Am nächsten Morgen warf Nighton mich ziemlich früh aus dem Bett. Meine Knochen fühlten sich an, als wären sie in Blei gegossen, und mein Kopf war schwer wie nach einem unruhigen Traum. Nighton hingegen – hellwach und viel zu gut gelaunt für meinen Geschmack. Seine Fröhlichkeit war so nervtötend, dass ich das Kissen am liebsten über meinen Kopf gezogen oder ihm ins Gesicht gedrückt hätte. Doch bevor ich mich zurück ins Bett wälzen konnte, hörte ich von oben Lärm.
Was zum Teufel ging da oben ab?
Verschlafen tappte ich ins Mittelschiff der Kirche und blieb verdutzt stehen. Kisten voller Waffen waren überall verstreut, und Penny, Sam und Evelyn trugen Kampfklamotten, als stünde der Weltuntergang vor der Tür. Meine Neugier war kaum geweckt, da stellte Nighton mir eine Schüssel Cornflakes auf den Tisch. Sein Blick war so auffordernd, dass ich nur genervt stöhnen konnte.
»Du schon wieder. Hör auf mich zu bemuttern!«, nörgelte ich, während ich mir mit dem Pyjamaärmel übers Gesicht wischte. Der Schlaf hing mir noch in den Knochen, und das Letzte, was ich brauchte, war jemand, der mir Vorschriften machte.
»Die gesunde Kalorienzufuhr einer Neunzehnjährigen beträgt knapp eintausendneunhundert am Tag«, verkündete Penny lauthals vom anderen Ende der Kirche, ganz in der Manier eines wandelnden Lexikons. Mein Kopf fuhr herum, meine Hände landeten empört in meinen Seiten.
»Verbrüderst du dich jetzt auch noch mit ihm?« Ich konnte es nicht fassen!
Penny seufzte nur, als ob sie genau gewusst hätte, dass dieser Vorwurf kam. »Es geht nicht darum, sich zu verbünden. Ich mache mir einfach Sorgen, Jen. Du hast die letzten Tage kaum gegessen. Du hattest schon im Labor genug abgenommen, willst du dich noch weiter abmagern?«
Ich wollte ihr widersprechen, aber was sollte ich sagen? Sie hatte ja nicht ganz Unrecht. Bevor ich überhaupt reagieren konnte, mischte sich Evelyn ein, natürlich.
»Pensie hat Recht. Außerdem«, sie grinste obzön, »ist es auf Dauer bestimmt echt unangenehm, in einem Knochensack rumzustochern.« Sie zwinkerte in Nightons Richtung, als ob sie seine Zustimmung erwartete.
Nighton atmete gereizt aus und schüttelte nur den Kopf, als wollte er Evelyns Worte einfach ausblenden. Sein Blick blieb auf mir haften, und in seinen Augen war Sorge.
»Komm schon, du weißt, dass wir Recht haben. Iss das.« Seine Stimme war leise, fast flehend. Er zeigte auf die Schüssel, und ich fühlte, wie meine Verteidigung langsam in sich zusammenbrach.
Mit einem tiefen Seufzen ließ ich mich auf den Stuhl sinken. Was sollte dieses Drama? Es ergab keinen Sinn. Es war doch meine Sache, was und wann ich aß, oder nicht? Trotzdem griff ich nach der Milch und goss sie widerwillig über die Cornflakes.
Nighton schien erleichtert, sobald er sah, dass ich wenigstens einen Versuch machte, etwas zu essen. Während er mit verschränkten Armen durch den Raum lief und die anderen koordinierte, konnte ich meine Augen nicht von ihm lassen. Ich beobachtete, wie er sich bewegte, die Art, wie er sprach – die Kontrolle, die er ausstrahlte. Und während ich das alles betrachtete, drang eine seltsame Erkenntnis in mein Bewusstsein. Nighton gehörte jetzt mir. Dieser Gedanke fühlte sich plötzlich so gut an, dass er meine Stimmung hob, als hätte jemand ein Licht in meinem Inneren entzündet.
