Die Stimme am anderen Ende war genau das, was ich hören wollte, auch wenn sie von Stress und Argwohn durchzogen war.
»Hi«, hauchte ich, schloss die Augen und versuchte, meine Nervosität zu verbergen.
Ein kurzer Moment der Stille folgte, dann hörte ich Nighton nach Luft schnappen. »Jennifer?!«
»Ich-«
»Wo bist du?«, unterbrach er mich. Seine sich überschlagende Stimme war ein Mix aus Erleichterung und Panik.
»Hör zu, ich habe nicht viel Zeit. Ich bin gerade am Ausbrechen.«
»So kenne ich dich!«, kam es stolz und besorgt von ihm.
»Es tut mir so leid, dass ich abgehauen bin, aber-«
»Es ist egal, Hauptsache, du lebst! Wo bist du?!«
Kurz und knapp erzählte ich, was ich von Kellahan und Gil wusste. Auch das Detail, dass ich der Köder für Nighton war, ließ ich nicht aus. Als ich endete, schlug mir ein tiefes Grollen aus dem Hörer entgegen.
»Na und? Das interessiert mich doch nicht, die können mir gar nichts! Ich werde dich finden. Wo bist du jetzt gerade? Und wie bist du an das Telefon gekommen?«
Wieder erklärte ich hastig, wo ich mich befand und wie ich es geschafft hatte, in das Büro zu gelangen.
»In einem Büro? Schau dich um, ob du Hinweise findest, wo dieses Labor ist!« Nighton klang aufgeregt. Ich nickte, obwohl er mich nicht sehen konnte, und begann, den Raum erneut auf den Kopf zu stellen. Gil, der mit seinen scharfen Ohren offenbar mitgehört hatte, beteiligte sich ebenfalls an der Suche.
»Ich bin so froh, deine Stimme zu hören. Aber ist mit meinem Dad und meinen Geschwistern auch alles in Ordnung?!«, fragte ich, während ich weitersuchte und die Telefonschnur fest umklammerte. Ich wartete angespannt auf Nightons Antwort.
»Naja-«, begann er zögerlich. Mein Herz setzte einen Schlag aus.
»Was 'naja'?«
»Dein Vater ist völlig ausgerastet, als klar wurde, dass du weg bist. Er wurde festgenommen, weil er betrunken randaliert hat. Thomas hat Anna vorgestern zu deiner Grandma gebracht und ist auch gleich selbst geblieben. Ich hielt es für besser so.«
Ein erleichtertes Seufzen entglitt mir. Wenigstens waren sie am Leben. »Gott sei Dank geht es ihnen gut.« So schrecklich das alles auch war. Doch damit konnte ich mich immer noch befassen, wenn ich hier raus war.
Während ich weiter telefonierte, hatte Gil einen Schredder entdeckt und schob alles, was er finden konnte, hinein. Weißes Konfetti spritzte aus dem Gerät, und den Mülleimer schob er natürlich beiseite.
»Ich weiß nicht, wie lange ich noch Zeit habe. Die suchen mich schon«, sagte ich und ließ die Frustration in meiner Stimme hörbar werden.
Nighton seufzte schwer. »Geht es dir denn wenigstens gut?« Seine Stimme wurde sanft, und ich schloss wieder die Augen, sehnte mich nach ihm.
»Ja, schon, aber ich vermisse dich. Sehr. Sogar deinen unerträglichen Kommandoton«, murmelte ich, während ich mir vorstellte, wie er am anderen Ende des Telefons verzweifelt lächelte.
»Du fehlst mir auch, Jen – du und dein verdammter Sturkopf. Ich hole dich da raus, versprochen!«
In diesem Moment wedelte Gil aufgeregt mit einem großen Papier vor mir herum. »Ich glaube, ich habe etwas gefunden!«, rief ich aufgeregt.
»Und was?«, fragte Nighton.
»Eine Landkarte von Irland, mit Zeichnungen und Pfeilen, die von der Südküste ins Landesinnere führen. «
»Ist da etwas in der Nähe? Eine Stadt?«
Ich stotterte vor Aufregung, als Gil auf die Karte zeigte. »Dungarvan! Es ist eingekreist und von da führen Pfeile ins Innenland und zur Küste!«
»Das reicht mir. Sieh zu, dass du dich nicht unnötig in Gefahr begibst. Wenn nötig, geh zurück! Geh kein Risiko ein, Jennifer!«
»Du auch nicht! Ich tue, was ich kann, um hier rauszukommen. Bis bald, Mr. Hudson«, wisperte ich, meine Stimme brach fast. Er war so überrascht, dass er keinen weiteren Ton herausbrachte. Also legte ich auf.
