»Ich hasse Mathe!«, jammerte ich und ließ meinen Kopf dramatisch auf die Tischplatte fallen. Das dumpfe Geräusch hallte durch das Esszimmer, während ich mich selbst zutiefst bemitleidete. Mathe war meine persönliche Vorhölle, und die Zahlen auf dem Papier tanzten beinahe höhnisch vor meinen Augen herum.
Sam seufzte leise, und mir entging der Hauch von Frustration dabei nicht. »Das sind nur die binomischen Formeln, Jen. Das ist Stoff der Mittelstufe.«
»Binomische Scheiße ist das!«, widersprach ich und drückte mein Gesicht tief in meine verschränkten Arme. »Das braucht kein Mensch!«
»Du schon. Und wenn du deinen Abschluss demnächst schaffen willst, dann…« Sam ließ seine Worte ausklingen, und die Art und Weise wie er das machte, brachte mich innerlich zum Brodeln.
Wütend schaute ich auf und ballte die Hände zu Fäusten. Sams Gesichtsausdruck blieb jedoch völlig unbeeindruckt, und er schob seine Brille seelenruhig naseaufwärts.
»… solltest du dich lieber etwas mehr konzentrieren.«
Er hatte Recht, aber ich wollte es nicht zugeben.
»Ich habe aber keine Lust mehr!«, gab ich trotzig zurück. Dabei klang ich kindischer, als ich es mir in diesem Moment eingestehen wollte.
Sam grinste. »Wir haben doch erst vor zehn Minuten angefangen. Außerdem warst du es, die um Hilfe gebeten hat. Ich habe sogar den Schlachtzug mit Tommy abgesagt. Der macht den jetzt ohne mich!«
Ich setzte mich direkt aufrecht hin und machte große Augen. »Du hast Kontakt mit Tommy?«, hakte ich nach und machte große Augen. »Aber du hast ihm doch nichts von Anna erzählt, oder?«
Sams Gesicht verfinsterte sich leicht, als ob er beleidigt wäre. »Als ob ich so doof wäre. Natürlich nicht. Du hast es mir schließlich bei Todesstrafe verboten.« Er stöhnte auf. »Ich bin immer noch der Meinung, dass das nicht richtig deinem Bruder gegenüber ist.«
Mit einem lauten Knall klappte ich das Mathebuch zu und stand auf. »Das ist meine Angelegenheit, Samuel.«
Sam hob beide Hände an und schlug sie in gespielter Panik vor den Mund. »Samuel? Machst du jetzt einen auf Penny? Da kriege ich ja fast Angst!«
Halb ärgerlich, halb lachend schlug ich ihn mit dem nutzlosen Buch. Sam lachte und wehrte den Schlag mit einer lässigen Bewegung ab. In diesem Moment tauchte Evelyn im Türrahmen auf, eine Plastiktüte mit chinesischem Essen in der Hand. Ihr Blick wanderte kurz von mir zu Sam, und ihre Nase kräuselte sich.
»Bäh, macht ihr zwei rum, oder was?«, fragte sie angewidert.
Ich schnaufte. »Du bist unmöglich!«
Evelyn hob eine Augenbraue an. »Und du siehst mit deiner neuen Frisur einfach nur beschissen aus. Ich kann dich immer noch nicht ansehen.« Sie stellte das Essen ab auf dem Tisch ab, schüttelte ihre Mähne und verschwand in den Flur, um ihre Schuhe wie immer achtlos durch die Gegend zu schleudern. Ich griff mir unwillkürlich an die Spitzen meines neuen Long Bobs. Ich mochte ihn. Sam schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln. »Ich mag deinen Haarschnitt«, kommentierte er beiläufig, bevor er aufstand, um Essstäbchen und Servietten aus der Küche zu holen.