Ich wusste nicht, wie es passierte, aber plötzlich war die Schüssel halb leer. Das verblüffte mich, fast als hätte ich es nicht bewusst bemerkt. Die letzten Tage hatte ich kaum etwas runterbekommen – es gab so viel, was mich innerlich erstickte, das mich lähmte, sobald ich nur daran dachte. Aber der Gedanke an Nighton, an die Tatsache, dass er bei mir war, für mich da war… auf einmal war es leichter. Leichter zu essen, leichter zu atmen. Vielleicht konnte ich diesen Moment einfach für mich behalten, ohne weiter darüber nachzudenken.
Meine Gedankengänge wurden allerdings beendet, als plötzlich Jason die Kirche betrat. Er trug eine schwarze Lederkluft, in der er mich, sehr zu meinem Missfallen, an die Zwillinge erinnerte. Diese Farbe stand ihm überhaupt nicht, war sie doch das genaue Gegenteil der warmen Töne, die er sonst bevorzugte. Trotzdem lächelte er mir sanft zu, bevor er ein paar leise Worte mit Nighton wechselte. Dann wandte er sich an die anderen, die sich auf ihre Ausrüstung konzentrierten.
Nighton ließ mich dabei nicht aus den Augen, als er sich mir gegenüber an den neuen Tisch setzte – den Jason übrigens organisiert hatte, nachdem der alte... na ja, kaputtgegangen war. Bekanntermaßen.
»So, ich hoffe, ihr seid bereit«, begann Jason mit einem festen Tonfall und baute sich vor Penny, Sam und Evelyn auf. »Unter meiner Führung wird das alles etwas anders ablaufen, als ihr es unter dem Yindarin gewohnt seid.
Er nickte in Nightons Richtung, bevor er fortfuhr: »Aber ich verlange nicht mehr als er. Um sieben Uhr geht unser Teleport vor der Kirche, also trödelt nicht. Verabschiedet euch jetzt.«
Mit einem kräftigen Ruck schulterte er einen Sack voller Waffen, der neben dem Beichtstuhl gelegen hatte, und marschierte hinaus. Sam und Penny tauschten einen verwunderten Blick, bevor Penny das Wort ergriff.
»Sollten wir nicht heute der Himmelswache in den Randgebieten aushelfen?« Ihre Stimme klang unsicher, als hätte sie Bedenken.
Nighton drehte sich leicht zu ihr um. »Ihr untersteht heute nicht mir. Jason entscheidet, wo es langgeht.« Dann fügte er hinzu, ohne Evelyn eines Blickes zu würdigen: »Vergiss deinen Sonnenschutz nicht, Evelyn.«
Evelyn schnaubte abfällig, während sie den Reißverschluss ihres Stiefels hochzog.
»Mich brauchst du nicht bemuttern. Außerdem bin ich nicht das erste Mal in Oberstadt, danke.« Mit einem scharfen Blick in Nightons Richtung schnappte sie sich einen weiteren Waffensack und folgte Jason. Nighton, ganz der stoische Fels, ließ ihren Kommentar unkommentiert.
Ich konnte ein Seufzen nicht zurückhalten. Der Gedanke, wie es wohl wäre, selbst als Yindarin bei ihnen zu sein, stach wie eine Nadel in mein Herz. Aber das war eine Illusion, ein Gedanke, der nie mehr als eine leise Fantasie bleiben würde.
»Viel Spaß in Deutschland. Schickt uns eine Postkarte«, witzelte Sam, bevor er Penny am Ellbogen packte und mit sich zog. Sie schaffte es gerade noch so, mir zu winken, dann waren auch die beiden verschwunden.
»Was machen Penny, Sam und Evelyn mit Jason?« Ich blickte ihn neugierig an, während ich die letzten Cornflakes im Mund zerkauen ließ.
