Zu meiner endlosen Freude fiel am nächsten Tag aufgrund der Hitze die Schule aus. Ich vollführte einen kleinen Freudentanz, als der Anruf mich im Bad erreichte.
Alle waren noch am Schlafen, aber es war ja auch erst sieben Uhr morgens. Ich hatte kurz bei Dad und Anna reingeschaut, nur um festzustellen, dass inzwischen auch mein Vater Temperatur entwickelt hatte und mit Anna um die Wette fieberte. Sam übernachtete bei Tommy im Zimmer und Penny schlummerte seelenruhig auf der Luftmatratze neben meinem Bett. Der Einzige, der fehlte, war Nighton. Das hatte ich direkt nach dem Aufwachen feststellen dürfen. Ich fragte mich schon, ob ich es mir nur eingebildet hatte, dass er gestern Nacht in meinem Bett geschlafen hatte. Außerdem hatte ich noch keinen Zipfel von Melvyn, Evelyn oder Nivia gesehen. Angeblich sollten die sich doch auch hier aufhalten und aufpassen. Wo steckten sie dann also?
Da ich schon wach und angezogen war, entschied ich mich dagegen, mich nochmal hinzulegen, und widmete mich lieber dem Frühstück. Gut gelaunt briet ich Speck und Eier in der Pfanne. Eigentlich war ich überzeugte Vegetarierin gewesen - bis Sekeera in meinen Kopf eingezogen war. Nun ja. Fleisch zu essen hatte ich mir irgendwie beibehalten, und das, obwohl ich mir meinen Körper nicht länger teilte.
Ich war gerade dabei, Obst für einen Obstsalat zu schnippeln, da tauchte Nighton völlig unerwartet in der offenstehenden Küchentür auf und erschreckte mich so sehr, dass ich das Messer fallen ließ.
»Ich bin's doch nur!«, rief er und hob die Hände an, als ich schnaufend das Messer wieder aufnahm. Er trug ein T-Shirt und eine Jogginghose und wirkte, als wäre er aus dem Bett gefallen. Zumindest stand ihm das Haar in alle Richtungen ab. Nighton fragte verwundert: »Musst du nicht zur Schule?«
Sobald ich mich beruhigt hatte, erklärte ich, dass die Schule aufgrund der Hitze spontan ausfiel und schob am Schluss die Gegenfrage hinterher: »Wo kommst du eigentlich her?«
Nighton streckte sich, bis ich es in seinen Knochen knacken hörte.
»Ich bin aufs Sofa umgezogen.« Er rieb sich mit schmerzverzerrter Grimasse den Nacken und fügte hinzu: »Du hast mich ständig getreten und mir deinen verdammten Arm ins Gesicht gehauen. Und als du mir auf die Schulter gesabbert hast, hatte ich erst mal genug.«
Entsetzt starrte ich ihn an und stieß hervor: »Tut mir leid!« Wie peinlich!
Nighton lachte schnaubend, winkte ab und versicherte mir spöttisch: »Nicht so schlimm, nächstes Mal bin ich mit Schonern und Spucktuch ausgestattet, keine Sorge.«
Als ich nur peinlich berührt den Kopf senkte, kam er langsam auf mich zu, bis er neben mir anhielt und sich auf der Theke abstützte.
»Ehrlich gesagt fand ich es sogar ein bisschen niedlich. Von deinen Schlägen abgesehen. Du hast eine stabile Rechte.« Er fuhr mir mit dem Rücken seines Zeigefingers sachte über die Wange, griff sich einen Apfel, biss in ihn hinein und verschwand mir zuzwinkernd aus der Küche.
Fast instinktiv berührte ich die Stelle an meiner Wange, ehe ich blöd grinsend nach unten schaute und damit fortfuhr, die Banane kleinzuschneiden. Durch meinen Magen und Unterleib flogen allerhand bunte Schmetterlinge, und auf meiner Wange kribbelte es verheißungsvoll. Wie schaffte er es bloß, dass mein Körper so auf ihn reagierte?
Mit den Gedanken bei Nighton machte ich das Frühstück fertig und deckte den Tisch. Danach weckte ich Thomas, Penny und Sam und schaute nach Anna und Dad, die beide nichts essen wollten. Auch Tommy wälzte sich stöhnend in seinem Bett herum, allerdings eher aus dem Grund, dass er keine Lust zum Aufstehen hatte.
