Freitagmorgen kam rascher als gedacht. Eben hatte ich noch ruhig geschlummert, da piepste mein Wecker um sechs Uhr drauf los, als gelte es einen Wettbewerb zu gewinnen. Stöhnend schaltete ich ihn aus und rollte mich auf die rechte Seite, um aufzustehen. An der Bettkante verharrte ich kurz und versuchte, mich zu sammeln. Das frühe Aufstehen hatte ich nicht vermisst, so viel stand fest.
Mir war bewusst, dass ich einiges von letzter Woche geradezurücken hatte und garantiert nicht drauf hoffen durfte, dass meine neuen Mitschüler meinen Auftritt vergessen hatten. Und auf sowas hatte ich eigentlich gar keine Lust.
Nicht besonders motiviert duschte ich, zog mich an und putzte die Zähne. Mit der Zahnbürste im Mundwinkel war ich gerade dabei, die Knöpfe meiner weißen Bluse zu schließen, da klopfte es am Fenster. Sofort schaute ich über die Schulter und hielt die Luft an, doch es war nur Sam, der kopfüber vor meinem Fenster hing und mir winkte. Erschrocken machte ich, dass ich es öffnete.
»Bist du verrückt geworden? Es ist Tag, jeder kann dich da hängen sehen!«, warf ich Sam mit dem Mund voller Zahnpasta vor, ehe ich ihn in mein Zimmer klettern ließ. Sam zupfte sein verrutschtes T-Shirt zurecht und machte winkte ab.
»Ach was«, sagte er. »Die Gasse ist doch eng genug. Und, gut geschlafen?«
Ich verneinte mit leidiger Miene, die Zahnbürste aus dem Mund nehmend. Ziemlich nuschelig antwortete ich: »Nein, überhaupt nicht.« Sam grinste und setzte sich auf mein Bett. Selbstüberzeugt behauptete er: »Du schaffst das schon. Hast ja mich. Ich passe auf.« Diese Worte allerdings riefen Erinnerungen an längst vergangene Zeiten wach. Erinnerungen, die mich mit einer Mischung aus Sehnsucht nach Sekeera und Nighton zurückließen. Dementsprechend froh war ich, aus dem Gespräch fliehen zu können, da ich die Zahnpasta ausspucken musste. Während ich im Bad den Rest meiner Morgentoilette erledigte, spukten Sams Worte in meinem Kopf herum.
Ich passe auf dich auf.
Oh, apropos! Plötzlich kam mir ein Gedanke, den ich Sam unbedingt noch mitteilen musste. Also machte ich, dass ich fertig wurde. Als ich in mein Zimmer zurückkehrte, wartete Sam schon auf mich. Er war gerade dabei, meinen Laptop zu inspizieren, als ich eintrat.
Ohne zu zögern begann ich, mein Anliegen vorzutragen.
»Da das heute mein erster Schultag ist, an dem du mich bewachen wirst - es wäre besser, wenn du dich nicht blicken lassen würdest. Mach es einfach wie -«, ich stockte, »-egal, sei einfach unsichtbar. Wir sehen uns, ja?«
Sam runzelte kurz die Stirn. »Hast du Angst, dass ich dich blamiere?«, forschte er fast etwas beleidigt nach. Sofort verneinte ich und fügte erklärend hinzu, meine Tasche vom Boden aufhebend: »Nein, darum geht es nicht. Es ist nur - naja, da sind überall Menschen und du bist ein Engel. Mir ist es wichtig, dass keiner etwas von meiner Vergangenheit erfährt. Das würde nur Probleme schaffen, weißt du, was ich meine?«
Sams Gesichtsausdruck erhellte sich. Wieder winkte er ab, ehe er sich aufplusterte und mir versicherte: »Du wirst mich nicht bemerken. Nach der Schule hole ich dich dann aber wie besprochen vor dem Tor ab, okay?«
Ich nickte. Sam zeigte mir den erhobenen Daumen und kletterte geschickt aus dem Fenster. Da ich nicht wollte, dass die Hitze des heutigen Tages hier drin Einzug halten würde, schloss ich es hinter ihm und zog die Gardine zu. Obwohl mein Bus in weniger als zwanzig Minuten fahren würde, verharrte ich kurz vor meinem Fenster, auf meine Füße schauend und die Gardine festhaltend. Wie schon an den letzten beiden Tagen rutschte mir die Erinnerung an den Moment in Harenstone vor mein inneres Auge. Den gesamten restlichen Mittwoch und den Donnerstag hatte ich an Nightons Worten geknabbert. Die Nachricht von Nighton, die Sam mir Mittwochabend noch überbracht hatte, machte das Ganze für mich nicht leichter. Nighton hatte den Vorschlag gemacht, mir Harenstone am Wochenende zu zeigen, wenn mehr Engel und Dämonen im Haus wären. Das sei eine Art Kompromiss oder so, hatte Sam gemeint, denn so bekäme ich die Gelegenheit, mir Siwes Haus anzuschauen und Nighton könnte dabei sein und Wachhund spielen.