Somit war ich allein. Die Ruhe drang in meine Gedanken ein, und mit ihr die Erinnerung an die letzten Wochen. Ein Monat. Ein ganzer Monat war vergangen, seit Nighton gegangen war, um nach Anna zu suchen. Seitdem hatte ich nicht ein Wort von ihm gehört. Auch nicht von Jason, der ihn begleitete. Keine Nachricht, nichts. Diese ungewisse Stille hatte mich fast in den Wahnsinn getrieben, und wenn Gil, Evelyn und Sam nicht gewesen wären, wäre ich längst zusammengebrochen.
Die ersten Nächte waren am schlimmsten gewesen. Ich hatte dagelegen und mich gefragt, ob Nighton je wiederkommen würde. Schlaf war ein Fremdwort geworden, und ich hatte Stunden damit verbracht, mir die wildesten Szenarien auszumalen. Was, wenn er längst tot war? Was, wenn auch Anna nicht mehr lebte? Die Ungewissheit fraß an mir, nagte unaufhörlich an meiner Substanz.
Es passierte in diesen langen, ruhelosen Nächten, dass der Alkohol aus der Bar wieder zu meinem Begleiter wurde. Nicht viel, nur genug, um den Schmerz und die Angst kurzzeitig zu betäuben. Ich redete mir ein, dass ich es im Griff hatte, dass es nur eine vorübergehende Lösung war. Aber ich war diesem Drang öfter nachgegangen, als mir lieb war. Immerhin wusste ich nur zu gut um die Folgen von maßlosem Alkoholkonsum.
Aber genrell lebten wir in einem merkwürdigen Rhythmus. Kochen? Dafür hatte keiner von uns die Nerven. Also brachten entweder Evelyn und Sam oder Gil etwas zu essen mit, wenn sie auf ihren Patrouillen in den umliegenden Dörfern oder in London unterwegs waren. Chinesisch, Pizza, was auch immer gerade auf dem Weg lag. Es war keine Routine, die uns näherbrachte, sondern eher eine, die uns alle über Wasser hielt. Vor allem mit Gil verstand ich mich inzwischen richtig gut, auch wenn er für meinen Geschmack deutlich zu viel rauchte. Aber seine diskutierfreudige Art war manchmal sehr ablenkend, und das tat mir gut.
Einmal hatte Tharostyn uns besucht. Als ich ihn vor meiner Tür stehen sah, war das Erste, was mir in den Sinn kam, dass Nighton tot war. Diese düstere Vorahnung packte mich mit solch einer Wucht, dass ich nicht einmal die Tür öffnen konnte. Meine Hand zitterte auf der Klinke, aber ich brachte es nicht über mich. Doch dann klopfte er noch einmal, sanfter diesmal, und als ich endlich die Tür öffnete, stellte sich heraus, dass er einfach nur nach uns sehen wollte. Es wunderte mich ein wenig, dass er persönlich und auch noch allein gekommen war, aber es störte mich nicht wirklich. Er hatte diese ruhige, fast beruhigende Art, als würde die Zeit langsamer vergehen, wenn er in der Nähe war. Bei einer Tasse Tee setzte er sich zu uns und begann zu erzählen.
Nighton war mit Jason und Melvyn nach Unterstadt aufgebrochen, um dort nach Spuren auf Annas Verbleib zu suchen. Das war zumindest der Kern der Geschichte, auch wenn Tharostyn nicht genau wusste, wie erfolgreich Nighton war, da seine Berichte kaum bis gar nicht eintrafen. Das Gefühl, von ihm abgeschnitten zu sein, brannte nach Tharostyns Worten nur noch unangenehmer in meiner Brust.
