Kellahan lehnte sich zurück. Sein durchdringender, herausfordernder Blick ruhte noch immer auf mir. Ein spöttisches Lächeln spielte um seinen Mund.
»Ich werde keine weiteren Fragen zu TI beantworten«, erklärte er schließlich. »Aber sei dir sicher, dass du in dieser Zelle bleiben wirst, bis wir alles haben, was wir von dir brauchen, oder bis der Hybrid hier auftaucht, was ja hoffentlich nicht allzu lange dauern sollte.«
Ich schluckte. Wie meinte er das?
»Alles, was ihr braucht? Was zum Teufel bedeutet das? Was habt ihr mit mir vor?«
»Oh, das ist ganz einfach«, antwortete er mit einer beängstigenden Gelassenheit. »Wir beobachten dich schon seit einer Weile. Dein Verhalten, deine Kräfte. Du bist ein einzigartiges Phänomen. Erst Hybrid, dann aber auf einmal wieder ein Mensch. Deine Rückverwandlung war unerwartet und faszinierend, um ehrlich zu sein, wussten wir nicht einmal, dass so etwas möglich ist, und wir würden gerne herausfinden, wie das vonstattenging. Nighton, er ist… eine andere Variable. Wir wollen verstehen, was euch verbindet, wie ihr funktioniert. Da gibt es noch einige Lücken.«
»Ihr werdet nie verstehen, was uns verbindet. Ich bin kein Labortier für eure kranken Experimente!«, schleuderte ich ihm entgegen, doch meine Worte schienen Kellahan nur zu belustigen.
»Ach, Jennifer, das ist doch genau der Punkt. Du bist so viel mehr als das. Es geht nicht nur um deine Verwandlungen, es geht darum, zu verstehen, was du warst, was du tief in dir verbirgst. Und glaub mir, es gibt Mittel, an diese Informationen zu kommen.«
Ein Schauer lief mir über den Rücken. »Was meinst du damit?«
Sein Lächeln wurde breiter, beinahe genüsslich. »Wir haben Möglichkeiten, die du dir nicht einmal vorstellen kannst. Technologien und Methoden, die das Bewusstsein, die Seele, wenn du so willst, bis auf den Grund analysieren können. Wir könnten jeden Gedanken, jedes Gefühl in dir freilegen, jede deiner Erinnerungen...«
Für einen Moment fühlte ich mich wie eingefroren. »Ihr könnt nicht...«
»Oh, doch«, unterbrach er mich sanft, fast als würde er einem Kind eine Lektion erteilen. »Und wir werden es tun. Es liegt alles im Interesse der Forschung, verstehst du? Die Antworten, die du in dir trägst, könnten das Verständnis in dieser Welt von Macht, Kontrolle und Existenz selbst revolutionieren. Stell dir vor, was wir alles erreichen könnten, wenn wir diese Geheimnisse entschlüsseln.«
Wut und Angst kämpften in mir um die Oberhand. Ich konnte nur noch den Kopf schütteln. Das war größenwahnsinnig!
»Ihr seid krank! Ihr habt keine Ahnung, was ihr tut. Ihr spielt mit Dingen, die ihr nicht versteht!«, warf ich Kellahan vor, doch der zuckte mit den Schultern, als ob meine Worte ihn nicht im Geringsten beeindruckten. »Möglich. Aber du wirst uns helfen, es zu verstehen. Ob du willst oder nicht.«
Ich ballte die Fäuste, jede Faser meines Körpers schrie danach, mich zu bewegen, zu kämpfen, etwas zu tun, um mich aus dieser Situation zu befreien. Überzeugt rief ich: »Ich werde euch nichts sagen. Ihr werdet nichts aus mir herausholen.«
Kellahan lächelte kalt und neigte sich vor, seine Augen fixierten meine. »Das wage ich zu bezweifeln. Du hast Schwachstellen. So wie jeder. Selbst der Hybrid, der von mir keineswegs unterschätzte Mr. – Moment, Mr. Hudson – hat eine. Sie sind die Schwachstelle. Nehme ich dem Hund den Knochen weg, will er ihn wiederhaben.«
Meine Entschlossenheit, nicht kleinbeizugeben, bekam einen Knacks, als Kellahan diese Worte sagte.