Allerdings hatte ich mich allerdings noch nicht entschieden. Am liebsten wäre es mir, das Haus mit Sam anzuschauen, und zwar nur mit ihm. Ich brannte nämlich nach wie vor darauf. Nur wusste ich nicht, ob ich dasselbe mit Nighton an Sams Stelle durchhalten würde. Außerdem wären da noch Penny und Evelyn. Die würden ebenfalls dort sein, und ich hatte den beiden eine Menge nicht besonders netter Dinge zu sagen.
Ach, ich war so überfordert mit allem. Am liebsten wäre ich hier und jetzt wieder in mein Bett geschlüpft. Doch ich wusste, dass das keine Option war.
Mit nicht besonders guter Laune trottete ich in die Küche. Anna war schon wach, das merkte ich daran, dass aus ihrem Zimmer leiser Gesang drang. Am anderen Ende des Flurs hörte ich meinen Dad geschäftig in seinem Zimmer rumpeln. Scheinbar war auch er aufgestanden. Thomas hingegen schien noch zu schlafen. Seine Uni begann heute etwas später als sonst.
Gähnend flocht ich mir einen seitlichen Zopf und schaltete die Kaffeemaschine ein. Sofort röhrte sie los. Ich nutzte den Moment, um kurz die Augen zu schließen und mich erneut in mein Bett zurückzuwünschen, da piekste mir jemand in die Flanke. Das erschreckte mich so sehr, dass ich einen spitzen Schrei ausstieß und herumfuhr. Doch es war kein flankenpieksender Dämon, es war lediglich Anna, die hinter mir stand und mich unschuldig anstrahlte.
»Du hast dich erschreckt!«, frohlockte sie.
»Gott, Annie, schleich dich doch nicht so an!«, warf ich meiner kleinen Schwester ärgerlich vor und versuchte, mein rasendes Herz zu beruhigen. Anna wirkte fröhlich darüber, dass sie es geschafft hatte, mich zu erschrecken. Als ich meinen Schock überwunden hatte, blickte ich an meiner Schwester rauf und runter, die sich in diesem Moment ein Glas aus dem Schrank griff, in das sie Milch und Kakaopulver kippte. Ich runzelte kritisch die Stirn, nach meinem Kaffee greifend.
»Noch mehr Rosa gab's wohl nicht?«, mutmaßte ich, auf ihr ganzes Erscheinungsbild deutend. Anna lief herum wie ein Erdbeer-Sahne-Bonbon. Lediglich ihre Socken waren weiß und boten damit den einzigen Farbakzent, wenn man das so nennen konnte.
»Doch! In meinem Schrank. Soll ich noch mehr anziehen?«, rief Anna ethusiastisch, die meinen Sarkasmus nicht verstanden hatte.
»Auf gar keinen Fall«, hielt ich sie hastig zurück, bevor Anna losstürmen konnte. Sie kicherte.
»Hätte ich eh nicht gemacht, Dummchen. Draußen wird es heute wieder ganz warm«, belehrte sie mich. Ich ignorierte ihre Worte und schickte sie zum Tisch, ehe ich in den Flur hineinlauschte. Wo blieb denn mein Dad? Er musste Anna doch zur Schule bringen!