Nighton drehte sich wieder zu mir um. Sein erster Blick glitt sofort zu meiner Schüssel. Als er bemerkte, dass ich fast fertig war, schlich sich ein zufriedener Ausdruck auf sein Gesicht. Ohne Umschweife erklärte er: »Sie wollen die Engel und Dämonen, die wir gerettet haben, für die Sache gewinnen. Um die Grenzen zu verstärken und das Team zu erweitern. Vielleicht holen wir auch jemanden Neuen zu uns. Mal schauen.«
Meine Gedanken wanderten sofort zu Gil. Der eigensinnige Dickschädel. Bei ihm konnte ich mir schwer vorstellen, dass er sich auf so etwas einlassen würde. Er war viel zu stur und viel zu stolz, um sich von jemandem wie Jason oder Nighton sagen zu lassen, was zu tun war. Gil arbeitete allein – immer.
Nighton nickte in Richtung des Kirchenportals. »Wenn du fertig bist, machen wir uns auch auf den Weg. Zieh dir was Warmes an, die Burg steht auf einem Berg, und da oben weht ein ziemlich kalter Wind.«
Neugierig legte ich den Kopf schief. »Burg?«
Nighton lächelte schief. »Ja. Eine umfunktionierte Mittelalterburg im Südwesten Deutschlands, umgeben von Weinbergen und Wäldern. Ist nett da.«
»Du warst schon mal im deutschen Internat?«
Nighton nickte. »Ja, einmal.« Ein leises Schnauben entwich ihm, als seine Augen kurz in die Ferne glitten. Anscheinend war die Erinnerung daran nicht besonders rosig.
Bevor ich weiter bohren konnte, erhob sich Nighton und sagte: »Ich beantworte dir später alle deine Fragen, aber das Teleportfenster ist schmal, und die Leitung des Internats hält es nur kurz für uns offen. Also beeil dich, ja?«
Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen, während ich aufstand und meinen Stuhl an den Tisch schob. »Du beantwortest mir freiwillig alle meine Fragen?« Ein Kichern entschlüpfte mir. »Das markiere ich rot im Kalender.«
Nighton verdrehte die Augen, aber ein schwaches Grinsen schlich sich auf seine Lippen. Ein Anblick, der mich seltsam beruhigte.
Ich stellte die Schüssel ins Spülbecken und ging ins Bad, um schnell meine Zähne zu putzen und mich anzuziehen. Während ich mich umzog, kreisten meine Gedanken um das deutsche Internat. War es wie Dun'Creld? Vielleicht ganz anders? Wie waren die Deutschen so drauf? Und was würde uns dort erwarten? Ich hoffte nur, dass wir von Katastrophen, Entführungen und Kämpfen verschont blieben. Davon hatte ich in letzter Zeit definitiv genug.
Als ich schließlich fertig und abfahrbereit war, machte ich mich auf die Suche nach Nighton. Ich fand ihn oben in der Nähe des Altars, wo er neben einem gepackten Koffer stand und auf seinem Handy eine Nachricht las. Seine Stirn war leicht gerunzelt, was mich sofort misstrauisch machte. Doch als ich mich ihm näherte, steckte er das Handy weg und lächelte mir liebevoll entgegen.
Sein Blick wanderte über mein Outfit – mein schwarz-rot-kariertes Hemd, eine schwarze, enge Jeans und die Springerstiefel, die ich so liebte.
»Aufgeregt?«, fragte er, und sein Lächeln wurde breiter.
Ich nickte. Die Aufregung kroch wie ein warmes Kribbeln durch meinen Körper, und ich spürte, wie sich mein Gesicht aufhellte.