Tharostyn berichtete außerdem, dass die Nachricht, dass Selene ein Yindarin geworden war, in Oberstadt eingeschlagen hatte wie eine Bombe. Doch die Engel hatten scheinbar nicht genug Zeit, diese Hiobsbotschaft zu verdauen, denn Selene plante laut Tharostyn etwas. Immer öfter wurden Dämonen in der Ebene der Lichter nahe dem Löwenkopf gesichtet. Isara hatte wohl alle Engel von der Erde nach Oberstadt gerufen, um sie im Falle eines Angriffs vorzubereiten. Doch laut Tharostyn waren es nicht viele Engel, die überhaupt noch in der Nähe waren. Sollte Selene also tatsächlich wie letztes Jahr das Schloss angreifen, könnte es zu einem Massaker kommen. Vor allem, da Nighton nicht da war. Tharostyn gab sogar vage zu verstehen, dass die Engel sich bereits nach 'anderen' Möglichkeiten umsähen, Unterstützung zu bekommen, doch was das genau bedeutete, führte er nicht näher aus, und ich fragte auch nicht nach. Dafür kreisten meine Gedanken viel zu sehr um Nighton.
In Oberstadt, so sagte er, wurde seine Anwesenheit sehr vermisst. Nicht nur wegen der drohenden Gefahr, sondern wegen der Tatsache, dass er woanders beschäftigt war. Das machte manche der Engel richtig nervös, als hätten sie Angst, dass Nighton die Seiten wechseln könnte. Auch in Tharostyns Stimme lag bei seinen Worten ein Hauch von Besorgnis, den er nicht ganz verbergen konnte. Ob er genauso dachte?
Am meisten bedrückte mich jedoch, dass er mir von Anna erzählte. Er bedauerte zutiefst, dass sie von Selene entführt worden war, versicherte mir aber gleichzeitig, dass die und Asmodeus ihr nichts antun würde. Anna sei angeblich zu wertvoll, was immer das heißen sollte. Ich konnte mir nicht vorstellen, wozu Selene ein kleines Mädchen brauchen sollte. Nicht auszudenken, was wäre, wenn Selene ihr wehtun würde. Sie war doch noch so klein! Wofür Selene Anna allerdings brauchen könnte, konnte der alte Engel mir nicht beantworten. Darüber hätten er und die Erzengel sich angeblich auch schon die Köpfe zerbrochen,
Neben diesen düsteren Nachrichten verkündete Tharostyn, dass die Internatsleiterin, Miss Dawes, sich tatsächlich selbst vernichtet hatte. Zuvor hatte sie jedoch eine ganze Horde von Schülern nach Oberstadt gebracht, um sie zu schützen. Melvyn hatte also recht behalten mit seiner Vermutung, dass Miss Dawes das Internat und das Wissen darin um jeden Preis verteidigen wollte – sogar um den Preis ihres eigenen Lebens.
Aber all das – die Engel, Selene, das Internat – konnte mich nicht lange fesseln. Mein Kopf war bei Nighton, bei Anna. Ich wollte einfach nur, dass sie beide zurückkamen.
»Und ich sage dir, die drehen noch einen weiteren Teil!«, behauptete Casey entschlossen und zog ihren Schal enger, als der eisige Wind durch die Platanen im Hyde Park fuhr.
Auch ich machte meine Jacke zu und klemmte die Hände unter die Achseln. »Nein, auf keinen Fall. Die Reihe ist doch langsam ausgelutscht. Die hätten schon nach dem dritten Teil aufhören sollen«, widersprach ich überzeugt, während wir uns auf den mobilen Kaffeestand zubewegten, der in der Ferne Dampf in den trübenFebruarnachmittag ausstieß.
Kurz darauf liefen wir mit unseren Bechern einen der Spazierwege im Park entlang. Der Wind pfiff unbarmherzig durch die entlaubten Äste, die ihre letzten Blätter schon vor langer Zeit fallengelassen hatten. Eine dünne Decke aus Schnee bedeckte das Gras, und die wenigen Spaziergänger und Fahrradfahrer, die uns begegneten, schienen den gleichen Kampf gegen die Kälte zu führen wie wir. Der Himmel über uns war schwer und eisig, als ob er jeden Moment herunterfallen könnte.