Die Uhr im Auge behaltend lief ich zum Tisch, wo ich mich zu Anna setzte, beide Hände um die Tasse legend. Der knatschrosa Farbfleck in meinem Gesichtsfeld zog erneut meine Aufmerksamkeit auf sich.
»Wenn du älter bist, brauchst du dringend eine Farbberatung«, riet ich meiner Schwester aufseufzend, die an ihrem Kakao nippend bestimmt abwehrte: »Aber nicht von dir.« Überrascht zog ich eine Augenbraue hoch, lenkte dann aber ein: »Von mir aus! Solange du aufhörst, dieses grässliche Rosa zu tragen, ist mir auch jeder andere recht. Du wirst schon sehen, es gibt keine bessere Farbe als Schwarz.«
Anna zog die Nase kraus. »Aber Schwarz ist doch keine Farbe!«, widersprach sie. Ich wollte schon drauf einsteigen, da setzte Anna auf einmal einen seltsamen Ausdruck auf und ihr Blick glitt in die Ferne. Bevor ich mich darüber wundern konnte, war der Moment genauso schnell vorbei, wie er gekommen war. Anna öffnete den Mund.
»Du, Jenny?«
»Was ist?«
»Gehst du heute in einen Wald?«
Ich blinzelte Anna an. In einen Wald? Wie kam sie denn da drauf?
»Nein. Wieso sollte ich?«, fragte ich verdutzt zurück. Was war denn das für eine Frage?
»Gut«, war allerdings alles, was Anna darauf antwortete. Bevor ich genauer nachhaken konnte, was zur Hölle sie in ihren Kakao gerührt hatte, kam mein Dad hereingeeilt. Er trug einen altmodisch erscheinenden Cord-Anzug und wirkte gestresst.
»Los, los, Anna, sonst kommst du zu spät zur Schule! Trink aus und zieh deine Schuhe an. Du weißt doch, dass ich heute Termine habe und nicht zu spät kommen darf!«, wies er sie an. Anna tat, wie geheißen und hüpfte aus der Küche. Mein Dad drückte mir einen flüchtigen Kuss auf die Stirn, wünschte mir einen fantastischen ersten Tag, versprach, dass er fürchterlich stolz auf mich wäre, eignete sich ungefragt meinem Kaffee an und wuselte wieder aus der Küche. Das alles ging so schnell, dass ich nur blinzeln konnte. Dennoch nahm ich mir fest vor, Anna später noch auf ihre kryptische Frage anzusprechen. Ich wusste nicht wieso, aber ich hatte das Gefühl, dass da mehr hinterstecken könnte.
Einen endlos tiefen Seufzer ausstoßend blieb ich kurz vor dem breiten Treppenaufgang meiner neuen Schule stehen und schaute an dem quadratischen Backsteingebäude hoch. Schülermassen strömten an mir vorbei. Manche rempelten mich an, andere warfen mir flüchtige Blicke zu. Wahrscheinlich, weil ich mitten im Weg stand und nicht die Treppe nahm, die hoch zum Schulgebäude führte. Den Grund dafür hinterfragte ich genauso. Allerdings kam ich zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis.
Erst als die Schulglocke ein furchtbar schrilles Klingeln von sich gab, setzte ich mich unendlich träge in Bewegung. Die meisten Schüler waren längst drinnen verschwunden. Im Gehen zog ich immer wieder an dem blauen Faltenrock und den Ärmeln des schwarzen Jacketts. Oh du Hölle, wie wenig ich diese lästigen Schuluniformen vermisst hatte.
Während ich das elegant ausgestattete Foyer der Robert Service Highschool betrat, wühlte ich in meiner Tasche nach dem Plan des Gebäudes. Auf dem hatte mir meine neue Kursleiterin Mrs. Briggs markiert, wo ich an meinem ersten Schultag hinmusste. Da ich den gesamten organisatorischen Kram schon vorab gemeinsam mit meinem Dad erledigt hatte, ersparte mir dies heute Morgen den Gang zum Sekretariat.
Sobald ich den Plan gefunden und aufgefaltet hatte, lief ich los, den Blick zwischen Plan und meiner Umgebung schweifen lassend. Inzwischen war keiner mehr auf den Korridoren mit den hohen Decken und den hässlichen lindgrünen Fliesen zu sehen. Bedeutete wohl, dass ich zu spät war. Mist.