»Sieht man. Du hast endlich mal wieder Farbe im Gesicht.«
Ich ignorierte seinen Kommentar und hakte nach: »Was war eben mit deinem Handy? Du sahst so ernst aus.«
Er winkte ab und versuchte, es leicht klingen zu lassen. »Das war nichts Wichtiges. Können wir?«
Ich beschloss, ihn später erneut zu fragen, und griff nach meinem grauen Mantel, der an der Statue von Maria hing. Dann nickte ich. Nighton streckte mir seine Hand entgegen, und während ich nach ihr griff, holte er gleichzeitig seinen Teleporter hervor. Ein mulmiges Gefühl kroch in mir hoch, aber ich ließ es zu, dass er mich an sich zog. Für alle Fälle kniff ich die Augen zu, als das Rotieren begann.
Keine Sekunde später traf uns eine heftige Böe, die mich fast umwarf. Keuchend hielt ich mich an Nighton fest, der sich sofort gegen den Wind stemmte. Der Sturm zerrte an meinen Haaren, und ich musste mir die Strähnen aus dem Gesicht wischen, um überhaupt etwas sehen zu können.
Wir standen auf einem kleinen Plateau, und der Wind peitschte über uns hinweg. Der Himmel über uns war dicht mit Wolken verhangen, die in rasender Geschwindigkeit dahinzogen. Unter uns erstreckte sich eine hügelige Landschaft, durch die sich ein breiter Fluss zog. Felder und Weinberge breiteten sich so weit aus, wie das Auge reichte. Einige der Hügel waren von dichten Laubwäldern überwuchert, und auf dem Fluss sah ich Inseln, die von Bäumen bewachsen waren. Es war kälter als in London – viel kälter.
Fröstelnd zog ich die Schultern hoch und drehte mich um, damit ich den Wind nicht mehr direkt im Gesicht hatte. Und dann sah ich sie: die Burgen.
Eine nach der anderen, wie aus einer anderen Zeit. Sie thronten auf den Hügeln entlang des Flusses, jede unterschiedlich – manche klein und kompakt in der Nähe des Wassers, andere hoch aufragend, als wären sie in die Berge selbst gehauen. Auf einigen wehten deutsche Flaggen, was dem ganzen Anblick eine fast surreale Note verlieh. Ich konnte nicht anders, als beeindruckt zu sein. Der Anblick von hier oben war atemberaubend.
Wir standen auf einem Parkplatz, der von Leitplanken umgeben war. Irgendwie belustigte mich der Gedanke, dass das Internat seinen eigenen Parkplatz hatte. Aber wo genau war es eigentlich?
Ich ließ meinen Blick schweifen. Vor uns ging es steil nach unten, also musste es woanders sein. Auf der rechten Seite des Parkplatzes verschwand eine unbefestigte Straße zwischen den Bäumen, und am linken Ende des Parkplatzes führte ein steiler Weg hinab, neben dem ein verwittertes Schild stand. Leider konnte ich das Schild nicht lesen – es war nicht auf Englisch und zudem von einem weiteren, fetten Schild überklebt.
»Was steht da?«, rief ich gegen den Wind und zeigte auf das Schild.
Nighton hob den kleinen Reisekoffer hoch und schaute in die Richtung, in die ich deutete
»Schlossführungen bis auf Weiteres abgesagt«, las er laut und trat von der Teleportplatte runter. Die Platte war geschickt in den Boden integriert und sah jetzt, wo wir runter waren, wie ein besonders hübsches Steinmuster aus. Ich folgte ihm, den Wind im Rücken, auf den Parkplatz. Kein einziges Auto war hier zu sehen.
Nighton steuerte auf das Schild zu, das wir im Vorbeigehen passierten. Ich verlangsamte meinen Schritt und beäugte es neugierig. Unter dem überklebten Schild waren mehrere Texte und Bilder, aber ich hatte keine Zeit, sie näher zu studieren – Nighton schaute sich schon nach mir um.
Der Weg, den wir nahmen, war anfangs so steil, dass ich bei jedem Schritt das Gefühl hatte, den Boden unter mir zu verlieren. Doch nach einer Weile wurde der Pfad flacher, und links und rechts öffneten sich die Bäume wie ein grünes, dämmeriges Tor. Das Licht, das durch die dichten Baumkronen drang, schimmerte in einem seltsamen Grünton, als würde der Wald das Tageslicht selbst verschlucken. Zum Glück hielt das Dickicht den Wind ab, der weiter oben an meinen Knochen genagt hatte. In den Kronen rauschte es, als flüsterten die Bäume Geheimnisse, die sie vor uns verbargen.