Nach dem Frühstück, das ziemlich still ablief, verschwanden Penny und Sam nach vorne ins Wohnzimmer, in das Nighton sie zitiert hatte. Ich wollte auch dazustoßen, allerdings musste ich mich erst um Anna kümmern, die ihr gesamtes Bett vollgeschwitzt hatte. Nachdem ich es frisch bezogen und sie wieder reingesteckt hatte, ging ich zu den anderen, die immer noch vorn im Wohnzimmer saßen. Tatsächlich waren auch Melvyn und Evelyn mit dabei. Die beiden saßen zusammen auf der einen Couch und lauschten Nighton, genau wie Penny und Sam, die ihnen gegenüber saßen. Schon beim Eintreten merkte ich, dass eine Art nervöse Anspannung herrschte, und ich fragte mich, was wohl los war.
Nighton verstummte kurz, als er mich erblickte.
»Setz dich«, bat er mich. Neugierig kam ich der Aufforderung nach und setzte mich in einen der Sessel. Plötzlich hafteten mehrere Blicke auf mir. Das verwirrte mich. Die sahen mich ja geradezu an, als würden sie erwarten, dass ich im nächsten Moment wie eine Bombe an die Decke gehen könnte!
Nighton schaute nachdenklich drein, musterte mich einen Moment und fing dann an zu sprechen.
»Wir wollen etwas mit dir besprechen. Ich habe dir gestern doch von dem Yagransin erzählt. Du erinnerst dich?«
Ich hob gespannt eine Augenbraue an und bejahte.
»Also - ich reise heute noch mit Penny nach Thul’Zar. Das ist die am südlichsten gelegene Stadt Unterstadts. Sie steht auf dem Wasser und ist sehr nahe am Abgrund in den Äther gelegen. Dort soll angeblich die Quelle des großen Yagransin-Vorkommens liegen und wir sollen einen Spion der Engel treffen, der uns mehr dazu sagen kann.«
Ich nickte, wartend, denn noch hörte ich den Grund für die nervöse Anspannung nicht heraus. Nighton verengte die Augen, als ich keine Miene verzog. Dann holte er tief Luft und fügte vorsichtig hinzu: »Tja, also - Jennifer, hass mich nicht, bitte, ich weiß, wir haben einen Deal miteinander. Aber das hier ist eine Sondersituation, weil es Unterstadt betrifft, und dich jetzt mitzunehmen, würde eine neue Dimension des Riskanten schaffen.«
»Genau!«, pflichtete Penny Nighton bei. »Außerdem ist diese Stadt echt nicht sehenswert, ich gehe nur mit, weil ich ein bisschen Serpentae spreche und übersetzen soll.«
Ich öffnete schon den Mund, da kam Sam mir zuvor und rief: »Wir zwei machen uns in Oberstadt einen ganz wundervollen Tag! Heute beginnt das Ahnenfest, das, ähm, soll richtig toll und spannend sein! Hat Penny gesagt, und die wird es ja wissen.« Er lachte unbeholfen.
Langsam verengte ich die Augen und schaute umher. Ich wusste, was hier lief. Die wollten mich nicht mitnehmen und es mir schönreden!
»Ein Ahnenfest also, so-so«, begann ich mit gefährlich ruhiger Stimme, ehe ich Nighton ansah, mich nach hinten lehnte und die Arme auf den Sessellehnen ablegte. Der schien sich schon zu wappnen. Allerdings - auch ich konnte dazulernen. Und das hatte ich diesmal wirklich.
Also fuhr ich unbekümmert fort: »Kein Problem. Als ob ich freiwillig Unterstadt betrete, da kann ich auch gleich zu Selene gehen. Viel Spaß in dem Loch, ich stehe auf Feste in Oberstadt. Solange ich Vir Vanah kriege, bin ich bei allem dabei.«
Lächelnd schaute ich in die Runde. Ungläubige Blicke wurden ausgetauscht.
»Du bist nicht sauer?«, hakte Nighton erstaunt nach.
»Wir dachten, du gehst an die Decke«, stimmte auch Evelyn stirnrunzelnd zu. »Nach dem, was Nighton gesagt hat-«
Ich fiel ihr ins Wort und gab zu: »Na ja, toll finde ich es nicht, aber ich verstehe es. Ich wäre euch nur ein Klotz am Bein, erst recht in Unterstadt. Und eure Missionen haben die Angewohnheit, nicht gerade glatt zu laufen, und wenn ich dabei bin, geht wahrscheinlich alles den Bach runter. Also nein, ich bin nicht sauer.«
»Sehr gut!«, fand Nighton. Er klang ungemein erleichtert. »Dann mach dich fertig, wir brechen in fünfzehn Minuten auf. Es gibt nämlich ein exaktes Zeitfenster, in dem wir Unterstadt unbemerkt betreten können, und das ist sehr, sehr schmal. Und ihr drei geht zum Haus und unterstützt die Erzengel bei der Wand, klar?« Der letzte Satz galt Evelyn, Melvyn und Sam, die beinahe synchron nickten und sich erhoben.