»Hudson?«, flüsterte ich. War das etwa Nightons Nachname? Wieso wusste Kellahan den, und ich nicht?
Kellahan hatte meine Miene sehr wohl gesehen, denn er grinste siegessicher, bevor er vermutete: »Er erzählt dir wohl nicht viel. Wusstest du, dass er in seinem gesamten Leben bereits zweihundertsiebenundneunzig Menschen und einhundertvierzehn Engel allein aus Langeweile und Freude getötet hat? Oder dass er ein Mitglied einer dämonischen Gang war, die sich einen Spaß daraus machte, ihre Opfer bis zum Tode mit spitzen Nägeln zu foltern? Hast du gewusst, dass er bei seiner Auferstehung zum Dämon in seinem Zorn sein komplettes Dorf dem Erdboden gleichmachte, inklusive aller Menschen? Unter ihnen befanden sich sein Menschenvater, seine damalige Geliebte, deren Eltern und sein einjähriger Sohn. Oder dass du die erste Frau bist, deren Nähe er seit über hundert Jahren zugelassen hat?«
Ich wagte es kaum zu atmen. Diese neuen Informationen waren fast zu viel. Zwar hatte ich mir immer gewünscht, mehr von Nighton zu wissen, aber das, was Kellahan da sagte, wenn es denn stimmte - Nighton... er hatte einen kleinen Sohn gehabt? Den er im Rausch seiner Auferstehung getötet hatte? Wie – wie furchtbar! Kein Wunder, dass er so geworden war! Mein Herz blutete bei dem Gedanken, und ich musste mich zusammennehmen, ein ausdrucksloses Gesicht zu wahren.
»Woher weißt du das alles?«, fragte ich.
Kellahan lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter seinem Kopf. Selbstüberzeugt sagte er: »Wir wissen vieles, Jennifer. Die Frage ist, wie gut kennst du deinen Beschützer? Weißt du überhaupt, wem du da vertraust?«
Ich öffnete den Mund, doch Kellahan war noch nicht fertig. Er lehnte sich noch weiter zurück, als würde er einen besonders unterhaltsamen Moment genießen. »Und dann wären da noch die Frauen. Mr. Hudson war früher sehr umtriebig, wie du dir bestimmt vorstellen kannst. Mit seinem Genpol konnte er scheinbar noch nie eine Straße überqueren, ohne zumindest eine Frau zu bezirzen. Kannst du dir vorstellen, dass er seit dem Tod seiner gesamten Familie jede Frau, die ihm zu nahe zu kommen drohte, getötet hat? Es gibt eine ganze Liste von Opfern, die alle auf die gleiche brutale Weise starben – ihre Herzen herausgerissen, ihre Seelen aus ihren Körpern gezogen und in die sprichwörtliche Hölle verbannt. Jedes Mal, wenn er glaubte, dass eine Frau tiefergehende Gefühle für ihn entwickeln könnte, brachte er sie um. Er scheint die Bindung, die Abhängigkeit zu fürchten, das Risiko, erneut verletzt zu werden - oder aber er ist einfach bloß ein abartiges Monster. Vielleicht ja auch beides?«
Am liebsten hätte ich mir die Ohren zugehalten. Ich kam kaum mit der Verarbeitung all dieser schrecklichen Details klar.
»Aber warum erzählst du mir das alles? Denkst du, das ändert meine Sichtweise auf ihn? Er ist nicht mehr wie früher!«, widersprach ich heftig, doch Kellahan schüttelte nur den Kopf.
