- Nighton -
Etwas Undefinierbares regte sich tief in meiner Kehle und löste einen heftigen Würgereflex aus. Meine Augen rissen auf, mein Körper schnellte nach oben – nur um sofort zur Seite zu kippen und mich mit einem wuchtigen Schwall zu übergeben. Luft, ich brauchte Luft. Keuchend schob ich mich in eine sitzende Haltung.
Ein feuriger Schmerz brannte in meinem Hals, und ich schmeckte Blut. Kurz schloss ich die Augen, versuchte, wieder Herr über meinen Kopf, meinen Körper und diesen verdammten Moment zu werden. Ein dumpfes Rauschen legte sich über alles und drängte sämtliche Geräusche in die Ferne.
Was … war gerade passiert? Ohnmächtig? Ich? Wie konnte das sein?
Langsam öffnete ich wieder die Augen und sah nur … Chaos. Die Kirche war ein Schlachtfeld. Überall Trümmer, ein riesiges Loch im Dach, durch das es hereinschneite, und hier und da züngelten ein paar kleinere Flammen. Gil stand neben mir und redete, doch ich hörte nichts, denn ich war viel zu sehr damit beschäftigt, nach einer gewissen Person Ausschau zu halten. Evelyn kämpfte sich gerade unter dem umgestürzten Fernseher hervor und ich konnte sehen, wie Sam sich benommen zwischen einigen Dämonenleichen am Eingang erhob. Nur sie sah ich nicht. Jennifer.
Ein Schock, heiß und schmerzhaft wie glühendes Metall, schoss durch mich hindurch. Wo war sie? Sie konnte nicht…
»Jennifer?!«, rief ich panisch, während ich aufsprang - was ein Fehler war. Die Welt drehte sich wie ein Karussell aus Dunkelheit und Licht. Ich klammerte mich an die Sofakante und hielt mich fest, um nicht wieder zu Boden zu stürzen.
Gil zerrte an meinem Arm, redete auf mich ein, doch alles, was ich spürte, war eine neue Welle Übelkeit. Ich krümmte mich nach vorn, und diesmal war es frisches Blut, das meine Lippen verließ. Blut, dem etwas grünlich Glitzerndes anhaftete. Was … zum …?!
Yagransin,
stöhnte Sekeera erschöpft in meinem Kopf. Ich hörte sie kaum, so sehr kämpfte ich damit, einfach aufrecht zu bleiben. Doch ihr Wort traf mich, und es begann zu dämmern.
Was? Woher – wie – Sekeera, was ist passiert?!
Der Wein. Es muss im Wein gewesen sein,
kam ihre Stimme, leise und voller Dunkelheit. Ihr Zorn und ihre Angst spiegelten meine eigenen Gefühle wider, verstärkten sie noch.
»Wo ist sie? Jennifer!« Mein Blick irrte umher, und meine Hände fingen an zu zitterten. Ich spürte sie nicht, nahm ihre Signatur nicht wahr, aber - sie musste doch irgendwo sein!
»Jetzt hör mir endlich zu, Yindarin! Das will ich dir doch schon die ganze Zeit sagen!« Gils Griff an meinem Arm wurde härter, seine Stimme lauter. Erst jetzt sah ich ihn flach durch die Nase atmend an.
»Die Engelsfrau, die, mit der ihr aus Deutschland zurückkamt - sie hat sie. Und sie sind weg.«
Zunächst begriff ich nichts, starrte Gil einfach nur fassungslos an. Doch dann fiel mein Blick auf die Blutpfütze zu meinen Füßen – und Sekeera rechnete schneller als ich. Wie ein brutaler Sturm übernahm sie die Kontrolle und flutete mich in einer Woge aus Zorn und Misstrauen. Noch bevor ich richtig wusste, was geschah, packte meine Hand Gils Hals und rammte ihn mit voller Wucht gegen die Kirchenwand.
Er konnte nicht einmal reagieren. Röchelnd und mit entsetzten Augen versuchte er, meine Hand von seiner Kehle zu lösen.
VERRÄTER, ALLE BEIDE! SIE HABEN SIE DEN ZWILLINGEN AUSGELIEFERT!
Sekeera spie förmlich in meinem Kopf, und ich konnte ihren Zorn in jeder Faser meines Körpers spüren.
