Den Abend verbrachte ich allein. Ich konnte einfach keine Nähe ertragen, schon gar nicht von Nighton. Auch wenn ich wusste, dass er mir nur hatte helfen wollen – die Erinnerung an seine Hand an meiner Kehle ließ mein Herz allein bei seinem Anblick schneller schlagen. Zum Glück respektierte er meinen Freiraum, aber natürlich hieß das nicht, dass er mich aus den Augen ließ. Er schlich in der Nähe herum, sein Blick fühlbar auf mir ruhend, und das allein reichte, um meinen Puls schon wieder zu beschleunigen.
Leider zog mich meine Unruhe zum Beichtstuhl, wo der Weinvorrat lagerte. Es war ein Kampf, die Finger von der Flasche zu lassen, aber irgendwie schaffte ich es und hielt durch. Im Nachhinein war ich sogar stolz darauf, dass ich mich nicht hatte gehen lassen. Doch nach dem Abendessen blieb mir mehr Zeit zum Nachdenken, als mir lieb war.
So froh ich auch über die Entwicklung zwischen Nighton und mir war, konnte ich den Gedanken nicht abschütteln, dass dieses ständige Aufpassen und Behüten nicht ewig so weitergehen konnte. Er mochte jetzt hier sein, aber wie lange würde das so bleiben? Was, wenn die Zwillinge auch in einem Jahr nicht lockerließen? Nighton konnte doch nicht die nächsten fünfzig Jahre jede Minute neben mir stehen, mich vor Selenes Schergen beschützen und sein eigenes Leben riskieren!
In meinen Augen gab es nur zwei Wege aus dieser Situation: Entweder würden sie mich irgendwann doch kriegen, oder Selene musste fallen. Und was von beiden wahrscheinlicher war, konnte ich mir ja selbst ausrechnen.
Um mich abzulenken – sowohl von der Gedankenspirale als auch von der bohrenden Erinnerung an Dorzar –, setzte ich tatsächlich noch an diesem Abend das Sportprogramm um, das Nighton vorgeschlagen hatte. Schon nach den ersten Sätzen fluchte ich innerlich und hätte am liebsten hingeschmissen, aber Aufgeben kam für mich nicht infrage. Also zog ich diesen anstrengenden Horror allein im schummrigen Schlafzimmer in der untersten Etage durch, immer wieder an meine eigenen Grenzen stoßend.
Später, als ich endlich unter der Dusche stand, wurde mir klar, dass ich morgen jeden einzelnen Muskel spüren würde. Trotzdem – Nighton hatte recht. Wenn ich wirklich mit ihm auf Missionen gehen wollte, musste ich da durch.
Als ich am nächsten Morgen aufstand, waren die dunklen Dorzar-Wolken in meinem Kopf bereits etwas verblasst. Nighton ging anfangs vorsichtig mit mir um, aber als ich ihm klarmachte, dass ich wieder okay war, sah ich die sichtbare Erleichterung in seinem Gesicht. So nahm der Tag seinen üblichen Lauf, genauso wie die Tage davor. Mein Muskelkater war höllisch, doch ich zwang mich an jedem darauffolgenden Abend, das Training durchzuziehen und mich auch im Schießen zu üben – was, um ehrlich zu sein, immer noch kläglich ausfiel. Nighton meinte, ich solle lieber langsam machen, bevor ich mir einen Muskelfaserriss holte, aber ich hatte es eilig, besser zu werden. Fast jedes Mal hatte ich Zuschauer. Sogar Eloria und Jason waren einmal mit von der Partie.
Am Donnerstag der folgenden Woche, kurz vor Weihnachten, endete dieser mühsam aufgebaute Alltagstrott jedoch abrupt. Vielleicht hätte ich die Tage, an denen ich weder verschleppt noch bedroht, gefoltert, gequält, gefangen genommen oder anderweitig verletzt wurde, im Kalender markieren sollen. Tja.