Rechts von uns erstreckte sich eine alte Steinmauer, von Moos überwuchert, als hätte die Natur selbst beschlossen, die Struktur zurückzuerobern. Links fiel der Weg steil ab. Der Hang war bedeckt mit Laub, verwitterten Baumstämmen und dichten Brombeersträuchern, die jeden unbedachten Schritt in einen gefährlichen Sturz verwandeln konnten. Alle paar Meter ragten hölzerne Strommasten empor, die wie stumme Wächter über den Pfad wachten. Wären da nicht die leuchtend orangenen Markierungen und die Stromkabel, hätte ich sie für besonders gerade gewachsene Bäume gehalten.
»Mir war gar nicht klar, dass du so fasziniert von Gebüsch und Baumstämmen bist«, erklang plötzlich Nightons belustigte Stimme von weiter vorne. Ich zuckte zusammen, riss meinen Blick vom Abgrund los und merkte, dass ich viel zu nahe an der Kante stand. Nighton war etwa fünf Meter vor mir stehengeblieben und sah zu mir zurück. Der Wind zerzauste sein Haar und zerrte an seinem T-Shirt, während er mich mit diesem amüsierten Ausdruck ansah, den ich zugleich liebte und hasste. Ein Teil von mir beneidete ihn, dass ihm die Kälte nichts auszumachen schien. Ein anderer Teil war bitter über diese kleine, aber beständige Erinnerung: Er war ein Yindarin, und ich war... nur ein Mensch. Diese Gedanken wollte ich heute nicht zulassen. Also schob ich das alles zur Seite, zwang mich zu einem Lächeln und beeilte mich, zu ihm aufzuschließen.
»Bin ich nicht«, entgegnete ich schnell, als ich mich bei ihm unterhakte. Seine Nähe beruhigte mich, auch wenn er unbewusst einen nervösen Blick auf den Abgrund warf, der links von uns lag. Seine Spannung entging mir nicht, und ich konnte nicht widerstehen.
»Sag mal, kann es sein, dass du Höhenangst hast?« Es war eine harmlose Frage, ohne jegliche Spitze, aber sie traf ihn trotzdem. Er drehte den Kopf zu mir und sah mich entgeistert an. »Was, ich?! Höhenangst? So ein Blödsinn!«
Das war gelogen. Nightons Ohren färbten sich rot, was immer ein verräterisches Zeichen dafür war, dass er nicht die Wahrheit sagte. Ich unterdrückte ein Kichern, als er sich hastig von mir löste und sich an das mir zugewandte Ohr griff, während er seinen Schritt beschleunigte, als könnte er der Peinlichkeit davonlaufen.
Er log, ja, ja. Und ich fand es süß.
Ich ließ das Thema fallen und beeilte mich, mit ihm Schritt zu halten. Wir erreichten bald eine kleine Kreuzung, von der ein steiler, erdiger Pfad nach unten führte. Für einen Moment befürchtete ich, Nighton würde diesen rutschigen Abhang wählen, aber er hielt glücklicherweise auf den Hauptweg zu. Ich hatte definitiv keine Lust, mich in den Tod zu stürzen.
Nach einer weiteren Kurve endete der Wald abrupt, und wir standen vor einer kurzen Asphaltstraße, die direkt auf eine Zugbrücke zuführte. Das Burgtor war offen, und zu meiner Überraschung hüpfte eine Gestalt in Ritterkostüm davor herum, schwenkte eine Fahne und rief uns irgendetwas zu. Ich blinzelte verwirrt. Was zum...?