Das passte zu gut. Bestimmt arbeiteten Gil und Eloria zusammen... immerhin waren sie zeitgleich hier angekommen. Sie hatten Jennifer den Zwillingen übergeben – irgendeine Art von Deal, ein verdammter Verrat. Meine Finger gruben sich tiefer in Gils Hals, während Sekeera mir die Kontrolle zurückgab, erkennend, dass ich in diesem Moment genauso wild entschlossen war wie sie.
BRING IHN UM!
»Steckst du da mit drin? Sind sie in Harenstone?!«, brüllte ich den Dämon an. Ein Hass, glühend und rein, strömte durch meine Adern. Am liebsten hätte ich ihm hier und jetzt das Leben aus dem Körper gepresst, auch ohne sicheren Beweis.
Hinter Gil knackte der Stein und bröckelte unter dem Druck meiner Hand. Sam brüllte im Hintergrund meinen Namen, doch ich ignorierte ihn.
»Antworte mir, oder ich schwöre, ich-«
»Ich weiß von nichts, verdammt!« Gil röchelte und schlug panisch gegen meinen Arm. Mein Blick bohrte sich noch für einen Moment in ihn, dann ließ ich ihn abrupt los. Er sackte gegen die Wand, krümmte sich hustend und hielt sich die Kehle.
Du lässt ihn los? Warum? Du Schwächling! Er soll leiden, TÖTE IHN!
»Nighton, bitte, ich brauche deine Hilfe!« Sams Stimme zerrte mich aus dem Nebel aus Wut und Rache.
Widerwillig drehte ich mich zu ihm um. Er kniete neben Penny, und Evelyn beugte sich entsetzt über sie, den Blick auf etwas geheftet, das ich von hier aus nicht erkennen konnte. Erst als ich auf das blutige Chaos neben ihnen zulief, sah ich, wie Penny reglos am Boden lag. Zwei tiefe Schnitte, durch ein Klauenpaar verursacht, zogen sich von ihrer Stirn bis hinab zur Kehle. Blut tränkte ihren Brustkorb und tropfte auf die Planken.
»Scheiße!« Das Wort entkam mir wie ein Schlag. Verzweiflung brodelte in mir. Ich wollte Jennifer finden, am liebsten sofort – aber Penny war hier, verblutete vor meinen Augen.
Was kümmert uns das Warndreieck? LOS, lass sie, sollen die anderen sich kümmern! Jennifer, es geht nur um sie, sie ist weg, hast du das schon vergessen?!
Meine Hände ballten sich, und ich sog scharf die Luft ein. Dann rang ich meine Wut in beherrschte Anweisungen: »Ihr zwei bringt Penny sofort nach Oberstadt zu Gabriel. Ich gehe Jennifer suchen.«
Sam nickte und hob Penny vorsichtig hoch.
»Aber du weißt doch nicht einmal, wohin Eloria sie gebracht hat!« Evelyns Stimme zitterte, doch ich ignorierte ihren Zweifel, zog nur eine finstere Miene und krempelte meine Ärmel hoch. »Es gibt nur einen Ort, an dem sie sein kann«, entgegnete ich mit fester Stimme. »Passt auf euch auf, und wenn Penny stabil ist, bleibt in Oberstadt. Wir kommen nicht hierher zurück, verstanden?« Beide nickten wortlos.
Sekeeras Ungeduld und Angst vibrierten in mir, wollten mich zwingen, den letzten Rest Ruhe zu verlieren. Aber ich durfte jetzt nicht weiter ausrasten – noch nicht. Ich musste unbedingt einen kühlen Kopf bewahren.
Nie hätte ich geglaubt, dass uns jemand aus den eigenen Reihen verraten könnte. Und dann ausgerechnet eine, die am Gipfel teilgenommen hatte. Eloria, diese gottverdammte Heuchlerin! Es schien alles so absurd, so lächerlich. Warum hatte ich nicht genauer hingeschaut, jetzt, wo jeder Tag Jennifers letzter sein könnte? Ich hatte Elorias Blicke abgetan, sie mir als unwichtig erklärt. Jennifer hatte es gespürt, und meine Aufgabe wäre es gewesen, das zu überprüfen. Da hatte ich versagt. Wie schon bei so vielen Dingen. Und dieser hinterhältige Zug mit dem Yagransin! Allein der Gedanke daran ließ das Blut in mir sieden. Woher hatte Eloria überhaupt gewusst, dass Yagransin Sekeeras Schwachpunkt war?