Nighton war an diesem sonnigen Wintertag nach Oberstadt aufgebrochen, weil die werte Oberste nach ihm verlangt hatten. Natürlich war ich nicht allein – Evelyn war bei mir. Nighton hatte ihr streng eingeschärft, mich nicht aus den Augen zu lassen, was sie mit einem genervten Aufseufzen quittiert hatte, genau wie ich. Penny war ebenfalls in Oberstadt bei den Seraph, Sam besuchte seinen Bruder, um seine Töle abzuholen, und Eloria war, wie auch Gil, nicht in der Kirche. Jason trieb sich wahrscheinlich irgendwo herum, wo es ihm beliebte – die Kirche mied er neuerdings immer häufiger, wahrscheinlich war ihm dort einfach zu viel Trubel.
Der Vorfall ereignete sich dann gegen viertel vor neun am Abend. Aus den Lautsprechern der Kirche dröhnte The Sacrament von HIM, und ich quälte mich mit meinen verfluchten Mathe-Hausaufgaben. Dieses Fach war wirklich ein Kreuz! Was sollte ich schon jemals mit diesen komplizierten Rechnungen anfangen? Für mich stand sowieso fest, dass ich mir niemals einen Job suchen würde, bei dem ich solche Zahlenakrobatik jemals brauchen würde.
Während ich also leise vor mich hin fluchte und die Augen rollte, passierte es: Etwas Riesiges krachte durch das Buntglasfenster über dem Altar. Ein ohrenbetäubender Knall erfüllte die Kirche, als etwas auf dem Couchtisch landete, der in tausend Teile zersplitterte. Der Schreck ließ mein Herz fast stehen bleiben, und ich saß wie erstarrt da, während Glassplitter überall auf den Boden regneten.
Dann überschlug sich alles in einem chaotischen, brutalen Strudel. Evelyn, die eben noch auf dem Sofa gelegen und Chips gefuttert hatte, war plötzlich auf den Beinen. Ich hatte nicht einmal Zeit, zu reagieren, bevor sie mich schon vom Stuhl riss und hinter die Sofalehne schubste. Ich landete hart auf dem Boden, der Aufprall presste mir die Luft aus den Lungen. Evelyn stürzte sich ohne zu zögern auf das Etwas, das mit solch tödlicher Wucht in die Kirche gekracht war. Keuchend hob ich den Kopf und lugte über die Lehne.
Inmitten der Trümmer des Couchtisches erhob sich ein riesiger, muskelbepackter Wolfsmensch, sein schneeweißes Fell leuchtete gespenstisch im schwachen Licht, und sein Maul war so groß, dass es problemlos meinen Kopf hätte umschließen können. Für einen Moment schoss mir Serges Name durch den Kopf, doch dessen Fell war dunkel – das hier war ein anderer. Ein anderer Wolf, und der Blick in seinen blutunterlaufenen Augen verriet mir alles, was ich wissen musste: Er wollte mich.
Evelyn reagierte mit einer Geschwindigkeit und Kraft, die ich selten bei ihr gesehen hatte. Sie wich seinen ersten Prankenhieben elegant aus, drehte sich und schlug ihm mit aller Kraft in die Seite, dass er krachend gegen die Kirchenbänke prallte. Doch der Wolfmensch kam zurück, knurrend und unermüdlich, seine Augen fest auf mich gerichtet. Er war hier wegen mir – und nichts, was Evelyn tat, schien ihn davon abhalten zu können.
Mit einem Satz schloss der Wolf die Distanz zu uns. Evelyn warf sich erneut dazwischen, streifte ihn an der Flanke und ließ ihn kurz ins Wanken geraten. In einer weiteren Drehung packte sie seinen Arm und schmetterte ihn mit einer unglaublichen Wucht gegen den Beichtstuhl. Doch der Wolfmensch erhob sich erneut, diesmal noch wütender. Er packte Evelyn, schmetterte sie beiseite, und die Wucht warf sie kurz aus dem Gleichgewicht. Einen Augenblick später war er wieder bei mir, sein Blick wild und gierig.
