ich es auf, nur um es gleich wieder wegzulegen. Mein Magen zog sich zusammen bei dem Gedanken, etwas zu essen. Hunger hatte ich gerade wirklich nicht.
Vor der Zelle fand gerade der Wechsel des Wachpersonals statt. Es war einfach nur bekloppt, wie viel Aufwand sie für mich betrieben. Mich, die Schwächste hier, mich steckten sie wochenlang in diese Glaskiste, vor die sie dann auch noch zwei Wachen abstellten. Ob Gil auch so eingesperrt war? Oder hatte man ihn zurück in Trakt sechzehn geschafft?
»He, Gefangene!«
Ich öffnete die Augen nur einen Spalt. Vor der Glaswand stand Wache 0056. Er war derjenige, den ich damals mit dem Taser erwischt hatte. Seitdem schien er sich besondere Mühe zu geben, mir das Leben noch unerträglicher zu machen.
»Habe gehört, du bekommst Besuch von Ajax? Da wünsche ich dir viel Spaß! Schade, dass ich frei habe und das nicht zu sehen bekomme.«
Langsam hob ich meine Hand und zeigte ihm den Mittelfinger. Aber er war schon weg, das Geräusch seiner Schritte verklang im Flur.
Eine der neuen Wachen stellte sich neben der Zelle auf, mit dem Rücken zu mir. Nur eine halbe Schulter war sichtbar, der Rest verschwand hinter der Wand. Die andere Wache saß auf einem Metallstuhl und drehte sich eine Zigarette. Ihre Stimmen waren ein leises Murmeln, das sich für mich wie ein dumpfer, bedeutungsloser Rausch anhörte.
Dann bot die sitzende Wache der stehenden Wache eine Zigarette an. Die stieß sich von der Wand ab, und schon in dieser Sekunde kam mir etwas merkwürdig vor. Ihre Bewegungen waren viel zu schnell. Innerhalb eines Herzschlags stand sie vor der sitzenden Wache, ihre Hände blitzschnell um deren Kopf gelegt. Plötzlich durchbrach ein trockenes Knacken die Stille, wie ein Ast, der unter einem zu viel Gewicht bricht. Die Wache auf dem Stuhl sackte leblos in sich zusammen und rutschte vom Stuhl wie ein kaputtes Spielzeug.
In zuckte zusammen und presste mich in die Ecke. Was war denn da gerade passiert?
Die stehende Wache beugte sich ruhig herunter, nahm die Schlüsselkarte an sich und öffnete damit die Tür zu meiner Zelle. Mein Herz galoppierte und übersprang dabei Schläge. War das Dorzar? War er gekommen, um das zu beenden, was er angefangen hatte? Um mich endgültig zu holen?
Der Jemand kam näher.
Die Angst lähmte mich. Mein Atem kam nur stoßweise, und ich versuchte, mich noch mehr gegen die Wand zurückzudrücken, um so weit weg von der Tür zu sein, wie ich nur konnte. Aber da war kein Entkommen. Der Raum fühlte sich plötzlich noch kleiner, noch erdrückender an, die Glaswand wie ein weiteres Hindernis, das mich von der Freiheit trennte.
Plötzlich zog sich die Wache den Helm vom Kopf und mir stach etwas ins Auge. Grün. Nein, Moosgrün. Hell aufleuchtendes, flimmerndes Moosgrün. Das war nicht Dorzar. Es war Nighton.
Der legte einen Finger an die Lippen, seine Augen durchbohrten mich. Ich stand so sehr neben mir, dass ich meinen Augen nicht traute. War er echt? Oder eine Halluzination? Machte die Isolation das mit mir?
Die vermeintliche Halluzination in Wachpersonal-Montur ging vor mir auf die Knie. Ich spürte eine Hand an meiner Wange, die so zart über meine Haut strich, dass es wie ein Traum wirkte. Mein Herz flatterte bei dieser Berührung, und für einen Moment hielt ich den Atem an. Ich traute mich nicht, zu glauben, dass er wirklich hier war.
»Du? Bist du eine Einbildung?«, flüsterte ich mit kratziger Stimme. Selbst ich konnte den Unglauben in meiner Stimme beinahe greifen.
Die grünen Augen blieben fest auf meinen, und ein leichtes Lächeln spielte um diese Lippen.
»War ich nie und werde ich nie sein.«
Ich brauchte eine Sekunde, um das zu verarbeiten, um zu verstehen, dass er es wirklich war. Der Meister kryptischer Antworten. Nighton. Die pure Erleichterung übermannte mich, und plötzlich gab es nichts Wichtigeres mehr als ihn zu berühren, sicherzustellen, dass er echt war. Ich rutschte aus meiner Ecke und legte eine zitternde Hand an seinen Kiefer, während meine Finger nach dem vertrauten Gefühl seiner Haut tasteten.
