Die folgenden Tage verliefen ungewöhnlich ruhig. Fast schon irritierend ruhig, als hätte das Chaos eine Pause eingelegt. Keine Verfolgungen, keine Entführungen, keine Drohungen, keine Verletzungen, keine Folter. Niemand, der mich anschrie. Ich hätte mich darüber freuen sollen, und das tat ich ja auch... irgendwie. Aber in Wahrheit war diese Stille fast zu laut.
Dankbar war ich trotzdem. Es gab mir Zeit. Zeit, endlich mal durchzuatmen – oder zumindest es zu versuchen – und einige Dinge zu erledigen.
Ich meldete meinen Wohnsitz um, denn es gab kein 'Zuhause bei meinem Vater' mehr. Jetzt war es Jasons Adresse im Light-Monopol, die ich als vorübergehenden Wohnsitz angab. Ich richtete einen Postnachsendeauftrag ein, rief bei der Krankenkasse an, informierte die Schule. Jeder Anruf fühlte sich wie eine Bestätigung an, dass sich mein Leben unwiderruflich verändert hatte. An dem Tag, an dem mein Dad nach Suncliff kam, führte ich ein endloses Gespräch mit dem Direktor und dem Vertrauenslehrer, und obwohl ich mehrere Wochen gefehlt hatte, durfte ich zurück in die Schule. Vielleicht, weil ich vorher immer präsent gewesen war und gute Noten vorzuzeigen hatte.
Neben den üblichen Formalitäten kamen noch die Dinge dazu, die ich nie zuvor bedacht hatte – Dinge, die mich daran erinnerten, dass ich jetzt wirklich allein war. Doch da hatte ich das Glück, Nighton und Jason auf meiner Seite zu haben, die mir dabei halfen. Ich musste unter anderem sicherstellen, dass meine TV-Lizenz auf dem neuesten Stand war, weil man hier in England nicht mal einen Fernseher haben kann, ohne diesen blöden Wisch zu besitzen. Mietversicherungen, Council Tax – Dinge, von denen ich nicht mal wusste, dass sie existieren, hatten sich plötzlich in meinen Alltag gedrängt. Das alles gehörte jetzt zu mir, zu meinem neuen Leben.
Wenn ich mich nicht gerade mit den Behörden herumschlug, verbrachte ich viel Zeit mit Sam, Penny und Evelyn. Wir kochten, machten Witze, redeten über die sinnlosesten Dinge. Es fühlte sich gut an – zumindest meistens.
Nivia schleppte mich zum Shoppen, ich setzte Isara, die plötzlich Anfang November auftauchte, einen Lidstrich, der ihr fast zu gut stand, und ich freundete mich ein bisschen mehr mit Jason an. Und Nighton... tja, er war da. Immer. Er war und blieb mein Fels in der Brandung, die einzige verlässliche Konstante, die ich kannte. Ich liebte ihn mit all meinen Fasern, das tat ich wirklich, und wenn ich ihn nicht bei mir gehabt hätte, hätte ich wirklich für nichts garantieren können. Allerdings blockte ich fast jedes tiefergehende Gespräch ab, das er zu mir suchte. Ich wollte nicht über meine Probleme nachdenken oder reden - auch wenn ich das hätte tun sollen, immerhin hatte ich schon oft genug die Konsequenzen für mein Schweigen zu spüren bekommen. Doch in dieser Zeit reichte es mir, dass er da war – für das, was ich brauchte, nämlich die körperliche Auslastung, die mich davon abhielt, tiefer nachzudenken und in die Gedankenspiralen abzutauchen, die in meinem Kopf aufklafften.
Anfangs noch versuchte Nighton, mit mir zu sprechen, doch ich blockte ab. Reden? Was hätte das geändert? Ich wollte die Sorgen um meinen Dad, die Angst vor den Zwillingen, den Menschen, den Frust über das, was ich nicht sein konnte, einfach nicht spüren. Ich brauchte unbedingt eine Pause. Und er ließ es geschehen. Vielleicht fand er es unvernünftig, aber wenn es ihn gestört hätte, hätte er 'Nein' gesagt. Im Bett tat er er es jedenfalls nie. Und es gab viele Nächte, in denen er die Chance dazu gehabt hätte.