Evelyn raste erneut heran, diesmal entschlossen, ihm ein für alle Mal Einhalt zu gebieten. Sie packte ihn an der Schulter, nutzte seine eigene Wucht und schleuderte ihn zurück, doch im Strudel der Bewegung geriet sie zu nah an sein Maul. Der Wolfmensch packte sie in einem brutalen Reflex und vergrub seine Zähne tief in ihrer Flanke, riss mit einem grausamen Ruck ein Stück Fleisch heraus. Evelyns Schrei gellte durch die Kirche, ein schmerzerfülltes Heulen, das von den Wänden widerhallte. Blut spritzte in alle Richtungen, ich spürte die heißen Tropfen auf meiner Haut und kämpfte gegen die Ohnmacht an.
Doch Evelyn ließ sich nicht unterkriegen. Trotz des tiefen Bisses schob sie ihn von sich weg und wirbelte erneut um ihn herum. Mit einem letzten, rasenden Schub packte sie ihn und warf ihn über sich hinweg. Der Wolf flog in hohem Bogen durch das Kirchenschiff und krachte mit voller Wucht in den massiven, gotischen Kamin. Flammen und Funken stoben auf, als er versuchte, sich zu retten, während das Feuer sein Fell ergriff. Sein qualvolles Jaulen erfüllte die Luft, als der Wolf brennend aus den Flammen sprang, seine weißen Fellbüschel glühend und verkohlt. Er hechtete wild umher, bis er schließlich mit einem letzten mächtigen Satz durch das zerschmetterte Buntglasfenster entwischte und heulend in der Dunkelheit verschwand.
Ich blieb wie erstarrt hinter dem Sofa liegen, zu schockiert, um zu reagieren. Meine Gedanken stolperten über sich selbst, während mir allmählich die Tragweite des Angriffs bewusst wurde. Warum jetzt? War das ein Angriff der Zwillinge, die auf den Moment gelauert hatten, da Nighton nicht da war? Der Angriff fühlte sich wie ein gezielter Schlag ins Herz unserer Schwachstelle an.
Doch Evelyns schmerzverzerrte Laute holten mich zurück in die Wirklichkeit. Ich rappelte mich auf und stolperte zu ihr. Sie war zu meiner Rechten zu Boden gesunken, ihre Hand presste sie gegen die blutende Flanke, das Blut rann ihr in Strömen durch die Finger.
»Verdammte – Scheiße!«, stieß sie zwischen den Zähnen hervor. Ihre Stimme zitterte vor Schmerz.
Ich starrte fassungslos auf die klaffende Wunde, die so groß und tief war, dass mir übel wurde.
»Evelyn, ich – ich…«, stammelte ich. Das viele Blut ließ meine Gedanken wirr werden. Sie brauchte Heilung oder – oder… ein Pflaster? Ich fühlte mich hilflos und panisch, was sollte ich nur tun?
»I-Ich hole Nighton!« war das Einzige, was mir einfiel, doch Evelyn fauchte: »Nein, du gehst nicht allein da raus! Das wollen die doch! Wir warten, bis Nighton zurück ist. Los, hol mir ein Handtuch und Eis! Und mach schnell!«
Erleichtert, dass ich wenigstens etwas tun konnte, sprang ich auf und rannte quer durch die Kirche, bis ich alles Nötige zusammengesucht hatte. Als ich zu Evelyn zurückkehrte, saß sie auf dem Sofa, ihre Hand fest auf die Wunde gepresst, ihr Gesicht war vor Schmerz weiß wie die Wand.
»Du stirbst doch nicht, oder?«, fragte ich ängstlich und reichte ihr Handtuch und Eis.
»Blödsinn!«, zischte Evelyn, dann schnappte sie sich beides und drückte sich das in das Handtuch gewickelte Eis auf die klaffende Wunde. »Und wenn doch, dann kehre ich zurück, um mich an dir zu rächen, weil du schuld dran wärst!«
»Ich?«, stieß ich entrüstet hervor.
»Ja, wenn du nicht immer im verdammten Mittelpunkt stehen würdest, hätten wir anderen es deutlich leichter!«, fauchte sie, auch wenn ich den schmerzhaften Ausdruck in ihren Augen sah.