„Sei doch nicht so furchtbar naiv. Warum ich dir das sage? Um dir die Augen zu öffnen, natürlich. Du glaubst, du kennst Kiran James Arvid Hudson, aber das tust du nicht. Du siehst nur, was er dir zeigt, was er selbst zu glauben wünscht. Aber er ist ein Monster, Jennifer. Einer wie er kann sich gar nicht ändern. Er wird immer das bleiben, was er ist. Ein Killer, ein Verräter, eine Kreatur ohne Gewissen.«
Kieran James Arvid Hudson. Nie zuvor hatte ich darüber nachgedacht, dass Nighton noch einen menschlichen Namen hatte - und den jetzt von Kellahan zu erfahren, einem bisher völlig Unbeteiligten, ließ mich sprachlos zurück.
Er sah mir direkt in die Augen, und ich konnte die Kälte in seinem Blick spüren. Flüsternd fuhr Kellahan fort. »Und tief in deinem Inneren weißt du das auch. Du spürst es, nicht wahr? Die Unsicherheit, die Angst, die du jedes Mal fühlst, wenn du ihn ansiehst und dich fragst, wer er wirklich ist. Und ich kann dir versichern, dass er dich genauso behandeln wird wie alle anderen vor dir. Sobald du seine letzte Grenze überschreitest, wird er dich töten. Du bist nicht anders, auch wenn er dir das einredet. Du bist nur das nächste in einer langen Reihe von Opfern.«
Ich wollte das alles nicht hören. Er kannte Nighton nicht so, wie ich es tat! Wie konnte er sich da erlauben, sich eine Meinung zu bilden, nur weil er irgendwelche Aufzeichnungen vorliegen hatte?
»Denk darüber nach«, riet Kellahan leise. »Nighton wird dir niemals die ganze Geschichte erzählen. Er wird dich benutzen, bis er dich nicht mehr braucht, und dann wird er dich zerstören. So wie er es immer getan hat. Er kann gar nicht anders. Das ist sein Naturell.«
Mit diesen Worten erhob er sich, griff nach seiner Aktentasche und verließ den Raum. Die Tür schloss sich wieder lautlos hinter ihm. Zurück blieb ich, allein in der Stille, die nur von dem wilden Schlag meines eigenen Herzens durchbrochen wurde. Meine Gedanken rasten, und die Realität meiner Lage sickerte langsam in mein Bewusstsein. Ich war gefangen, isoliert und allein, umgeben von Feinden, die bereit waren, alles zu tun, von Manipulation bis Folter, um ihre Antworten zu bekommen.
Was, wenn ich wirklich keine Chance hatte zu entkommen? Was, wenn sie alles aus mir herauspressen konnten, wie er sagte? Der Gedanke, dass Nighton vielleicht der Einzige war, der mich retten konnte, war genauso erschreckend. Denn wenn sie vorbereitet waren, wie Kellahan sagten, bedeutete das, dass er in Gefahr war, sobald er versuchte, mich zu befreien.
Ich konnte nur hoffen, dass es noch einen Weg gab, diesem Albtraum zu entfliehen. Irgendeine Chance, diese Situation zu überleben - und Kellahan zu überlisten. Aber tief in mir wusste ich, dass die Zeit gegen mich arbeitete. Und je länger ich hier blieb, desto weniger von mir würde übrigbleiben. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche.
Die Wachen luden mich wieder in meiner Zelle ab. Diesmal war ich stumm und folgsam zwischen ihnen hergegangen. Mein Kopf wog schwer von den schockierenden Informationen, die Kellahan mir gegeben hatte. Nighton hatte mir so vieles verschwiegen. Nighton. Kieran. Dieser Name schien mir fremd und vertraut zugleich, und dann auch noch so passend, irgendwie. Er hatte offenbar noch mehr vor mir verborgen, als ich je angenommen hätte. Doch nicht nur die schrecklichen Details aus seinem Leben sorgten dafür, dass die Gedanken in meinem Kopf Achterbahn fuhren. Auch die Sorge um meine Familie machte mich krank.