Und Gil? Sagte er die Wahrheit? Er stand abseits, rieb sich mit unwohler Miene die Oberarme und warf mir hilflose Blicke zu. Meine Hände ballten sich, und Wut stieg wie schwarzes Gift in mir auf, verkrampfte meine Muskeln und pochte in meinen Schläfen. Nein – nicht jetzt. Um ihn konnte ich mich noch später kümmern. Jennifer hatte Vorrang. Ich musste mich beeilen!
Ich sog scharf die Luft ein und sah hinauf zum Loch in der Decke. Eine Idee entstand in meinem Kopf. Sollte ich...? Konnte ich es überhaupt? In meinem Kopf spüre ich neben Sekeeras Ungeduld auch einen Anflug von Häme aufbranden.
Ernsthaft? DU willst ihr hinterherfliegen?
Sekeera stieß ein schneidendes Lachen aus, das sich in meinem Kopf brach.
Unfassbar, dass du Höhenangst hast. Ein Yindarin, verängstigt in der Luft … lächerlich. Wieder einmal ein Beweis dafür, dass du meiner nicht wert bist!
Halt endlich den Mund, Sekeera, du bist alles andere als hilfreich!, antwortete ich ihr schließlich innerlich, während ich mit den Zähnen knirschte, weiter nach oben durch das Loch starrte und das brodelnde Unwohlsein ignorierte, das mir in die Glieder gekrochen war.
Plötzlich stand Gil neben mir, die Anspannung stand ihm förmlich ins Gesicht geschrieben. »Ich beweise dir, dass ich nichts mit dem Engel zu tun habe, wenn du willst. Lass mich mitkommen!« Er versuchte, meinen Blick zu fangen. »Ich habe nichts getan, ich verstehe nicht, warum Eloria–«
Aber ich hatte weder Zeit noch Geduld für Erklärungen. »Dann los!«, fauchte ich, sprang abrupt aus der Ruine ins Freie und nahm Kurs. Mein Ziel stand fest, und Gil folgte mir.
Schneeflocken wirbelten wie Nadeln in der Luft und stachen in mein Gesicht, doch das spürte ich kaum. Alles, was ich wahrnahm, war der Gedanke an Jennifer. Wir rannten wie Schatten durch die verwaisten Straßen Londons, unsichtbar und zu schnell, um wahrgenommen zu werden. Ein Blitzer an einer Kreuzung blitzte auf, aber es war zu viel für das Ding – im Vorbeirennen hörte ich ein Knacken und roch kurz den beißenden Geruch verschmorter Kabel, ehe wir schon um die nächste Ecke jagten.
Sekeera hatte aufgehört, mich mit ihrem Zorn zu überfluten, und mir stattdessen ihre Sinne überlassen. Ich lauschte jedem Hauch, jedem verdammten Laut aus dem Himmel, in der Hoffnung auf das Geräusch von Flügelschlägen – irgendetwas, das bedeutete, dass Jennifer noch da draußen war, noch nicht in den Fängen der Zwillinge. Doch der Sturm verschlang alle Geräusche und ließ nichts als die erstickende Stille und die Dunkelheit zurück. Nicht mal meine hochsensiblen Sinne als Yindarin nützten etwas.
Minutenlang – vielleicht fünfzehn, vielleicht eine Ewigkeit – hetzten wir durch das verschneite London, über Felder und Waldwege, über eine Autobahn und durch ein Flussbett, bis wir auf eine eingeschneite Straße stießen, die nach Harenstone führte. Die eisige Kälte biss mir ins Gesicht, Schneeflocken klammerten sich an meine Haut, aber meine Übernatürlichkeit und vor allem die Angst hielten mich warm. Sie hielt mich bei Sinnen. Sie war der einzige Gedanke, der klar genug war, um alles zu durchdringen. Jennifer musste noch am Leben sein. Sie musste.
Endlich tauchte das verlassene Harenstone vor uns auf, wie ein finsterer Schatten in der Nacht, verschluckt von der Schneewand. Kein Licht war zu sehen, nichts rührte sich. Sekeera konnte gerade noch den Geruch der Verräterin in der Luft wahrnehmen. Sie waren hier gewesen – erst vor kurzem.