Nighton zog mich abrupt zu sich, so fest und plötzlich, dass es uns beide fast aus dem Gleichgewicht brachte. Nach Luft schnappend schlang ich die Arme um ihn, verbarg mein Gesicht in seiner Halsbeuge und klammerte mich an ihn, als wäre er mein einziger Anker in dieser Hölle. Sein Geruch, dieser vertraute, wohltuende Geruch, den ich so sehr vermisst hatte, umfing mich, und ich fühlte mich zum ersten Mal seit schierer Ewigkeit sicher.
»Du bist wirklich hier«, presste ich mit einer Stimme hervor, die vor Emotionen nur so bebte.
»Habe ich doch gesagt«, murmelte er sanft und zog mich noch enger an sich. Seine Worte klangen wie Balsam, sie heilten die Wunden, die all die Tortur in mir hinterlassen hatte.
Er stand auf und zog mich mit sich in die Höhe, seine Hände fest an meinen Schultern, als hätte er Angst, mich loszulassen. Sein Blick glitt über mich, nahm jedes Detail meiner Gestalt auf, und ich sah, wie sich ein Schatten der Sorge in seine Augen schlich.
»Du siehst furchtbar aus«, bemerkte er schließlich. Seine Stimme klang brüchig und dennoch fest. Es war eine nüchterne Feststellung, die den Schmerz, den er fühlte, nicht ganz verbergen konnte. Ein schmallippiges Lächeln schlich sich auf meine Lippen, und trotz allem zeigte ich ihm beide Mittelfinger. Erst schnalzte er gespielt missbilligend mit der Zunge, doch dann griff er nach meinen Händen, drückte sie hinab, und aus dem Spiel wurde bitterer Ernst.
»Wir müssen hier raus, jetzt. Sie werden bald merken, dass ich eingedrungen bin. Wir haben nicht viel Zeit.« Er schaute an die Wände und die Decke, als würde er nach etwas suchen. Dann, ohne Vorwarnung, durchbrach der schrille Alarm, der Schwierigkeiten ankündigte, die Stille. Es hatte mich ohnehin gewundert, dass er erst jetzt losgegangen war. Die Wände erzitterten förmlich unter dem ohrenbetäubenden Geräusch.
Mir gefror das Blut. Nighton spannte sich an und blickte auf, sein Gesicht wurde rasch bleich.
»Scheiße. Komm, lass uns verschwinden!«, stieß er hervor, nach meinem Arm greifend.
Er wollte schon aus der Zelle stürmen, da hielt ich ihn fest und rief:. »Nighton, wir müssen noch Gil befreien!«
Sein Gesicht verfinsterte sich, und seine Lippen pressten sich zu einer schmalen Linie. »Wir befreien hier gar niemanden! Wer zur Hölle ist das überhaupt?«
»Der Dämon aus Unterstadt, der mir geholfen hat, das Yagransin zu zerstören. Er wurde auch gefangengenommen.« Mein Herz schlug schneller, als ich seine Reaktion abwartete.
»Jennifer, wir haben keine Zeit für sowas! Wir müssen hier raus, bevor die gleich alle hier aufschlagen!«, zischte er und sah mich eindringlich an. »Jede Sekunde, die wir hierbleiben, bringt uns beide in Gefahr. Willst du das wirklich riskieren?«
Ich erwiderte seinen Blick fest und ließ mich von seiner Warnung nicht einschüchtern. »Ich gehe nicht ohne ihn, Nighton. Wenn du mich hier rausholen willst, dann holen wir auch Gil. Punkt. Du bist ein Yindarin, das da draußen sind Menschen! Die können dir gar nichts!«
Er fluchte leise und fuhr sich frustriert durch die Haare. »Das ist Wahnsinn! Wenn das schiefgeht…« Er brach ab, sein Blick war voller Zorn und Sorge.
»Es wird nicht schiefgehen«, erwiderte ich mit einer Überzeugung, die ich tief in mir spürte, auch wenn mein Körper das Gegenteil behauptete. »Wird es nicht«, wiederholte ich, als wollte ich damit nicht nur ihn, sondern auch mich selbst beruhigen.
Er knurrte etwas Unverständliches und schulterte sein Gewehr, bevor er mich mit sich auf den Flur zog.
»Dann los, bevor wir gleich Gesellschaft kriegen. Wo geht's lang?«
Der Weg zu Trakt 16 schien endlos. Jeder Schritt zog sich wie zäher Kaugummi, während das Adrenalin in meinen Adern rauschte und die Anspannung in Nightons Haltung greifbar war. Die Neonlichter über uns flackerten unruhig, als wollten sie uns warnen, uns auf das vorbereiten, was hinter der nächsten Ecke lauern könnte. Die ganze Zeit dröhnte der Alarm, und ich war mir sicher, dass es nicht lang dauern könnte, bis wir angegriffen wurden.