Für einen Moment atmete ich tief durch. Das war leichter gewesen als gedacht.
»Und nun?«, fragte Gil paffend. »Zurück in die Arme unserer Gastgeber oder weiter in das Unbekannte? Was wird es, Captain?«
Ich warf ihm einen raschen Blick zu, fühlte den Adrenalinschub in meinen Adern. »Weiter. Definitiv weiter.«
Plötzlich hallten Schritte durch den Gang. Schwere, entschlossene Schritte, die mir nur zu vertraut vorkamen. Kellahan. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Schnell zog ich mich auf den Schreibtisch und schob mich mit aller Kraft zurück in das Lüftungsgitter. Gil drückte die Zigarre im Blumentopf einer mageren Topfpflanze aus und folgte mir mit der Leichtigkeit eines Raubtiers.
Gerade als er den Schlagstock aus dem Ventilator riss, hörten die Schritte direkt vor der Tür auf. Ein Schlüssel wurde ins Schloss gestoßen und die Tür flog auf. Wir schoben uns tiefer in den Schatten des Lüftungsschachts und spähten durch das Gitter. Kellahan trat ein, gefolgt von einem jungen Mann in Uniform, der aussah, als hätte er gerade erst das Grundtraining der Armee abgeschlossen.
Kellahan blieb abrupt stehen und starrte auf das Chaos, das wir hinterlassen hatten. Sein Gesicht, normalerweise eine stoische Maske, verzog sich vor Wut. »Was... in... aller... Welt?«
Die Wache hinter ihm verzog das Gesicht und hielt sich die Nase zu.
»Sir, hier drin stinkt es nach Zigarrenrauch.«
Kellahan funkelte ihn an, sein Gesicht nahm einen fast krankhaften Weißton an, während er die Verwüstung in seinem Büro begutachtete. »Weiß ich selbst. Der Anruf kam von diesem Telefon«, knurrte er und seine Augen verengten sich zu Schlitzen. »Die Flüchtigen war hier.«
»Oh wow, scharfsinnig!«, flüsterte Gil belustigt neben mir. »Vielleicht sollte er Detektiv werden.«
Ich schnaubte nur.
Kellahan warf dem jungen Mann einen scharfen Blick zu und blaffte: »Los, 0068, hol irgendwas zum Putzen. Jetzt!« Der Mann mit dem unpersönlichen Namen 0068 nickte hastig und stürmte aus dem Raum, seine Schritte hallten im Flur wider.
Kellahan trat indes an den Schreibtisch, nahm die Landkarte von Irland in die Hand und murmelte Flüche, die in meinem Kopf widerhallten. Die Karte! Verdammt, ich hatte sie dort liegen lassen.
In diesem Moment stürmte ein weiterer Wachmann in den Raum, schnappte nach Luft und sah sich fassungslos um.
»Sir, Sie müssen kommen! Was... was ist hier passiert?«
Wütend rief Kellahan: »Die Flüchtigen waren hier. Habt ihr schon im Spiegelraum nachgesehen? Würde mich nicht wundern, wenn sich ein paar Ausreißer beim AEUD-Serum oder bei der der E-VA-C herumtreiben!« AEUD-Serum und E-VA-C? Was mochten diese Abkürzungen bedeuten?
Der Wachmann schüttelte den Kopf, nervös schwitzend und entgegnete: »Nein, Sir, das Serum und die E-VA-C sind gesichert. Aber zwei Gefangene aus Trakt sechzehn sind noch nicht wieder in ihren Zellen.«
»Wer?«, zischte Kellahan. Seine Augen blitzten.
»Subjekt HS010397 Jennifer Ascot und Subjekt HS010396 Robert Reed«, antwortete der Soldat zögernd. »Sie sind beide weg, und Wache 0056 lag bis eben bewusstlos in HS010397's Zelle. Er wurde getasert.«
Kellahans Gesicht versteinerte, dann lachte er leise. Es war ein kaltes, drohendes Geräusch.