Verdammt noch mal, mach schneller!
Sekeeras Drängen schnitt durch meinen Kopf. Ich stürmte durch das knirschende Tor und die Einfahrt hoch zur Veranda. Ohne zu zögern trat ich mit voller Kraft gegen die Tür, die mit einem Krachen aus ihren Angeln flog und gegen die Treppe im Flur krachte.
Kaum war ich über die Schwelle getreten, traf mich das Gefühl wie ein Schlag in den Magen. Die Luft war statisch, roch nach Schwefel – ein Zeichen, dass dämonische Kräfte entfesselt worden waren. Risse durchzogen die Wände, aber Sekeera konnte keine Spur irgendeiner Anwesenheit mehr feststellen. Die Welt zog sich zusammen, schrumpfte auf einen winzigen Punkt.
Jen... nein.
Mit einem Satz erreichte ich die Kellertür, die offenstand, und stürzte die Treppe hinunter. Unten hielt ich entsetzt an. Die Wand … sie war weg! Verschwunden, als hätte sie nie existiert.
Sekeeras Schrei durchdrang die Stille in meinem Kopf, während ich mit einem Krampf in der Kehle auf die glattpolierte Linie am Boden starrte, die die Kellerräume getrennt hatte. Sie war hier gewesen. Eben noch, wahrscheinlich. Wäre ich doch nur nicht zu spät gekommen.
Sie haben sie! Sie haben meine Jennifer!,
heulte Sekeera vor Wut. Im Hintergrund trat Gil heran und ging neben einer verschmierten Kreidezeichnung auf dem Kellerboden auf die Knie. »Ein alt-yphemischer Bannkreis«, murmelte er, doch die Worte prallten an mir ab. Mein Herz raste, schmerzhaft wie Nadeln, die mir in die Brust stachen. Lebte sie noch? Konnte sie das überleben? Der Gedanke, was Riakeen und Dorzar ihr angetan haben könnten, grub sich in meinen Kopf und zerfraß ihn. Wo waren sie jetzt? Und wie sollte ich sie bloß finden? Unterstadt war riesig! Vielleicht gab es ja irgendwo Hinweise auf ihren Verbleib?
Den Bannkreis anstarrend, presste ich die Worte fast zwischen den Zähnen hervor: »Hier stand eine massive Steinwand. Wir müssen herausfinden, wo die hin ist. Such nach Zeichen, Hinweisen, es muss etwas geben!«
Gil deutete auf den Boden, auf winzige, kaum sichtbare Spritzer. Blutspritzer, die sich allein auf der schmutzigen Seite des Kellers verteilten. Ohne zu zögern ging auch ich in die Knie, lehnte mich vor und sog den metallischen Geruch ein. »Vielleicht liegt die Antwort hier drin? Sowas habe ich schon öfter gesehen«, überlegte Gil.
Sekeera wimmerte in meinem Kopf.
Eindeutig ihres. Ich würde diesen Geruch über Meilen hinweg erkennen.
Ich weiß, dachte ich und hielt den Atem an, den Kloß in meinem Hals herunterkämpfend. Ich sah zu Gil hinüber. »Das ist ihr Blut«, brachte ich hervor. Meine Stimme klang heiser und kaum kontrolliert.
Gil richtete sich auf, die Hände in die Seiten gestemmt, seine Miene war unerwartet entschlossen. »Nicht die Pferde scheu machen, Großer. Ihr geht es bestimmt gut. In der kurzen Zeit, in der ich sie an der Backe hatte, habe ich eins über dieses Menschenmädchen gelernt: Sie lässt sich durch nichts und niemanden unterkriegen.«
Ich schüttelte den Kopf, unfähig, die Angst, die Wut und den nagenden Zweifel abzuschütteln. »Ich weiß nicht. Sie hat so viel hinter sich. Zu viel. Und die Zwillinge oder Selene … die werden keine Gnade zeigen.«
»Hör mal, Yindarin.« Gils Stimme wurde sanfter, eine seltsame Mischung aus Respekt und Geduld, die ich so nie von ihm erwartet hätte. »Jennifer hat es bis hierher geschafft, richtig? Trotz allem. Du weißt genau, dass sie kämpfen wird, egal gegen wen oder was. Sie hat …« Er zögerte, blickte kurz weg und schien nach Worten zu suchen. »Sie hat dir vertraut, dass du sie beschützen wirst, oder? Dann tu das auch. Krempel die Ärmel hoch, und fang an.«
Ich ließ die Worte auf mich wirken, aber der Zweifel blieb – ein eisiger Knoten in meinem Inneren, der nicht verschwinden wollte. »Ich … ich weiß nicht mal, wo ich anfangen soll.«
»Genau hier«, erwiderte Gil fest und deutete auf unsere Umgebung. »Sie wird in Unterstadt sein. Ein Primal braucht dämonische Atmosphäre. Ohne die kollabiert er.«
Vielleicht ist er doch auf unserer Seite,
überlegte Sekeera.