»Sauf nicht so viel Wein, Jeff!«, stichelte Evelyn im Vorbeigehen, der ich dafür ein Kissen an den Rücken warf, was ich postwendend zurück ins Gesicht bekam. Grinsend erhob ich mich, versprach, mich zu beeilen und ging in mein Zimmer, um mich umzuziehen. Keine fünf Sekunden später klopfte es.
»Ja?«, sagte ich und zog mir rasch eins meiner Metallica-Bandshirts über den Kopf. Nighton trat ein. Er lächelte mich warm an, als er mich erblickte, woraufhin ich das übliche Kribbeln in der Magengegend verspürte.
»Sorry für die Störung«, entschuldigte er sich. »Ich wollte dir nur für deine - für deine Einsicht danken. Irgendwie hatte ich damit nicht gerechnet und mir schon allerhand Gegenargumente zurechtgelegt. Selbst die anderen habe ich mit meiner Sorge schon angesteckt.« Er grinste schief.
Augenrollend schloss ich den Knopf meiner Jeans und erwiderte: »Ich bin manchmal vielleicht nicht die hellste Kerze auf der Torte, aber selbst diesen Grad der Intelligenz darfst du mir zugestehen, immerhin bin ich erst vorgestern gerade so mit dem Leben davongekommen und habe nicht vor, das so schnell zu wiederholen. Ich habe meine Lektion gelernt. Du brauchst dich also nicht bedanken. Aber beim nächsten Mal bin ich nicht so gnädig und lasse dich mit deiner Deal-Brecherei davonkommen! Ha, reingelegt. War ein Spaß. Also - teilweise. Kommt ganz drauf an, wobei du mich wieder außen vor lassen willst.« Ich grinste frech.
Nightons Lächeln wurde breiter. Plötzlich trat er auf mich zu, ergriff mich an den Schultern und hauchte mir einen sanften Kuss auf die Stirn. Ich erstarrte. Sein Atem war noch auf meiner Haut zu spüren, wie ein leiser Nachhall. Ich hielt die Luft an, während ich zu ihm aufschaute.
Nighton erwiderte meinen Blick, ehe er eine Hand anhob und mir sachte eine vorgefallene Haarsträhne hinters Ohr schob.
»Wieso siehst du mich so an?«, wollte er wissen und legte den Kopf schief. In seinen Augen funkelte es. Ich schluckte, verscheuchte die Schmetterlingswolke und musste den Drang unterdrücken, nach seiner Hand zu greifen und sie festzuhalten. Ein Teil von mir wünschte sich, er hätte mich auf den Mund und nicht auf die Stirn geküsst. Aber dafür waren wir vermutlich noch nicht so weit. Also beschloss ich widerwillig, das Thema zu wechseln und erinnere Nighton: »Haben wir nicht ein enges Zeitfenster?«
Er nickte und ließ mich sofort los, was ich zutiefst bedauerte. Wer wusste schon, was aus diesem Moment hätte werden können?
»Du hast Recht«, stimmte er mir zu, einen Blick auf die Wanduhr werfend. Dann schickte er sich an, zu gehen, warf mir aber nochmal ein vielsagendes Lächeln zu, ehe er mein Zimmer verließ. Ich atmete tief durch.
Himmel. Was wurde das hier nur?
Ich schaute noch einmal nach Anna, warf meinen Bruder erneut aus dem Bett, der kurz davorstand, seine Vorlesung zu verpassen und brachte meinem Vater eine neue Kanne Tee, ehe ich ihm erklärte, dass ich für den Rest des Mittags in Oberstadt sein würde. Ob er das so verstanden hatte, wusste ich nicht, immerhin schwebte er auf einer fiebrigen Wolke herum. Dann begab ich mich zu Penny und Nighton, die vorn im Eingangsbereich warteten. Penny lächelte mich breit an. Sie trug eine merkwürdige weiße Cargohose mit Taschen, dazu ein orangenes Top und eine blaue Weste oben drüber, womit sie mehr nach Anglerurlaub als nach Mission nach Unterstadt aussah. Auch Nighton hatte sich nicht gerade in seine typischen Sachen geworfen. Er trug ein bis zu den Ellbogen hochgekrempeltes graues Hemd und oben drüber eine dunkelgraue Weste, eine blaue Jeans und schwarze Stiefel, mit denen er bestimmt gut zutreten konnte. Über der Schulter hatte er einen halb gefüllten Seesack hängen, den er an zwei Schnüren mit einer Hand festhielt.