Die Tage wurden… seltsam ruhig. Keine übernatürlichen Ereignisse. Keine plötzlichen Notfälle. Es war fast friedlich. Zu friedlich.
Und so vergingen die ersten drei Novemberwochen. Ein Tag war wie der andere. Tagsüber ging ich zur Schule, versuchte mich zu konzentrieren, erledigte meine Hausaufgaben, telefonierte dienstags und donnerstags mit Anna und Thomas – und auch mit Grandma, die all die Veränderungen kommentarlos hinnahm, ohne es auch nur zu hinterfragen. Jeden Abend machte ich Yoga im Mittelschiff der Kirche, versuchte, irgendwie zur Ruhe zu kommen. Ich trieb Blödsinn mit meinen Freunden, aber nachts... Schlafen? Fehlanzeige. Zu viel Unruhe in mir, zu viele Gedanken.
Nur leider gab es da eine Sache, die ich nicht im Griff hatte: Meinen Alkoholkonsum. Ich hatte nämlich den Beichtstuhl für mich entdeckt, in dem Jason seinen Weinvorrat aufbewahrte. Es war wie ein kleiner Zufluchtsort. Nighton wusste darüber natürlich Bescheid, da er mich mehrfach mit einem Weinglas in der Hand erwischte. Und er fand das gar nicht gut. Aber darüber wollte ich nicht diskutieren. Es war mein Weg, alles ein wenig erträglicher zu machen, so bescheuert er auch war. Immerhin hatte mein Dad mir vorgelebt, was Alkoholismus mit einem anstellen konnte.
Zusätzlich fand ich einen neuen Platz, an dem ich mich wohlfühlte. Da wir alle eingepfercht waren und uns vor den Zwillingen und den Menschen verstecken mussten, konnte ich nicht raus. Und das... das machte mich wahnsinnig. Also stieß ich auf einer Erkundungstour in der Kirche auf eine unscheinbare Holztür, die zum Glockenturm führte. Jeden Abend nach dem Yoga stieg ich die Leitern hoch, bis ganz nach oben, wo ich wenigstens etwas frische Luft spüren konnte. Der Raum dort war klein, quadratisch, schummrig, voller Staub. Kaum Licht kam durch die schrägen Lamellen vor den Fenstern. Es war eng und düster, aber irgendwie ziemlich gemütlich. Ich platzierte Kerzen und Decken und machte es mir heimelig. Auch wenn ich der massiven Glocke über mir anfangs nicht traute, ließ diese Angst bald nach.
Oben verbrachte ich Stunden, las in Jasons Büchern, machte Hausaufgaben – oder trank Wein. Anfangs hatte ich eine Suchaktion ausgelöst, weil niemand wusste, dass ich den Glockenturm entdeckt hatte. Als sie mich schließlich fanden, war das Chaos perfekt. Ich bekam einige sehr gereizte Blicke ab, besonders von Nighton. Er fand das alles gar nicht lustig. Das merkte ich sofort. Aber was sollte ich tun? Es war der einzige Ort, wo ich ganz allein einfach nur ich sein konnte.
Freitag, der neunzehnte November, war der erste Tag seit Langem, an dem mein Nachmittag nicht mit organisatorischem Kram vollgestopft war. Das störte mich sogar ein wenig, doch da gab es ja Wege und Mittel. Fast überpünktlich beendete Mr. Harris den Unterricht, und ich war die Erste, die aus dem Kursraum stürmte. Draußen vor dem Schulgebäude wartete Penny schon auf mich, winkte mir fröhlich zu und plapperte auf dem Heimweg ununterbrochen über eine angebliche Sichtung der Zwillinge in Oberstadt. Doch ich hörte nur mit halbem Ohr zu – meine Gedanken waren längst bei Nighton. Unser... nennen wir es Nachmittagsprogramm, war der wortwörtliche Höhepunkt eines jeden Tages. Ehrlich gesagt, das Einzige, worauf ich mich überhaupt noch freute.
Mit einem Kribbeln auf der Kopfhaut stieß ich die Portalflügel der Kirche auf. Die Vorfreude durchströmte mich so heftig, dass ich kaum ruhig bleiben konnte. Ich wollte nur noch eins: zu ihm, mit ihm.