»Nun gut, sie will mich offenbar auf die Probe stellen«, murmelte er ruhig und richtete seine Krawatte, die seine einzige Spur von Nervosität verriet. Plötzlich hob er den Kopf und starrte direkt in den Ventilator, als hätte er uns gespürt. Gil und ich zogen uns blitzschnell tiefer in die Schatten zurück. Unsere Herzen schlugen wie Trommeln.
»Ich weiß jetzt genau, wer dieses Chaos angerichtet hat.« Kellahans Stimme war leise, aber bedrohlich. »Schickt sofort ein Team in die Luftschächte. Diese zwei Ausbrecher sind nicht weit weg. Und glaubt mir, bis Turanos älterer Sohn hier ist, will ich Ergebnisse. Schnappt sie euch, bevor wir ein verdammtes Desaster gestehen müssen!«
Gil beugte sich zu mir herüber und wisperte: »Hört sich an, als hätten wir bald Gesellschaft. Zeit, uns zu verpissen, bevor es hässlich wird!«
Ich nickte stumm, spürte den Schweiß in meinen Handflächen. Die Zeit war unser Feind. Wir mussten hier raus, und zwar schnell.
Gil und ich setzten uns in Bewegung. Ich kroch durch den Lüftungsschacht voran, ohne genau zu wissen, wohin ich eigentlich wollte. Ich folgte einfach den Windungen und hoffte, dass ich instinktiv den richtigen Weg wählen würde. Es fühlte sich an, als wären wir schon ewig unterwegs, auf der Suche nach einem Ausweg oder einem sicheren Versteck.
Plötzlich bebte der Boden.
Erschrocken drückte ich mein Ohr gegen die Metallwand des Lüftungsschachts. Tatsächlich, da kam jemand! Schnell drehte ich mich zu Gil um und gab ihm ein Zeichen. Ohne ein Wort zu verlieren, krochen wir hektisch weiter, ich voraus, er direkt hinter mir.
»Ich liebe diese actiongeladenen Verfolgungsjagden in engen Röhren«, presste Gil dabei atemlos hervor, während das metallische Kratzen hinter uns immer lauter wurde. »Gibt dem Ganzen ein gewisses ‘Ratten-im-Labyrinth’-Feeling, findest du nicht?«
»Nein, finde ich nicht! Ich finde es einfach nur furchtbar«, zischte ich zurück.
Das Geräusch wurde mal lauter, mal leiser, als ob sie uns verfolgten, aber nicht genau wussten, wo wir waren. Einmal sah ich einen schwer bewaffneten Mann, der durch einen angrenzenden Schacht krabbelte. Mein Herz setzte einen Schlag aus, aber zum Glück bemerkte er uns nicht.
»Wenn wir hier rauskommen«, flüsterte Gil, »mach' ich erstmal eine Karrierepause als Lüftungsschachtkletterer. Ist doch nichts für meine Knie.«
»Lass endlich die Witze!« Ärgerlich schüttelte ich den Kopf und kroch weiter.
Mein Orientierungssinn hatte mich längst verlassen, aber ich wusste, dass wir nicht aufgeben konnten. Dann erblickte ich ein Lüftungsgitter vor mir und riskierte einen Blick hindurch. Der Raum darunter war groß und in ein merkwürdiges, bläulich-weißes Licht getaucht. Die Wände bestanden aus Spiegeln, die das Licht reflektierten und den Raum noch größer erscheinen ließen. Das musste dieser Spiegelraum sein, von dem Kellahan gesprochen hatte!
Ich zeigte auf das Gitter und sah zu Gil zurück. Er nickte und deutete auf den Schlagstock in meiner Hand. Ich steckte den Schlagstock in die Lüftung und wartete, bis der Ventilator zum Stillstand kam. Dann ließ ich mich durch das Gitter fallen und landete unsanft auf dem Boden. Gil folgte mir mit einem eleganten Sprung.
Kaum war ich aufgestanden, erstarrte ich. Überall im Raum standen Menschen – und sie sahen alle aus wie ich und Gil! Was zur Hölle?