Schließlich wurde ich im ersten Stock fündig und klopfte an die geschlossene Tür eines Klassenzimmers, ehe ich eintrat.
Sofort richteten sich knapp achtzehn Augenpaare auf mich. Neunzehn, wenn man Mrs. Briggs mitzählte, eine junge, dynamisch wirkende Lehrerin in Jeans und Bluse. Sie lächelte mich erfreut an. Ich schloss die Tür und tat ein paar Schritte in das längliche, lichtdurchflutete Klassenzimmer. Mrs. Briggs rutschte vom Pult und kam mir entgegen.
»Ich wollte gerade los und schauen, ob Sie unten im Foyer sind. Herzlich willkommen, Jennifer. Wollen Sie uns etwas von sich erzählen?«
Oh Gott, nein, eigentlich nicht.
Etwas steif drehte ich mich zu meinem Kurs um. In den meisten Blicken las ich Argwohn und teilweise Spott. Natürlich erinnerten sie sich alle bestens an Samstag. So wie ich. Eigentlich musste ich nichts mehr erzählen.
»Wenn ich nicht muss, würde ich das gern überspringen«, versuchte ich, diese alberne Formalität zu umgehen. Mrs. Briggs lachte.
»Kein Problem. Später ist auch Zeit dafür. Setzen Sie sich! Neben Casey ist noch Platz.«
Dankbar nickte ich ihr zu, ehe ich zwischen den Reihen hindurchging, auf Casey zusteuernd, die mir fröhlich entgegenlächelte. Insgeheim war ich froh, dass ich neben ihr sitzen konnte. Sie kannte ich wenigstens.
Auf Höhe von Brittany hörte ich die das Wörtchen 'Freak' wispern. Das brachte mich zum Grinsen, doch ich lief weiter, ohne anzuhalten. War es also schon so weit, ja? Na, da hatte ich ja direkt etwas, worauf ich mich freuen konnte.
Tatsächlich brachte ich den ersten Schultag erstaunlich unbeschadet hinter mich. Wenn man von der ersten Pause absah, in der Brittany und ihr Ty meinten, mich mit der Party konfrontieren zu müssen. Zum Glück konnte ich mich mit meinem Alkoholpegel ganz gut rausreden, sodass die beiden mich wenigstens nicht durchweg damit nervten. Allerdings schien ich meinen Stempel bereits wegzuhaben, doch das war nicht schlimm. Sowas war ich von früher gewöhnt, da half nur es nur, sich in Ignoranz zu üben.
Der Unterricht verlief auch ganz gut. Ich hatte sogar weniger Wissenslücken im Unterrichtsstoff als befürchtet. Meine neuen Lehrer waren allesamt sehr nett und ich fühlte, wie sich meine Vorurteile langsam verflüchtigten. Vielleicht würde die neue Schule doch nicht die Hölle auf Erden werden. Sie war zwar klein, kompakt und eben nicht die Churchill High, aber ich hatte beschlossen, ihr eine Chance zu geben. Außerdem spürte ich, wie gut es mir tat, nicht tagein tagaus zuhause zu sitzen und meinen Gedankenspiralen ausgeliefert zu sein.
Meine muffelige Laune vom Morgen schwand Stück für Stück. Vielleicht war das auch anteilsmäßig Casey zu verdanken. Bei ihr entschuldigte ich mich sogar für Samstag, woraufhin sie kichernd abwinkte und mir mit verschwörerischer Miene mitteilte, dass sie gespannt war, welche Macken ich noch auf Lager hatte. Dafür hatte ich nur ein unglückliches Grinsen übrig, denn besonders lustig oder herausfindenswert fand ich das nicht. Im Gegenteil. Es wäre am besten, dieses normale Schülerdasein strikt von allem anderen zu trennen, was sonst so in meinem Leben abging. Das nahm ich mir zumindest vor.