Als Penny und ich das Mittelschiff betraten, sah meinen hochgewachsenen Yindarin sofort. Er stand bei Jason am Altar und hielt etwas in der Hand, doch ich konnte von hier nicht erkennen, was es war. Beide blickten auf, als wir hereinkamen, und Nightons Blick kreuzte direkt den meinen. In diesem Moment wussten wir beide genau, was der andere dachte. Es war fast wie Gedankenübertragung. Normalerweise hätte er jetzt mit einem mehrdeutigen Grinsen mit dem Kopf in Richtung Treppe geruckt, damit wir... na ja, weitermachen konnten, wo wir letzte Nacht aufgehört hatten. Doch heute winkte er mich zu sich heran. Etwas verwirrt blieb ich stehen. Die letzten Nachmittage hatten immer unten im Bett begonnen – warum änderte er das jetzt? Hatte ich etwas verpasst?
Widerwillig setzte ich mich in Bewegung, während Penny an mir vorbeiging und direkt in die Küche verschwand.
»Hm?«, brummte ich, als ich schließlich bei Jason und Nighton ankam. Jason lächelte mir zu, und Nighton strich mir zur Begrüßung flüchtig mit dem Zeigefinger über die Wange. Ihm entging mein unzufriedener Blick nicht, und ein schiefes Grinsen entstand auf seinen Lippen.
»Wie war die Schule?«, erkundigte er sich sanft, und meine Verwirrung wuchs noch weiter. Wollte er jetzt ernsthaft Smalltalk führen? Die Zeit könnten wir deutlich besser nutzen...
»Wo fange ich an? Ich habe Hüpfkästchen gespielt, mein Sandwich geteilt und die Sporthalle angezündet. Ein normaler Freitag«, erwiderte ich sarkastisch und grinste breit.
Nighton lachte leise, während Jason nur zögerlich lächelte. Er war mit meinem Sarkasmus noch nicht so vertraut.
Nighton ließ seinen Blick kurz auf meinen Lippen ruhen und raunte dann: »Schön, dass du Spaß hattest.«
Mein Grinsen wurde noch breiter. Ich deutete auf den Boden unter meinen Füßen und erwiderte unverblümt, obwohl wir nicht allein waren: »Ein Stockwerk weiter unten hätte ich noch mehr Spaß.«
Jason räusperte sich hörbar, als hätte er genau auf diesen Moment gewartet. Er legte mir die Hand auf die Schulter, beugte sich zu mir und flüsterte: »Vergiss nicht, das hier ist ein Haus Gottes. Keine Unartigkeiten unter seinem Blick.« Das leichte Grinsen auf seinen Lippen ließ mich erkennen, dass er es nicht ernst meinte, und dann wandte er sich um und ging. Sowieso hätte ich laut aufgelacht, wenn er das kein Witz gewesen wäre. Sowas von jemandem, der Handschellen an seinem Bettpfosten hängen hatte? Oh bitte!
Kaum war Jason außer Sicht, schaute ich direkt zu Penny, die in der Küche stand und sich ein Müsli machte. Sie bemerkte meinen Blick, wurde rot und verdrehte die Augen.
»Oh je, schon wieder? Könnt ihr euch nicht mal mit etwas beschäftigen, bei dem man angezogen bleibt?!« Penny machte ein leidendes Gesicht, schnappte sich Milch, Schale und Löffel und verschwand so schnell sie konnte aus dem Mittelschiff.
Sobald wir allein waren, zog ich mir die Jacke aus und ließ meinen Blick zu Nighton wandern. Seine Präsenz zog mich an, meine Gedanken kreisten nur noch um das Eine.
»Gleich hier? Auch gut«, begann ich und näherte mich ihm.
»Jen-«, begann er schwach grinsend, aber ich ließ ihn nicht ausreden, sondern zog ihn zu mir runter und küsste ihn mit einer Dringlichkeit, die keine Worte brauchte.
»Jennifer-«
»Scht«, unterbrach ich ihn, während ich den Saum seines T-Shirts raffte. Doch plötzlich packte er meine Hände und richtete sich auf, so groß und unnahbar, dass ich ihn nicht mehr erreichen konnte. Enttäuscht ließ ich mich zurückfallen und sah ihn an, einen Schmollmund aufsetzend.