»Wow«, brummte Gil und näherte sich langsam einem der Spiegelbilder, »wusste nicht, dass wir jetzt schon Doppelgänger in Serie produzieren.«
Ich ging ebenfalls auf eines der Spiegelbilder zu. Die Person tat dasselbe wie ich. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. »Oh, verdammt«, knurrte ich. »Das sind nur Spiegel!«
»Wie scharfsinnig!«, kommentierte Gil trocken. »Dir steht wohl auch eine erfolgreiche Karriere als Detektiv bevor, du schlaues Ding.«
Ich ignorierte ihn, denn inmitten all der Spiegel entdeckte ich einen riesigen Kühlschrank, indem dutzende Glaszylinder lagerten. Sie waren nicht besonders groß, aber in ihrem inneren hatten sie alle eine silberne Flüssigkeit, die eigenartig matt glänzte. Was war das denn? Etwa dieses Serum, von dem Kellahan geredet hatte? Interessiert musterte ich es, doch dann rief Gil im Hintergrund laut »Uh!«, also sah ich über die Schulter zu ihm.
Er stand vor einer Glasvitrine, in der eine Art Pistole aufbewahrt wurde. Sie sah aus wie etwas aus einem Science-Fiction-Film. Sie war nicht viel größer als eine normale Handfeuerwaffe, aber die Details waren echt beeindruckend. Das Gehäuse glänzte metallisch-schwarz. An ihren Seiten gab es eine Reihe von seltsamen Knöpfen und Schaltern, die man wahrscheinlich nicht einfach ohne Anleitung bedienen konnte. Zudem entstieg der Mündung ein unheilvolles, blaues Leuchten.
Was sie aber wirklich besonders machte, war das Gefühl der Macht, das sie sogar mir als Mensch vermittelte. Die ganze Waffe wirkte wie ein hochentwickeltes Werkzeug. Sie war kompakt, aber es war klar, dass hier Technik am Werk war, die weit über das hinausging, was ich kannte. Es war, als würde sie eine Art dunkler Magie verkörpern, nur dass sie aus Metall und Elektronik bestand.
Langsam ging ich auch näher. War das diese E-VA-C, von der Kellahan gesprochen hatte? Ich hob eine Hand an, um den Glaskasten zu berühren.
»Fass das bloß nicht an!«, stieß Gil hervor und hielt meine Hand fest, Irritiert sah ich ihn an. Er erklärte düster: »Ich weiß nicht, was es mit der Waffe auf sich hat, aber mein Dämon dreht durch. Wir sollten sowieso besser von hier verschwinden, ich habe das Gefühl, dass wir nie hätten herkommen sollen.«
»Ah, ich wusste, dass ihr beide hier auftauchen würdet«, drang plötzlich Kellahans Stimme an meine Ohren. Er schien soeben den Raum betreten zu haben. Gil drehte sich um, während ich nur den Kopf hob, den Blick weiterhin auf die Waffe gerichtet.
»Was ist das?«, fragte ich Kellahan, bevor Gil etwas sagen konnte, und deutete auf die Waffe. Kellahan kam heran, eine eisige Miene im Gesicht.
»Die Zukunft, Jennifer«, antwortete er. Hinter ihm stürmte ein Haufen schwer bewaffneter Soldaten in den Raum hinein, die ihre Gewehre auf uns richteten. Einer von ihnen hielt einen kleinen Kasten in der Hand, den er auf Gil richtete. Ein brutzelndes Geräusch erklang, und Gil ging ächzend auf die Knie, sich den Metallbügel um seinen Hals haltend. Ich schluckte und ballte die Hände zu Fäusten, Gil ansehend, der offenbar Schmerzen erlitt. Kellahan grinste gehässig, ehe er auf den Glaskasten wies.
»Diese Waffe entspringt der Waffenforschung zweier miteinander verknüpfter Dimensionen, und mit ihr wird TI Großes vollbringen. Das hier-«, er tätschelte den Glaskasten, »-ist die E-VA-C, genauer gesagt die Essence Vaporizer Cannon. Wie sie funktioniert, wirst du noch früh genug feststellen. Es sei denn, dein Hybrid-Freund entschließt sich dazu, vernünftig zu sein und zu kapitulieren. Sonst wird er Bekanntschaft mit der E-VA-C machen, und ich garantiere dir, das wird ein Anblick, den keiner so schnell vergessen wird.« Er gab einen Wink.
Gil und ich wurden grob gepackt und aus dem Raum gezerrt. Die Soldaten hatten leichtes Spiel mit mir; ich war keine Kämpferin, ich ließ es einfach geschehen. Wieso auch nicht? Ich war nur ein Mensch und zudem nicht mal besonders kräftig.
Kellahan trat an die Tür und schlug sie mit einem ohrenbetäubenden Knall zu, bevor er sie gründlich verriegelte.
Tja. Das war wohl gründlich schiefgegangen.