Casey und ich hatten uns nach der Schule im Kino verabredet und den neuesten Johnny-Depp-Film angesehen. Jetzt diskutierten wir das umstrittene Ende, wobei sie voller Enthusiasmus über einen möglichen weiteren Teil redete, während ich den Gedanken fast schon wütend von mir wies. Casey war irgendwie sowas wie ein Penny-Ersatz geworden. Manchmal erinnerte sie mich sogar an sie. Als mir Pennys Name durch den Kopf schoss, packte mich ein plötzlicher, schmerzhafter Stich der Sehnsucht nach meiner Freundin. Aber ich schüttelte den Gedanken ab. Heute sollte ein normaler Tag werden, fernab von allem Übernatürlichen. Mit Casey konnte ich über Schule und Jungsprobleme reden, ohne die ständige Last, die auf meinen Schultern lag. Wann war das zuletzt möglich gewesen?
Wir setzten uns auf eine Bank, von der aus man den Kaffeestand noch im Blick hatte – das war gut, denn Nachschub war jederzeit willkommen. Für einen kurzen Moment war alles perfekt, bis Casey plötzlich eine Stirnfalte zog und mich prüfend ansah. »Hast du nicht mal hier in der Nähe gewohnt?«, fragte sie unvermittelt.
Ich senkte meinen Blick auf den Kaffeebecher. »Ja, habe ich«, erwiderte ich so beiläufig wie möglich. »Ich bin aber umgezogen.«
Casey nickte langsam, als ob sie noch etwas sagen wollte, doch anstatt weiter nachzubohren, wechselte sie das Thema. »Du wirst immer von diesem Typen mit den Locken abgeholt. Ist das dein Freund?«
Ich grinste, als ich an Sam dachte. Der spukte gemeinsam mit Evelyn irgendwo im Park herum und behielt mich im Auge. »Nein, Sam ist nur ein Freund. Wir wohnen zusammen.«
»Und der andere? Der große, gutaussehende?«, fragte sie und hob zweideutig die Augenbrauen. Leicht lächelnd, obwohl es sich plötzlich anfühlte, als würde ein unsichtbarer Knoten in meinem Bauch fester gezogen, antwortete ich: »Ja, das ist mein Freund. Er ist gerade unterwegs.«
Casey beugte sich neugierig vor. »Wie kommt es, dass wir noch nie über ihn geredet haben? Wie heißt er?«
Ich zögerte. Nightons Gesicht, der Gedanke an seine Stimme, seine Nähe, seinen Geruch und seine Wärme versetzten mir einen mächtigen Stich. »N… Kieran«, murmelte ich.
Casey plapperte weiter, aber ich hörte ihr schon nicht mehr zu. Etwas hatte meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Auf der anderen Seite des Weges, zwischen den kahlen, verkrüppelten Büschen, stand eine Gestalt. Nur ein Schatten, umrahmt von den verwelkten Zweigen, aber es genügte, um mein Herz in Panik zu versetzen.
Mein Griff um den heißen Kaffeebecher verstärkte sich unwillkürlich, bis meine Finger schmerzten. Wer war das? Die Person starrte zu uns herüber, unbeweglich, wie aus Stein gemeißelt. Das flaue Gefühl, das ich gerade noch unterdrückt hatte, explodierte in mir wie eine Bombe.
Die dunkle Silhouette schien uns zu beobachten, ohne sich zu rühren, und meine Gedanken überschlugen sich. Mein Herz pochte laut in meinen Ohren, und das Atmen fiel mir schwerer. Ich konnte nicht erkennen, wer es war, aber das war auch nicht nötig. Der kalte Schauder, der sich an meinem Rücken hinaufschlängelte, sagte mir alles, was ich wissen musste.
Ruckartig schaute ich von der brabbelnden Casey weg in die Richtung der Gestalt und erhob mich. Ich wollte hier weg. Sofort.
Casey, völlig ahnungslos, hörte abrupt auf zu reden und blinzelte überrascht zu mir hoch. »Alles gut?«
»Ja, sicher... mir ist kalt. Lass uns weitergehen. Außerdem muss ich bald nach Hause, ich habe noch einiges zu erledigen.« Meine Stimme klang zu schnell, zu hastig, aber Casey schien nichts zu bemerken. Sie zuckte nur mit den Schultern und stand von der Bank auf.