Rechts von uns ragte eine mannshohe Mauer auf, doch beim genaueren Hinsehen war es keine Mauer, sondern eher die Seite eines kleinen Gebäudes. Die groben Flusssteine bildeten die Wände, und in die Front waren eine abgerundete grüne Tür und zwei ovale Fenster eingelassen, die durch dicke Eisenstäbe vergittert waren. Über der Tür wucherten Gras und Brombeerbüsche, als wäre das Dach selbst Teil des Waldes. Vor der Tür stand ein Schild, aber bevor ich es lesen konnte, zog der Ritter meine Aufmerksamkeit wieder auf sich.
Der Ritter – oder was auch immer diese merkwürdige Gestalt darstellen sollte – rief uns erneut etwas entgegen. Nighton schien ihn völlig zu ignorieren und ging weiter, als wäre nichts gewesen, während ich kurz unsicher stehenblieb. War das hier wirklich der richtige Ort?
»Äh, Nighton?«, rief ich zögernd. Meine Stimme wurde fast verschluckt vom Rauschen des Windes und dem Murmeln des Flusses in der Ferne. Er drehte sich zu mir um, ohne langsamer zu werden, seine Schritte selbstsicher wie immer. »Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?«
Nighton warf einen kurzen Blick auf die hüpfende Rittergestalt und hob dann nur leicht die Schultern. »Ja, das ist der richtige Ort. Lass ihn einfach... sein Ding machen.«
»Was sagt der eigentlich? Bedroht der uns?«, wisperte ich beunruhigt, während ich Nightons Blick über die Schulter bemerkte.
»Nein, der geht nur in seiner Rolle auf, keine Sorge.« Er winkte ab, als wäre es nichts.
»Aber was hat er gesagt?«, beharrte ich, denn mein Unbehagen ließ mich nicht los.
»Irgendwas wie 'Sei gegrüßt, Gesindel', wenn mein Deutsch nicht völlig eingerostet ist«, erwiderte Nighton unbekümmert.
Sein Tonfall war so entspannt, dass ich fast lachen musste. Er hatte wirklich die Gabe, in den seltsamsten Situationen völlig ungerührt zu bleiben. Ich folgte ihm, während der Ritter weiter rief, seine Stimme im Wind beinahe verloren. War ich in irgendeiner bizarren mittelalterlichen Parallelwelt gelandet? Doch als ich zu Nighton aufschloss, ließ ich das seltsame Gefühl hinter mir und konzentrierte mich auf das, was vor uns lag – die Burg, das Internat, und alles, was uns dort erwartete.
Nighton hielt plötzlich inne, ohne ein Wort zu sagen. Er zog mich sanft von der Straße und führte mich zu der grünen Tür, die mir schon vorher ins Auge gefallen war. Verwirrt schaute ich zu dem Ritter-Schausteller zurück, der uns einfach nur seelenruhig hinterhersah, als wäre es das Normalste der Welt, dass wir in dieses seltsame Haus gingen.
Nighton öffnete die grüne Tür, deren vergittertes Guckloch in der Dunkelheit glitzerte, und ließ mir den Vortritt. Kaum hatte ich die Schwelle überschritten, umfing uns ein düsterer Raum. Das schwache Licht, das durch die verdreckten Fenster fiel, schuf Schatten, die über die alten, verstaubten Regale krochen. Ein Besen und eine rostige Schneeschippe lehnten an der Wand, ein Eimer mit zerkratzter Aufschrift stand verlassen in der Ecke. Der Wind draußen heulte unaufhörlich, und irgendwo über uns knarrten die Dachbalken, als wollte das Gebäude jeden Moment einstürzen.
Ich konnte mir ein leises Glucksen nicht verkneifen und warf Nighton einen vielsagenden Blick zu, als er die Tür hinter uns schloss.
»Bisschen kalt hier drin. Und nicht gerade gemütlich.« Ich begann, mich aus meiner Jacke zu schälen, überzeugt davon, dass Nighton ähnliche Pläne hegte.