Die Tränen kamen plötzlich, als die Zellentür hinter mir zuglitt. Ich konnte sie nicht zurückhalten. Sie liefen meine Wangen hinunter, und ich kämpfte gegen das Schluchzen an, das in meiner Kehle aufsteigen wollte.
Die Zwillinge.
Meine Familie.
Was, wenn sie schon – nein, ich konnte diesen Gedanken nicht zu Ende denken. Ich ließ mich auf den Boden sinken und vergrub mein Gesicht in den Händen. Ich fühlte mich so hilflos, so verloren! Und ich hatte Angst um Nighton. Was, wenn er wirklich kam? Was, wenn sie ihn gefangen nahmen?
»Hey, Kopf hoch. Immerhin sind wir hier in den Deluxe-Suites«, hörte ich Gils zynische Stimme von gegenüber. »Sei froh, dass sie dir nicht das Einzelzimmer im Keller gegeben haben.«
Ich hob den Kopf. Die Tränen liefen mir immer noch über das Gesicht. Gil lag auf dem Boden, beide Beine an die Wand gelehnt und mich kopfüber ansehend. Sein schiefes Grinsen und seine entspannte Haltung machten mich nur noch wütender. »Das ist nicht lustig!«, stieß ich mit brüchiger Stimme hervor und wischte mir über die Augen. »Überhaupt nicht.«
Er zog eine Augenbraue hoch und entgegnete: »Ach komm schon, was erwartest du von mir? Dass ich dir Taschentücher reiche und 'Alles wird gut' sage?«
»Du verstehst es nicht«, schniefte ich und versuchte, die Tränen zu stoppen.
»Vielleicht nicht«, erwiderte Gil, sich hinsetzend. »Aber das hitzköpfige Geschöpf, dass ich vor wenigen Wochen in Unterstadt getroffen habe, hätte sich nicht wie ein Häufchen Elend zusammengekauert und selbst bemitleidet. Weil es gewusst hätte, dass es nichts bringt.«
Ich sah auf meine Hände. Tief in mir spürte ich, dass er Recht hatte. Kurz kehrte Schweigen ein, das ich nach einigen Sekunden unterbrach, indem ich leise sagte: »Um mich geht es nicht. Aber Selenes Diener haben mir gedroht. Dorzar hat gesagt, dass sie meine Familie umbringen, wenn ich am Freitag nicht auftauche. Ich muss hier raus, ich muss sie warnen, ich muss–«
»Klar, und wie genau stellst du dir das vor?«, unterbrach er mich direkt. »Einfach durch die Wand rennen? Glaub mir, das haben in der letzten Woche schon zwei andere versucht, und die sitzen jetzt im Keller fest.«
»Gil, bitte«, sagte ich flehend. »Es muss doch einen Weg geben. Irgendeinen!«
Gil seufzte und schüttelte den Kopf, diesmal ohne sein übliches Grinsen.
»Ich habe nur gehört, dass es mal einen Ausbruch durch einen der Lüftungsschächte gab, aber das ist lange her. Und ehrlich gesagt, die Chancen, dass du denselben Weg nimmst und dabei lebend rauskommst, sind etwa so groß wie die, dass mir eine dieser Wärterratten 'ne Kippe und dazu ein Feuerzeug gibt.«
»Ist mir egal! Dann muss ich das Risiko eben eingehen«, sagte ich und wischte mir entschlossen die letzten Tränen aus dem Gesicht. »Ich habe keine andere Wahl.«
Gil sah mich an, und für einen Moment schien sein Zynismus zu weichen. Er wies an die Decke seiner Zelle und erinnerte mich: »Du weißt, dass sie alles mithören, oder? Die Kameras, die Mikrofone – sie kriegen alles mit. Wenn du einen Plan schmiedest, dann mach's hier drin.« Er tippte sich an die Schläfe.
Ich schwieg und dachte angestrengt nach. Dann schlug ich aus Frust mit der Hand gegen das Glas. Die Zeit lief mir davon, und ich wusste, dass ich schnell handeln musste, um meine Familie zu retten. Ich musste hier raus!