Während wir uns in Richtung Treffpunkt mit Sam bewegten, redete Casey wieder unbeschwert drauflos, aber ich hörte ihr nur mit halbem Ohr zu. Mein Herz pochte noch immer wild in meiner Brust. Ab und zu warf ich verstohlen einen Blick über die Schulter, aber die Gestalt war verschwunden – oder sie versteckte sich jetzt besser. Das Unbehagen blieb.
Als ich Sams Auto endlich sah, atmete ich erleichtert auf. Der vertraute Anblick seines blauen Wagens, eingeparkt zwischen zwei Lieferwägen, gab mir ein Gefühl von Sicherheit. Sam saß hinter dem Lenkrad und grölte laut zu irgendeinem Song.
»Dann bis Morgen«, verabschiedete ich mich von Casey und versuchte dabei, möglichst normal zu wirken. Sie winkte fröhlich, dann lief ich schnellen Schrittes auf den Straßenrand zu. Sam grinste breit, als er mich kommen sah.
»Dein Taxi ist zur Stelle«, neckte er, aber sein Grinsen verschwand, als er meine verunsicherte Miene bemerkte. »Hey, was ist los? Siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«
Ich schnallte mich an und warf einen nervösen Blick aus dem Fenster. »Fast. Da war jemand hinter mir her, Sam. Ich habe ihn im Park gesehen, zwischen den Büschen.« Meine Stimme zitterte leicht, während ich weiter in den Park starrte, in der Hoffnung, die Gestalt doch noch einmal zu entdecken.
Sam sah mich ernst an und folgte meinem Blick. Seine Stirn runzelte sich, aber dann schüttelte er den Kopf. »Ich spüre hier keine übernatürlichen Vibes. Nur Evelyn, die gerade mit Gil auf dem Weg zur Teleportplatte ist. Bist du sicher, dass du dir das nicht eingebildet hast?« Er hob abwehrend die Hände, als ich ihn scharf ansah. »Okay, okay, ich bin schon still. Dann ist es gut, dass wir jetzt fahren.«
Die Fahrt verlief wortkarg, was mir nur recht war. Während Sam konzentriert fuhr, kreisten meine Gedanken unaufhörlich um die Gestalt im Park. War es Dorzar? Oder Asmodeus? Kellahan? Oder jemand ganz anderes? Mein Bauchgefühl sagte mir, dass ich ihn nicht einfach ignorieren konnte.
Ich tippte gerade eine Nachricht an Casey, als Sams Handy klingelte. Er drehte die Musik leiser und nahm ab. An den wüsten Worten, die ich durch das Telefon hören konnte, erkannte ich sofort, dass es Evelyn sein musste. Sam verzog das Gesicht, rollte mit den Augen und legte nach einer Minute genervt auf.
»Ich setz dich daheim ab und muss dann nochmal los zum Supermarkt. Evelyn und Gil haben die Karotten fürs Chop Suey vergessen. Hoffentlich kriege ich noch welche, der Laden macht gleich zu!«
Er fluchte leise vor sich hin, trat aufs Gas, und ehe ich mich versah, standen wir vor dem Tor zu meinem Haus.
Ich stieg aus, winkte Sam mit einem Grinsen zu – auch wenn mir gar nicht danach war – und machte mich auf den Weg die Auffahrt hoch. Im Obergeschoss brannte Licht. Evelyn und Gil waren also schon da. Der Wind blies kalt und scharf durch die Bäume, also beeilte ich mich, ins Haus zu kommen. Verdammt, warum war es so kalt, dafür, dass Februar war?!
Sobald ich drinnen war, zog ich die Schuhe aus und huschte in die Küche. Die Wärme des Hauses war eine willkommene Umarmung gegen die Kälte draußen. Ich setzte Wasser für einen Tee auf und wippte vor dem Teeregal hin und her, während ich überlegte, worauf ich Lust hatte. Etwas Beruhigendes? Oder doch lieber etwas Stärkeres, um den Tag aus dem Kopf zu bekommen?