Das habe ich mir auch schon gedacht, stimmte ich zu.
»Gil, es … das eben … das mit deinem Hals…«
Ein schiefes Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. »Ach, keine Sorge, ich vergesse schnell. Und na ja, du warst … sagen wir, ein bisschen angespannt. Zurecht. Ich bin noch nicht lange mit von der Partie. Wir kennen uns praktisch kaum.« Seine Augen flackerten in Richtung der Treppe. »Kommen wir zur Sache, ja? Ich bin hier, um zu helfen.«
Ich nickte ihm dankbar zu, die Worte nicht laut aussprechend, aber wissend, dass er es verstand. In diesem Moment scholl ein leises Geräusch von oben durch das knarrende Haus.
Sofort wanderte mein Blick zur Decke. Da oben war jemand. Eine Frau. Gil schien es auch zu bemerken, aber ich reagierte schneller. In weniger als einer Sekunde war ich die Treppe hinaufgeschossen, aus dem Keller und in den Flur, wo ich direkt mit ihr zusammenstieß – Eloria. Sie war noch hier? Warum? Hatte sie uns nicht bemerkt?
Doch ich war der Einzige, der sich um das Warum scherte. Sobald Sekeera Eloria erkannte, bäumte sie sich in mir auf.
SIE! TÖTE SIE!
Ihre Stimme donnerte in meinem Kopf, ein Drängen, das meine Wut in einen glühenden Sturm verwandelte.
»WO IST SIE?!«, brüllte ich Eloria ins Gesicht. Doch Eloria lächelte nur. Es war ein höhnisches Grinsen, das mir die letzten Nerven zerriss.
Mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte, packte ich den Engel und schleifte sie aus dem Haus hinaus auf den Kiesparkplatz. Ich schleuderte Eloria von mir, baute mich vor ihr auf, während sie sich über die Schulter abrollte und auf allen Vieren zum Stillstand kam. Ihre Tattoos flammten in grellem Licht auf, und Adern traten an ihren Schläfen hervor, als sie keuchend aufblickte.
»Du bist leider zu spät, Yindarin.« Sie lachte weiter, ihr Blick voller Verachtung.
Verzweiflung wuchs in mir, bohrte sich wie Gift in meine Knochen. Wie lange schon hatte sie das mit den Zwillingen geplant? Seit wann diente sie Selene?
Zeig ihr, wer wir sind!,
fauchte Sekeera. Und ich war bereit, ihr zu gehorchen. Ohne einen weiteren Gedanken sprang ich auf den Engel zu, und in einem einzigen, gnadenlosen Ruck riss ich sie zu Boden. Der Aufprall ließ den Schnee um uns herum aufwirbeln. Eloria konnte sich nicht befreien. Mit eiserner Kraft drückte ich sie in den Boden, ihre Arme unter meinem Griff eingeklemmt, ihr Körper zitternd unter der Last. Ich starrte auf sie hinab, sah das Lächeln, das noch immer an ihren Lippen haftete, als könnte sie den Schmerz ertragen, als würde sie mir trotzen. Doch dieser Hochmut, dieser letzte Rest Stolz – den würde ich ihr nehmen.
»Ich will wissen, wo sie ist!«, rief ich, während meine Hand ihren Arm packte und ihn mit einem unbarmherzigen Ruck nach hinten bog. Ein Knirschen, dann ein unterdrückter Schrei, als ich ihre Schulter auskugelte. Der Boden unter uns bebte von der Wucht meiner Wut. Eloria zitterte, aber sie brach den Blickkontakt nicht.