Ich ließ die Schultern hängen und setzte mich neben sie. »Denkst du, mich lässt das kalt? Ich will doch auch nicht, dass euch was passiert!«, murmelte ich, und ein vertrautes Brennen stieg mir in die Augen.
Plötzlich öffnete sich das Portal hinter uns mit einem lauten Knarren. Evelyn und ich fuhren erschrocken zusammen, doch zu unserer Erleichterung war es nur ein völlig ahnungsloser Nighton. Als er das Chaos erfasste – die zerborstene Fensterscheibe, die Blutspuren auf mir und Evelyns schmerzerfülltes Gesicht – blieb er abrupt stehen.
»Was ist passiert?«, rief er entsetzt und war im nächsten Moment schon bei uns. Sein Blick fiel auf das Blut auf mir und Evelyn. Allerdings schien er zu merken, dass es nicht meins war, denn da kniete er sich schon neben Evelyn auf die Couch, seine Augen suchten ihre Verletzung. »Evelyn, wach bleiben! Was ist passiert?« Er schüttelte sie leicht an der Schulter, und Evelyn knurrte ihm schwach entgegen. Sie war zu erschöpft, um viel zu sagen, also übernahm ich und stotterte eine hastige Erklärung, in der sich meine Worte überschlugen. Nightons Blick sprang immer wieder zwischen Evelyn, dem zerschmetterten Fenster und dem Kamin hin und her, und als ich endete, schlichen sich Verzweiflung und Zorn in seine Miene.
»Ich kann dich wirklich nicht aus den Augen lassen«, ächzte er entgeistert. »Es ist, als würden die Zwillinge die Schlinge immer enger ziehen. Verdammt!« Er fluchte laut und trat wütend gegen die zerbrochenen Reste des Couchtisches.
»Ja, kümmert euch nur um eure Dramen, ich verblute ja bloß hier unten«, kam es schwach von Evelyn. Ihre Stimme klang bereits heiser und schwach, und sofort zog sich mein Magen zusammen. Ich zeigte auf Evelyn und sah Nighton verzweifelt an. »Sie muss sofort nach Oberstadt! Der Biss ist riesig, Nighton, sie braucht Heilung!«
Nighton beugte sich hinunter, um das Handtuch wegzuziehen und die Wunde selbst zu begutachten, doch Evelyn knurrte ihn erneut an, ihre Zähne gebleckt.
»Finger weg, du kannst mich nicht heilen!«, zischte sie scharf.
»Evelyn-«, begann Nighton, doch sie schnitt ihm das Wort ab.
»Nein!«, knurrte sie und richtete sich auf, die Zähne zusammengepresst vor Schmerz. »Ich bin nicht deine zarte Jennifer, ich brauche dich nicht, ich brauche niemanden!« Sie funkelte ihn an, aber ihre Beine zitterten unter ihr. »Lasst mich durch, ich… ich muss – ich muss…«
Noch während sie sprach, begann sie zu schwanken. Ihre Augen verdrehten sich, und ohne ein weiteres Wort fiel sie bewusstlos nach vorne. Nighton fing sie im letzten Moment auf und hob sie hoch. Sein Gesicht war angespannt und voller Sorge.
»Du kommst auch mit!«, befahl er mir ohne Zögern, Evelyns schlaffen Körper im Arm haltend.
Als ob ich mit etwas anderem gerechnet hätte! Wir brachten die verletzte Evelyn nach Oberstadt zu Gabriel. Wir ließen sie in seiner Obhut und kehrten danach schweigend in die Kirche zurück. Dort begannen Nighton und ich, das Chaos aufzuräumen. Das zertrümmerte Buntglasfenster, der zersplitterte Couchtisch und das Blut, das noch auf dem Boden klebte, waren stumme Zeugen des Angriffs, der mir den Magen zuschnürte. Während Nighton die Scherben einsammelte, war er ungewöhnlich still und versunken, die Stirn in Falten gelegt, und auch ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Es lag eine unausgesprochene Erkenntnis zwischen uns, schwer und unerbittlich: Solange die Zwillinge aktiv Jagd auf mich machten, würde es für uns keine ruhige Minute geben.
Vielleicht waren wir dran, in die Offensive zu gehen?