»Was?«, murrte ich, doch seine Antwort ließ auf sich warten. Nighton stieß laut Luft aus und schüttelte den Kopf.
»Ich will dich eigentlich was fragen«, erklärte er, woraufhin ich einen düsteren Blick aufsetzte. Das klang verdächtig nach 'wir müssen reden', und das wollte ich gerade überhaupt nicht. Misstrauisch sah ich zu ihm hoch. Nighton hingegen musterte mich ruhig. Mein Körper war immer noch auf das fixiert, was wir hätten tun können, aber seine Worte zogen meine Aufmerksamkeit widerwillig auf sich.
»Aha«, machte ich. »Und was?«
Nighton ließ meine Hände los und griff nach einem kleinen Dreifuß. Engelspost. Schon wieder? Ich runzelte die Stirn. Irgendetwas sagte mir, dass das nichts Gutes bedeuten konnte. Trotzdem war meine Neugier nun stärker als die Enttäuschung über seine Zurückhaltung.
Also biss ich an und fragte: »Worum geht’s?«
»Um ein Treffen einer Handvoll Engel in hohen Positionen«, erklärte Nighton. »Eine Art Krisengipfel wegen der Menschen. Noch dieses Wochenende. Ich soll auch hin.« Seine Faust schloss sich um den Dreifuß, als er weitersprach. »Und ich möchte, dass du mich begleitest.«
Erstaunt schaute ich Nighton an. Ich hatte mit allem gerechnet, nur nicht damit, dass er mich mitnehmen wollte. Ein breites Lächeln stahl sich auf mein Gesicht, und unerwartete Vorfreude durchströmte mich.
»Natürlich komme ich mit!«, versprach ich eifrig und spürte mit einem Mal wieder Aufregung in mir keimen. Das klang nach Abwechslung, nein, nach Ablenkung - und genau die suchte ich ja so verzweifelt.
Nighton lächelte sanft. »Davon bin ich ausgegangen. Ich wollte dich trotzdem fragen. Deinen Koffer habe ich auch schon gepackt. Wir reisen morgen früh ab.«
Er stellte den Dreifuß auf dem Altar ab, umrundete mich und ging in die Küche. Ich blieb an Ort und Stelle stehen und schaute ihm hinterher, die Hände in die Hüften stemmend. »Und wohin geht’s?«
»Nach Deutschland, zum Schlund vom Fliedermeer. Du weißt schon, eins der anderen Internate für Engel und Dämonen.«
Ich hob eine Augenbraue an. »Deutschland? Das Land der Biertrinker und Weißwurstfresser?«
Nighton grinste. »Unter anderem.« Ich hatte noch nie Deutschland besucht, aber die Vorstellung, dorthin zu reisen, weckte in mir eine neugierige Aufregung.
Während ich Nighton beobachtete, wie er sich ein Brot mit Käse machte, fiel mir auf, dass ich ihn bisher nie beim Essen gesehen hatte. Das war irgendwie seltsam. Er setzte heißes Wasser auf und goss es in eine Tasse, in der ein Beutel Earl Grey hing – der Duft stieg in die Luft und war fast hypnotisierend. Doch anstatt zu essen, kam er mit beidem auf mich zu. Die Tasse stellte er auf dem niedrigen Tisch zwischen den Sofas ab, das Brot hielt er mir entgegen.
»Bitte, iss das. Du hast seit Tagen nichts Richtiges mehr gegessen.« Seine Stimme klang zwar weich, aber entschlossen. Das war nicht einfach eine Bitte - es war ein Befehl. Und das mochte ich ganz und gar nicht.
Ich verschränkte die Arme, keine Anstalten machend, das Brot zu nehmen. »Ich habe keinen Hunger«, widersprach ich trotzig.
»Du kannst nicht nur von Wein leben, Jen.« Sein Gesichtsausdruck wurde ernster. »Ich habe deinem Frustfasten genug zugesehen. Jetzt iss.« Mit Nachdruck hielt er mir das belegte Brot hin, und seine Augen durchbohrten mich förmlich dabei.