Nach der Schule hatte ich erschreckend gute Laune. Selbst die Sonne konnte da nicht viel dran ändern. Heute war es nämlich wirklich verteufelt warm. Auf dem Weg zum Tor tauschte ich Handynummern mit Casey und Steve, einem der Jungs, die am Samstag bei uns gesessen hatten. Bei der Straße trennten sich unsere Wege und Casey winkte mir fröhlich. Ich winkte ihr zurück, dann suchte ich mit den Augen die Menge an Schülern und Eltern beidseits der überfüllten Hauptstraße ab, um Sam zu finden. Den entdeckte ich schließlich auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Er hockte in T-Shirt und Jogginghose auf einer Mauer und spielte wie immer an seinem Gameboy, in das er tief versunken schien. Wenigstens hatte er seine Fischmütze zuhause gelassen.
Schnell machte ich, dass ich über die Straße kam.
»Sam!«, rief ich und winkte ihm, sobald er aufsah. Er runzelte besorgt die Stirn, als ich mich ihm näherte.
»Wieso hast du so gute Laune?«, hakte er nach und musterte mich, als hätte er einen Alien vor sich. Ich lachte und erwiderte, ihm dabei zuschauend, wie er von der Mauer sprang: »Es war weniger schrecklich als befürchtet. Nein, im Ernst, es war eigentlich ganz in Ordnung. Ich glaube, ich könnte mit dieser Schule warm werden. Irgendwann.«
»Fantastisch, ja, Highschools sind was ganz besonders Feines«, kommentierte Sam trocken, ehe er in den Park zeigte und hinterherfragte: »Port oder Laufen?«
»Laufen«, entschied ich direkt, Sams Sarkasmus überhörend. Es waren höchstens zwei Kilometer und ich hatte Lust auf ein wenig Bewegung. Sam zog wieder einmal einen Flunsch, fügte sich aber in sein Schicksal. Dennoch trottete er mir lustlos hinterher.
Tief die spätsommerliche Luft einatmend lief ich voran. Die meiste Zeit waren die Wege in schattiges Dunkel getaucht. Es roch nach gemähtem Gras und ich glaubte sogar, von irgendwoher den Geruch von Wassermelone wahrzunehmen. So unmöglich war das tatsächlich nicht, denn der Hyde Park war brechend voll von Menschen, die das schöne Wetter genossen. Ich bekam fast selbst Lust, mich auf das kurzgeschnittene Gras zu legen und die Seele baumeln zu lassen.
»Ach, Penny hat fragen lassen, ob wir mal was zu viert, also mit Evelyn, unternehmen wollen.«
Sofort wurde meine sonnige Laune mit trüben Wolken verdunkelt. Sam hatte mich soeben daran erinnert, dass ich eine Menge Wut in mir herumtrug.
Mit unbeabsichtigt scharfer Stimme entgegnete ich: »Hat sie das? Wie nett. Ich dachte, ich existiere nicht mehr für den Rest von euch. Wieso kommt Penny jetzt damit an?«
Plötzlich blieb Sam stehen, was mich so irritierte, dass ich es ihm gleichtat. Mit betroffener Miene sagte er: »Penny hat dir nichts getan, Jen. Warum bist du so sauer auf alle? Es hat dich doch keiner zu dem gezwungen, was du-«, er schaute sich kurz um, dann senkte er die Stimme, »- in Oberstadt gemacht hast.«
Mit diesen Worten sorgte er dafür, dass ich wütend wurde.
»Du hast keine Ahnung von dem, was ich in Oberstadt gemacht habe, also urteile nicht darüber!«, fuhr ich Sam an, wirbelte herum und lief schnellen Schrittes weiter. Mit einem Mal schien die friedvolle, angenehme Atmosphäre des Parks wie weggeblasen zu sein. Kaum zu glauben, was Worte bewirken konnten.
»Jen-«
»Nein! Ich bin so lange sauer, wie ich es will! Penny hatte genug Zeit, zu mir zu kommen, warum erst jetzt?«
»Jen-«
»Ist ihr etwa erst jetzt eingefallen, dass es mich noch gibt? Von Evelyn habe ich ja nichts anderes erwartet, aber-«
»BLEIB STEHEN!«
Erschrocken zuckte ich zusammen und drehte mich zu Sam herum, der aus aufgerissenen Augen umherschaute er, als würde er etwas hören, das ich nicht hören konnte. Nein, er nahm etwas wahr, das sich mir entzog. Denn genau das las ich in seinen panischen Augen.