»Du glaubst wirklich, du könntest mich brechen?«, flüsterte sie heiser und lachte erneut. »Du weißt nicht, was ich schon alles erdulden musste. Du kennst mich nicht, Yindarin.« Das Lachen – es fachte meine Wut an, schürte das Verlangen, sie verstummen zu lassen.
Leise grollend versicherte ich ihr: »Oh, und du kennst mich nicht.« Meine Finger gruben sich tiefer in ihre Haut, und ich brach ihr mit einem schnellen Ruck drei Finger. Diesmal keuchte sie, und ein Zucken ging durch ihren Körper.
Ja, mach weiter! WEITER!
Sekeeras Stimme war ein Rauschen in meinem Kopf, ein teuflisches Flüstern, das mich ermutigte, antrieb. Ich würde kein Mitleid haben – nicht mit Eloria.
»Ich mache es dir einfach, Engel. Pro falsche Antwort breche ich dir einen Knochen. Vielleicht auch mehr. In deinem Körper befinden sich knapp zweihundert Stück, wir haben also einiges vor uns. Sag mir jetzt, wohin Riakeen und Dorzar sie gebracht haben.« Mit einem brutalen Ruck riss ich sie an den Haaren hoch und drückte ihr Gesicht in den Schnee, bis sie spuckend nach Luft schnappte. »Wo ist Jennifer?!«
Ihre Augen flackerten, doch sie biss die Zähne zusammen und spie mir ins Gesicht: »Gar nichts sage ich!«
MEHR!
Ohne Zögern packte ich ihren Arm, drehte ihn in einem unmenschlichen Winkel und vernahm ein widerliches Knacken. Eloria schrie, diesmal voller Schmerz, der ihr Lachen erstickte. Ihr Körper zuckte unter mir, ihre Lippen zitterten, doch noch immer blieb sie stur.
»Du denkst, ich würde nicht ernst machen?«, raunte ich. Mein Gesicht war dicht an ihrem, meine Worte kaum mehr als ein Knurren. »Ich habe weit Schlimmeres getan als das hier. Und wenn du weiter schweigst, wirst du erfahren, wie weit ich wirklich gehen kann.«
Genau! Zwing sie, bis sie nicht mehr lachen kann! Reißen wir ihr dieses dämliche Grinsen von den Lippen!
»Du … wirst … es bereuen! Mein ... Meister wird sich ... rächen!«, flüsterte sie keuchend und versuchte, ihre Fassung zu bewahren. Doch ich merkte, wie ihre Stimme brach, und ich konnte den Schreck in ihren Augen sehen. Ein Triumphzug ging durch mich – endlich schien sie zu verstehen.
Gil stand abseits, in atemloser Stille, aber das spielte keine Rolle. Alles, was zählte, war Eloria und die Wahrheit, die ich ihr aus dem Leib reißen würde, Stück für Stück.
»Meister? Was heißt das? Wer ist dein Meister?«, fragte ich laut. »Selene?«
Keine Antwort. Ich seufzte. Gespielt bedauernd sagte ich: »Und das wäre wieder einer.« Damit drückte ich meine flache Hand auf ihre Rippen, bis ich es splittern spürte. Eloria schrie und ich wiegte den Kopf hin und her, laut überlegend: »Vielleicht auch vier.«
Lass sie leiden, breche sie!
Ich packte sie am Hals und drehte ihr Gesicht zu mir, sodass sie den Hass in meinen Augen sehen musste. »Du hast nicht den Schimmer einer Ahnung, wer ich wirklich bin. Sag mir, was ich wissen will, oder du wirst sterben. Allein und vergessen in diesem Schnee.«
»Sie ist in Unterstadt«, würgte Eloria schließlich hervor. Ihr trat Blut über die Lippen.
»Das habe ich auch schon herausgefunden. Wo genau?« Als wieder nichts kam, verstärkte ich den Druck an ihrer Kehle und bohrte zugleich meine Finger gnadenlos in ihre Kniescheibe, bis sie wie ein verwundetes Tier aufheulte und in dämonischer Gossensprache fluchte – eine Sprache, die ich noch nie aus dem Mund eines Engels gehört hatte. Ich ignorierte ihr Würgen und Stöhnen und quetschte ihr Knie weiter, bis ein Wort mir ins Ohr drang: Akastrah.