Ich schaute an mir hinab. In meinen Turnschuhen, der Jeans und dem Bandshirt wirkte ich wie ein kleiner Groupie. Tja. Egal!
Nighton lächelte mich sanft an, sobald ich zu ihnen stieß.
»Bist du soweit? Gut. Das ist der Plan: Wir setzen dich ab und reisen direkt nach Unterstadt weiter. Mach da, was du willst, dort bist du sicher. Nur pass mit dem Wein auf, du weißt, wie das beim letzten Mal geendet hat.« Plötzlich grinste er ein bisschen, und auch ich erinnerte mich und wurde leicht rosa.
Er fuhr fort.
»Wenn wir alles erledigt haben, kommen wir dich holen. Das sollte nicht länger als ein bis zwei Stunden dauern. Wenn irgendwas ist, wende dich an Michael oder Gabriel. Die beiden sind auf alle Fälle dort. Keine Alleingänge durch Oberstadt, ja? Da sollte dir zwar theoretisch nichts passieren, aber bei dir weiß man nie.«
Bei seinem letzten Satz konnte ich nicht anders als mit den Augen zu rollen. Dennoch nickte ich brav und sagte: »Alles klar.«
Nighton winkte mich zu sich. Als ich bei den beiden stand, ergriff er sowohl Penny als auch mich am Arm. Sofortr setzte das altbekannte Rotieren ein.
Es vergingen keine zwei Sekunden, bis ich merkte, dass etwas nicht stimmte. Das Farbspektrum verzog und entzerrte sich zwar wie gewohnt, doch es war, als würde mein Körper gegen eine Art unsichtbare Barriere prallen. Kaum ein Blinzeln später ging es dann auch schon rasant abwärts. Penny, Nighton und ich schlugen bäuchlings auf dem Boden auf. Der Aufprall war so heftig, dass er mir jegliche Luft aus den Lungen presste.
»Was?! Nein!«, hörte ich Nighton entsetzt rufen. Dann ertönte über uns ein metallisches Rattern, und bevor ich begriff, was passiert war, zog Nighton mich auf die Beine.
Ich erkannte direkt, wo wir standen: Das hier war nicht der Himmelsturm, wir waren nicht in Oberstadt - das hier war Unterstadt. Das hier war der Dunkelturm.
»Was ist passiert?«, ächzte ich, mir die Rippen haltend und nach wie vor nach Luft japsend. Nighton starrte auf den Teleporter, dann an die Decke des Turms und wieder auf den Teleporter. Dann drehte er sich zu Penny um, die kreidebleich geworden war.
»Ich weiß genau, was das war. Scheiße! Ich bin ein Idiot!«, fluchte Nighton aus dem Stehgreif los. »Wegen des verdammten Ahnenfests wurden die Pfade nach Oberstadt blockiert. Wie bei jeder von diesen albernen Feiern, damit die Dämonen nicht einbrechen und alles zerstören!«
Verdattert blickte ich zwischen Penny und Nighton hin und her. Penny war inzwischen kreidebleich geworden.
»Na und? Dann bringt mich halt zurück nach London, ist doch halb so wild?«
»Halb so wild?« Nighton stöhnte auf. »Das geht nicht, hast du schon unser Zeitfenster vergessen? Es ist unendlich schwer, in die Stadt reinzukommen, wir können jetzt nicht zurück. Außerdem könnte man uns bemerken, dieses Risiko dürfen wir nicht eingehen.«
Er lief hektisch auf und ab. Penny riss die Augen auf, als er stehenblieb und mich musterte. Als wäre ihre eine Eingebung gekommen.
Fast entsetzt fragte sie: »Du denkst doch nicht etwa daran, sie-«
»Doch, Penny, welche Wahl haben wir denn? Sie zurücklassen? Verdammt, nein, das geht nicht!«
Nightons angespannter Blick durchbohrte fast, und bei seinen folgenden Worten ereilte mich eine Mischung aus unverhoffter Vorfreude und Angst: »Sie kommt mit uns mit. Es gibt keine andere Möglichkeit.«