Schließlich entschied ich mich für einen schwarzen Tee. Allerdings goss ich die Tasse viel zu voll, weswegen es ein kleiner Akt wurde, die übervolle Tasse voll dampfendem Wasser die Treppe hochzubalancieren. Die Wärme des Getränks brannte leicht gegen meine Finger, aber das war mir egal. Alles, was ich wollte, war mich hinzusetzen, vielleicht etwas abzuschalten – und dann würde ich das Gespräch mit Casey beenden und meine Hausaufgaben machen. Sam würde bald zurück sein, und dann war der Tag auch irgendwie zu Ende.
Plötzlich hörte ich die Haustür. Das leise Klicken, gefolgt von dem dumpfen Knarzen, war so vertraut, dass ich es im ersten Moment gar nicht registrierte.
»Und, noch Karotten bekommen, Sam?«, fragte ich beiläufig, den Tee nicht aus den Augen lassend, während ich mich halb umdrehte. Doch als mein Blick auf den Flur fiel, stockte mir der Atem.
Es war nicht Sam.
Nighton stand dort. Seine Kleidung war zerrissen, dunkle Augenringe zeichneten sich unter seinen Augen ab, und sein Gesicht war von schlecht verheilten Brandwunden übersät. Der deutlich längere Bart an seinem Kiefer verriet, dass er sich seit Tagen nicht mehr um sich selbst gekümmert hatte.
Für einen Moment schien alles in mir zu versagen. Auch die Kraft in meinen Fingern. Die Hitze des Tees, der Geruch der aufsteigenden Kräuter – alles verblasste, als ich ihn ansah. Er stand einfach da, so ruhig, als hätte er nie aufgehört, da zu sein, und sah mir mit einer Mischung aus vorsichtiger Freude und Verunsicherung entgegen.
Meine Finger lösten sich, bevor mein Verstand hinterherkam. Die Tasse entglitt mir. In Zeitlupe fiel sie, zerschellte auf den Treppenstufen. Heißer Tee spritzte umher, aber ich spürte nichts
Dann riss mich etwas aus meinem Schockzustand. Ein tiefes, unbewusstes Verlangen durchbrach die Starre. Ohne nachzudenken, ohne einen Moment zu zögern, stürmte ich die Treppe wieder hinunter. Meine Füße berührten kaum die Stufen. Es gab nur ein Ziel.
Nighton.
Und als ich bei ihm ankam, warf ich mich förmlich in seine Arme. Meine Wucht ließ ihn überrascht zurückschwanken, aber er fing mich trotzdem auf und hob mich hoch, so als wäre ich schwerelos, und drückte mich an sich. Seine Arme schlangen sich um mich, schützend, fest, so wie früher. Diese schreckliche Kälte, die beim letzten Mal zwischen uns geherrscht hatte, war verschwunden, als hätte sie nie existiert.
»Du bist zurückgekommen«, presste ich hervor. Ein Schluchzen wollte in meiner Kehle aufsteigen, aber ich unterdrückte es.
Nighton hielt mich fester, seine Wange ruhte einen Moment an meinem Haar, bevor er fast vorwurfsvoll antwortete: »Natürlich bin ich zurückgekommen.«
Ich sparte mir eine Antwort und vergrub lieber mein Gesicht an seiner Schulter, klammerte mich an ihn, atmete seinen vertrauten Duft ein – er war hier. Wirklich hier. Mein Herz klopfte so heftig, dass ich es in meinen Ohren spürte, und für einen kurzen Moment war die Welt perfekt still. Alles, was mich gequält hatte, alle Ängste und Sorgen, waren wie ausgelöscht.
Alles? Nein. Nicht alles. Anna war nicht hier. Er hatte sie nicht gefunden. Sie war immer noch in Selenes Gewalt.