Sofort ließ auch ich den Blick wandern. Und tatsächlich, dass es dunkler geworden war, war nicht der wortwörtlichen Projizierung meines Gemütszustands auf die Umgebung zu verdanken gewesen. Unsere gesamte Umgebung wirkte, als sei ihr das Sonnenlicht entgezogen worden. Und heiß wurde es auch, und das innerhalb weniger Sekunden. Auf die Hitze folgte ein erschreckend brennender Wind, der mir unter die Schuluniform fuhr.
Verwirrt trat ich ein paar Schritte zurück. Dass hier etwas Dunkles am Werk war, war nicht von der Hand zu weisen.
Allerdings waren Sam und ich nicht die Einzigen, die den plötzlichen Wetterumschwung bemerkt hatten. Viele Menschen im Park standen genauso da wie wir, räumten ihre Sachen zusammen, zeigten auf sich rasch wachsende und übereinander auftürmende Gewitterwolken am Himmel und machten, dass sie von dannen kamen.
»Sam? Was passiert hier?«, fragte ich besorgt und griff nach dem Arm meines Freundes, der jedoch hektisch sein Handy hervorzog, eine Nummer wählte und ins Telefon spie: »Ich brauche Hilfe, im Hyde Park vor Jennifers Schule taucht gleich eine Bresche auf!«
Schockiert riss ich die Augen auf, als das Gesagte in meinem Hirn ankam. Eine Bresche? Hier, im Hyde Park? Wie bitte?!
»Komm, wir müssen uns beeilen«, rief Sam, steckte das Handy weg, packte mich am Ellbogen und schleifte mich mit sich. Ich wollte protestieren, fragen, wieso eine Bresche auftauchen sollte und woher Sam das vor allem wissen wollte, doch da erscholl ein lautes Donnern, gefolgt von einem Krachen. Das Krachen war so laut, dass ich stehenbleiben und mir die Ohren zuhalten musste. Als ich nach rechts zur Geräuschquelle sah, wo eine große Wiese lag, erkannte ich in ihrer Mitte einen schwebenden roten Riss in der Luft, unter dem sich das Gras schwarz färbte. Die meisten Leute waren schon vor dem drohenden Gewitter geflohen, doch einige wenige befanden sich noch auf der Wiese und zeigten voller Angst auf die wachsende Bresche.
Entsetzt nahm die Hände von den Ohren. Da war wirklich eine Bresche, hier, mitten in London!
»Verdammt, Jen, komm endlich!«, fluchte Sam, packte mich erneut und riss mich mit sich. Doch ich hatte noch Gelegenheit, einen Blick auf den Dämon zu werfen, der sich in diesem Moment aus dem Riss zwängte. Als ich ihn erblickte, stellten sich mir alle Haare auf. Was war das denn für ein Monster? So eine Kreatur hatte ich noch nie gesehen, weder in der Realität noch in Büchern.
Es war ein grotesker, sicher zweieinhalb Meter großer, gebeugt gehender Dämon mit tiefschwarzer, ledriger Haut, die sehnige Muskelpakete bedeckte. Auf seinem Rücken, seinen Schultern und an seinen Ellbogen durchbrachen rötliche Stacheln seine Haut. In seinem unmenschlichen Gesicht saßen zwei glühend rote Augen. Eine Nase hatte er nicht, dafür aber ein doppelt so großes Maul mit spitzen Reißzähnen und seitliche Stirnfortsätze, die sich zu zwei nach hinten gebogenen Hörnern krümmten. Doch das Verstörendste waren seine Arme. Sie waren so lang, dass sie beinahe auf dem Boden schleiften. An seinen überdimensional riesigen Pranken befanden sich messerscharf erscheinende Klauen, die so lang wie meine eigenen Hände waren.
Schreie ertönten, als die Menschen ihn ebenfalls erblickten. Der Dämon kauerte sich ein wenig hin, witterte, schaute umher. Für die Menschen, die vor ihm wegliefen, schien er sich nicht zu interessieren. Er suchte offenbar nach jemandem. Und wer das sein könnte, sollte ich leider noch schnell genug herausfinden.