Als wir um eine Ecke bogen, war es dann so weit: Aus dem Nichts stürmte eine Truppe bewaffneter Männer um die Ecke – schwer gerüstet, mit Gewehren und leuchtender Munition im Anschlag, bereit, uns aufzuhalten. Ihr Auftreten war so abrupt, dass Nighton und ich erschraken.
»Zurück!«, brüllte Nighton mich an und stieß mich mit solcher Kraft in den vorherigen Gang zurück, dass ich das Gleichgewicht verlor. Ich stolperte und fiel auf die Knie. Ich kam gerade noch rechtzeitig zurück auf die Beine und schlitterte um die Ecke, um mitzubekommen, wie sich eine Druckwelle aus Nighton entlud, die er nicht beabsichtigt zu haben schien. Ich warf mich zurück in den angrenzenden Gang, um der Wucht dieser Welle zu entgehen. Lautes Geschrei und Lärm ertönte, und als ich vorsichtig um die Ecke herumspähte, konnte ich sehen, wie Nighton etwas ratlos inmitten der bewusstlosen Körper stand, die verstreut und regungslos auf dem Boden lagen. Er atmete schwer, seine Brust hob und senkte sich in schnellen Zügen. Schnell watete ich durch die Körper auf ihn zu. Ich wusste, was passiert war. Das war Sekeera gewesen. Mit einer machtvollen Schwingung ihres Geistes hatte sie gesamte Einheit niedergestreckt, noch bevor die ihren Angriff richtig starten konnte.
»Komm, weiter, bevor noch mehr von denen auftauchen«, presste ich hervor und schnappte mir Nightons Hand, der noch immer nicht ganz verstand, aber in dem Moment scheinbar von Sekeera vollgeschwallt wurde, denn seine Miene erhellte sich, und er ließ sich einfach von mir mitziehen.
Als wir schließlich Trakt 16 erreichten, standen wir allerdings vor dem Problem, dass wir keine Schlüsselkarte hatten. Mir wurde schon ganz schlecht, da kam aus Trakt 15 plötzlich eine Wache gerannt, die wohl von meinem Ausbruch gehört hatte. Sie sah uns, und für einen winzigen Augenblick spiegelte sich Überraschung in ihrem Gesicht wider. Die Hände des Mannes fassten schon nach dem Funkgerät an seinem Gürtel, doch das wurde ihm zum Verhängnis. Nighton zögerte keine Sekunde.
Mit einer Geschwindigkeit, die ich kaum mitverfolgen konnte, sprang er auf die Wache zu. Ein grausames Knacken erklang, als er den Kopf des Mannes an die Wand rammte, der daraufhin, eine blutige Spur auf dem makellosen Weiß der Wand hinterlassend, an ihr herunterrutschte und leblos liegen blieb. Ich konnte nur zusammenzucken. Nighton jedoch kniete sich direkt hin, durchsuchte die Uniform der Wache und zog die Sicherheitskarte heraus. »Hier«, sagte er und hielt sie hoch. In seinen Augen lag ein Ausdruck von Entschlossenheit.
Ohne zu zögern, griff ich nach der Karte und hielt sie an das Kartenlesegerät neben der Tür. Das alles ging so schnell, dass ich kaum Zeit hatte, darüber nachzudenken, was gerade passiert war. Aber es spielte keine Rolle. Gil war irgendwo da drinnen, und wir würden ihn holen. Egal, was es kostete.
Als wir den Trakt betraten, in dem helle Aufregung in den Zellen herrschte, konnte Nighton seine Bestürzung kaum verbergen. Bei jedem seiner Schritte sah ich, wie er seine Kiefer aufeinanderpresste und wie seine Augen sich verengten, als könnte er nicht fassen, was er hier sah. Die meisten der Engel und Dämonen in den Zellen standen mit ungläubigen Mienen auf, als sie uns vorbeigehen sahen. Einige traten näher, andere hämmerten an die Scheiben, wieder andere winkten Nighton wild und riefen. Sie wussten, wer und was er war.
»Nein…«, stöhnte er leise.
Ich erwiderte nichts, mein Fokus lag ganz auf einem Ziel: Gils Zelle. Doch je tiefer wir in den Trakt vordrangen, desto mehr beschlich mich ein unheilvolles Gefühl, dessen Ursprung ich allerdings noch erfahren sollte. Kurz darauf entdeckte ich die Nummer seiner Zelle. Mein Herz begann schneller zu schlagen, als ich zu der Zelle stürmte.