Sekeeras Stimme schoss sofort durch meinen Kopf. Es lag ein bedrohlicher Unterton in ihren Worten.
Das ist der Name von Selenes Residenz. Wir brauchen mehr Informationen!
»Wo genau? Das Schloss ist riesig, werde gefälligst deutlicher!« Ich intensivierte den Druck, bis sie keuchte und mit letzter Kraft ein Wort hervorpresste: »Saal!«
»Welcher? Die Halle der Toten? Oder der Saal der Agonie? Es gibt mehrere!« Meine Stimme war nur noch ein Knurren, während ich mich dran machte, ihr den Oberschenkelknochen zu brechen. Eloria schnappte nach Luft, ihr Gesicht war ganz rot vor Schmerz. Trotzdem schaffte sie es irgendwie, mir aus lauter Trotz ein kaltes Lächeln zu entgegnen und zu hauchen: »Leck ... mich!« Augenrollend und ohne Zögern brach ich mit einem festen Ruck erst den Oberschenkelnochen und dann ihr Wadenbein, das unter meiner Hand knackte wie morsches Holz. Sie schrie erneut auf, so laut, wie mein Griff an ihrer Kehle es zuließ.
Neben mir regte sich Gil, als wollte er eingreifen, doch Elorias verkrampfte Stimme übertönte ihn: »JA, JA, BEI SELENE IM TOTENSAAL, HÖR AUF, BITTE!«
Ich beugte mich zu ihr hinab, ließ jedes Wort in ihre Angst sickern. »Bettel lauter«, zischte ich. Die Verzweiflung in ihren weit aufgerissenen Augen erfüllte mich mit einer finsteren Zufriedenheit. Sekeera lachte triumphierend in meinem Kopf, während das Blut in meinen Adern pulsierte, doch es war kein Verhör mehr. Eloria würde diesen Verrat nicht überleben.
Langsam ließ ich mich näher zu ihrem Ohr sinken, spürte die altbekannte Vorfreude, die nur das nahende Ende eines Lebens wecken konnte, und flüsterte: »Ich hoffe, es hat sich für dich gelohnt, Miststück.« Elorias Augen weiteten sich in blanker Panik. In einer geschmeidigen Bewegung holte ich aus, packte all meine Kraft in diesen einen Schlag und ließ meine Hand niederfahren. Ihr Schädel zersplitterte unter der Wucht meines Hiebs, und der Boden unter ihr brach ein. Blut, Hirnmasse und Knochensplitter flogen in alle Richtungen. Selbst Gil, der mehrere Schritte entfernt stand, wurde besudelt. Ich hörte ihn nach Luft schnappen, nahm es jedoch kaum wahr, stand nur auf, ließ die Schultern sinken und genoss den befreienden Rausch für einen endlosen Moment. Sekeera brüllte in meinem Inneren auf vor Wonne.
So lange schon war es her gewesen.
»Du – du hast sie …«, stammelte Gil atemlos.
»Ja, habe ich. Und das wird mit jedem passieren, der Jennifer ein Haar krümmt.«
Kurz schien Gil wie versteinert, bis schließlich ein Ausdruck von Ehrfurcht in seinen Augen aufblitzte. »Das war einfach toll! Ich will mehr!«, flüsterte er mit einem unheimlichen Glanz in den Augen und wischte sich das Blut aus dem Gesicht. Seine Augen glitzerten dunkel, und ich glaubte, einen Hauch meiner eigenen Entschlossenheit in ihnen zu sehen.
Ich schnaubte darüber nur und warf einen letzten Blick auf Elorias Überreste, bevor ich sagte: »Wir gehen jetzt nach Oberstadt. Du wirst Sonnenschutz brauchen.« Grimmig wandte ich mich in Richtung des Teleportsterns.
Es musste jetzt schnell gehen. Jennifer war bei Selene im Dunkelpalast, und wenn sie den verrückten Plan durchzogen, Asmodeus zu befreien, würde ich nicht ohne Unterstützung dorthin aufbrechen. Ich konnte alles und jeden niederstrecken – aber ich brauchte Zeit, und die könnte Selene nutzen, um Jen zu töten.
Oberstadt musste mir helfen!
Und wenn nicht, zwingen wir sie!