Doch sein irritierter Blick stoppte mich. Ein Augenblick später wechselte seine Verwirrung in Verständnis, und ein amüsiertes Grinsen huschte über seine Züge. Er griff nach meinem Pulloversaum, den ich bereits hochgezogen hatte, und ließ ihn wieder nach unten gleiten.
»Nein, nein, Dummerchen, deshalb sind wir nicht hier drin«, neckte er mich.
»Oh...«, war alles, was mir einfiel. Wie peinlich. Ich konnte die Enttäuschung nicht ganz verbergen, was sein Grinsen noch breiter werden ließ. Seine Augen glitten über mich, ein Blick, der mir die Schmetterlinge im Bauch aufscheuchte. Es war immer noch schwer zu glauben, dass dieser Yindarin mir gehörte – mir allein.
Doch bevor ich mich weiter in dieser wohltuenden Hitze verlieren konnte, zerriss eine körperlose Männerstimme die Stille. »Wirklich entzückend, euer Geplänkel.«
Ich zuckte zusammen, mein Herz stolperte, und ich blickte hastig um mich, doch der Raum war leer. Woher kam diese Stimme? Hastig schaute ich umher, sah aber nichts.
»Ha«, knurrte Nighton, trat ein paar Schritte zurück und schuf Abstand zwischen uns. »Mach den Zugang auf, Mortimer«, verlangte er, den Kopf in den Nacken gelegt, als würde er direkt zu der Stimme sprechen, die aus dem Nichts kam.
Die Stimme schnarrte amüsiert, ein Geräusch, das mir eiskalt den Rücken hinunterlief. »So viele verirren sich in diese Kammer, so vielen schaue ich zu. Es ist – unterhaltsam. Befremdlich, was Menschen so alles miteinander anstellen.«
Nightons Kiefer spannte sich an, und ich konnte die unterdrückte Wut in ihm brodeln sehen. »Du hast dich ja kein bisschen verändert, kleiner Widerling«, knurrte er. Die Spannung in seiner Stimme ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Es war nicht nur Wut – es war der pure Drang, diesem Mortimer etwas anzutun. Und ich kannte Nighton gut genug, um zu wissen, dass seine Fantasien in solchen Momenten sehr bildhaft wurden. Was wohl zwischen den beiden passiert war?
Die Stimme lachte, dieses Mal freudloser, kälter. »Dafür hast du dich umso mehr verändert. Aber nun ja, genug geplaudert. Willkommen im Schlund vom Fliedermeer, ihr zwei Turteltäubchen!«
Plötzlich rumorte es hinter uns, und das leise Rauschen von Wasser auf Stein füllte den Raum. Nighton und ich drehten uns gleichzeitig um, doch auf den ersten Blick schien sich nichts verändert zu haben. Oder doch? Die Luft fühlte sich dichter an, als hätte sich der Raum selbst verschoben.
»Turteltäubchen nennt er uns! Früher hätte ich ihm die Zunge rausgerissen und ihm gezeigt, wie unterhaltsam ich wirklich sein kann! Verdammter Keeper!«, stieß Nighton durch zusammengebissene Zähne hervor, und eine dunkle Grimasse verzerrte sein Gesicht.
Ich schluckte und schaute an die Decke. Meine Gedanken waren noch bei der verstörenden Stimme, die uns beobachtet hatte.
Dann trat er auf die Tür zu. Mir jedoch geisterte etwas anderes im Kopf umher.
»Gottseidank hast du mich davon abgehalten, dass ich mich ausziehe«, murmelte ich, während mir bei dem Gedanken, jemand könnte uns zusehen, die Röte ins Gesicht schoss.
Nighton schob die Tür auf, doch er schien meine Worte nicht einmal gehört zu haben – oder er ignorierte sie absichtlich. Das war mir aber auch recht. Sein Schweigen verriet mir, dass er ganz woanders war, wahrscheinlich in dem Gedanken, Mortimer etwas anzutun, das ich mir nicht einmal vorstellen wollte.