Doch statt Gil fand ich einen Jungen vor, der bei meinem Anblick erschrocken zusammenzuckte. Er war jung, vielleicht gerade erst auferstanden, mit blasser Haut und weit aufgerissenen, angstvollen Augen. Er drückte sich in eine Ecke der Zelle, als könnte er so unsichtbar werden.
»Wo ist Gil? Der Dämon, der vor dir hier drin war?« Meine Stimme zitterte, als ich durch das Glas fragte.
Der Junge blickte mich an, sein Atem ging schnell. »Er… er ist nicht mehr hier«, stammelte er.
»Was meinst du damit?« Die Worte drängten sich ungeduldig über meine Lippen. »Wo ist er?«
»Die Wachen…« Er hielt inne, als müsste er sich zwingen, weiterzusprechen. »Ich habe sie reden gehört. Sie haben ihn verlegt. Sie sagten, er sei zu gefährlich für diesen Ort.«
Ein Kloß bildete sich in meinem Hals, und ich spürte, wie die Panik in mir aufstieg. »Wohin haben sie ihn gebracht?«
Der Junge schüttelte verzweifelt den Kopf. »Ich weiß es nicht! Sonst haben sie nichts gesagt… nur, dass er weggebracht wurde.«
Hinter mir hörte ich, wie Nighton zischend die Luft einsog. »Das war’s«, knurrte er, und seine Stimme klang so angespannt wie ein gespannter Bogen. »Er ist weg. Wir gehen jetzt, und zwar sofort!«
Ich drehte mich zu ihm um, meine Hände ballten sich zu Fäusten. »Ich gehe nicht ohne ihn!«, widersprach ich energisch.
Nightons Augen verengten sich, und Zorn und Frustration blitzten in ihnen auf. »Verdammt nochmal, Jennifer! Wir können hier nicht bleiben und Helden spielen! Jede Sekunde zählt, und wenn wir jetzt nicht verschwinden, werden wir beide hier enden, in einer dieser verdammten Zellen!«
»Nein, ich gehe nicht!«, entgegnete ich, meine Stimme schärfer als gewollt. »Ich werde Gil finden, selbst wenn ich jeden Winkel dieses Ortes durchsuchen muss.«
Er starrte mich an, als könnte er nicht glauben, was ich da sagte. Dann packte er mich an den Schultern, seine Finger gruben sich schmerzhaft in meine Haut. Unerwartet ruhig sagte er: »Ich verspreche dir bei allem, was mir wichtig ist, dass ich hierher zurückkehren diesen Gil finden und rausholen werde. Aber jetzt bist du wichtig, wir müssen hier weg, bitte, sei vernünftig!«
Ich öffnete den Mund, wollte protestieren, doch da öffneten sich mehrere Luken über unseren Köpfen, aus denen weißlicher Rauch entströmte. Nighton wartete gar nicht, dass ich mich entschied. Stattdessen riss er mich mit sich. Hals über Kopf rannten wir durch den Trakt, zurück auf die massive Sicherheitstür zuhaltend. Doch die ließ sich nicht mehr öffnen. Stattdessen ragte sie fast verhöhnend vor uns auf, und zum ersten Mal fürchtete ich, dass wir in der Falle saßen. Immerhin hatte Kellahan damit gedroht, vorbereitet zu sein - und ich glaubte ihm.
Nighton fixierte die Tür. Es war, als würde er jeden Zentimeter der Tür in sich aufnehmen, die Beschaffenheit des Metalls studieren, die Stärke der Bolzen abwägen.
»Nighton, was…«, begann ich, doch meine Worte wurden von dem plötzlichen Aufleuchten seiner Augen unterbrochen, das wie ein unheimliches Glühen wirkte. »Geh zur Seite.«
Er nahm ein paar Schritte Anlauf, bevor er lospreschte. Mit extremer Wucht warf er sich mit der Schulter voran gegen die Tür. Das Geräusch des Aufpralls war ohrenbetäubend – ein metallisches Kreischen, das durch die Gänge hallte und den Alarm beinahe übertönte. Für einen Moment schien alles stillzustehen. Dann gab die mehrere Meter breite Tür mit einem ohrenbetäubenden Krachen nach, flog aus den Angeln und kippte nach hinten um, wo sie donnernd auf dem Boden landete. Staub und Funken stoben auf, füllten die Luft, und ich konnte nur mit offenem Mund zusehen, wie Nighton inmitten des Chaos stand. Er griff sich an die Schulter, als hätte es wehgetan.
»Los jetzt«, brachte er knurrend hervor. Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Gemeinsam flüchteten wir durch die zerstörte Tür.