Unwohl schob ich meine Hände in die Taschen. Er hatte ja recht, ich hatte seit Dienstag kaum gegessen, aber Frustfasten? Das war übertrieben. Mein Hunger war halt... weg.
»Ich habe keinen Hunger«, wiederholte ich, doch meine Worte klangen hohl. Mit einem Mal war all die aufgeregte Energie, die ich noch beim Betreten der Kirche verspürt hatte, gewichen. Ich fühlte mich matt und kraftlos. Nicht mal meine Streitlust war mir geblieben.
Nighton nahm meine Hand und drückte das Brot hinein. In der nächsten Sekunde sagte er mit fester Stimme, und mir dabei in die Augen sehend: »Iss. Oder... ich schlafe nicht mehr mit dir.«
Einen Moment lang war ich sprachlos. Dann riss ich den Mund auf. Pure Empörung durchflutete mich. »Was? Das ist nicht dein Ernst!« Ich konnte fühlen, wie die Hitze in meine Wangen stieg, und das brodelnde Gefühl von Ungerechtigkeit wuchs. »Du bist ein Arsch! Das ist Erpressung – nein, Folter!«
Nighton blieb ruhig, doch ein verzweifeltes Grinsen zog über sein Gesicht, als würde er die Ironie der Situation mehr für sich selbst als für mich genießen. »Ja, vielleicht ist es das«, antwortete er, ohne die Augen von mir abzuwenden. »Was anderes fällt mir aber nicht ein, um dich zu kriegen. Du lässt mir keine Wahl, als die harten Geschütze aufzufahren.«
»Keine Wahl?« Ich schnaufte wütend. »Und ob! Du weißt genau, dass ich das brauche, weil ich-« Ich unterbrach mich, biss mir auf die Lippe, um den nächsten Satz zu unterdrücken. Ich wollte nicht, dass er sah, wie sehr mich diese eigentlich recht harmlose Androhung traf. Doch es war schon zu spät.
»Ja, ich weiß genau, was du gerade sagen willst.« Sein Lächeln verschwand, und in seinen Augen entstand eine drängende Sorge, die mich nicht losließ. »Aber genau deswegen mache ich das. Jen, du isst nichts, du kümmerst dich nicht um dich selbst. Du nutzt Sex dafür, um nicht mit mir reden zu müssen. Bis zu einem gewissen Grad kann ich das tolerieren - aber wie kannst du von mir erwarten, dabei zusehen, wie du dich selbst kaputtmachst?«
Ich wollte widersprechen, ihn anschreien, ihm sagen, dass er keine Ahnung hatte – doch ich konnte es nicht. Er hatte recht, und das machte mich noch wütender. »Du kannst nicht einfach...« Meine Stimme brach ab, und ich merkte, wie meine Hände zitterten, während ich das Brot anstarrte. »Das ist unfair.«
»Unfair?« Nighton ließ ein bitteres Lachen hören, dann trat er einen Schritt auf mich zu. »Unfair ist, dich so sehen zu müssen. Zu wissen, dass du leidest, und keine Ahnung zu haben, was ich tun soll.« Er griff sanft nach meiner Hand, die immer noch das Brot umklammerte, und sah mich ernst an. »Jen, ich kann nicht mehr nur danebenstehen und zusehen. Wenn sowas banales wie Sexentzug das Einzige ist, was dich dazu bringt, auf dich zu achten... dann geht es wohl nicht anders.«
Ich knurrte leise. »Du bist grausam.«
Nighton schüttelte den Kopf und entgegnete entschlossen: »Nein. Grausam wäre es, nichts zu tun. Dich einfach in deinem Schweigen und deinem Hunger verharren zu lassen. Ich weiß, dass irgendwas dich quält, aber du sagst nichts. Also zwinge ich dich, zumindest körperlich nicht zu verschwinden.« Er hob meine Hand und drückte sie leicht, das Brot immer noch zwischen uns. »Iss. Das ist alles, was ich will.«
Ich stand da, spürte den Kloß in meinem Hals wachsen und die Schwere seiner Worte auf meinen Schultern lasten. Es war so viel leichter, wütend zu sein, ihn zu hassen für das, was er tat. Aber die Sorge in seinen Augen schnitt durch all meine Wut, ließ mich mit der Realität zurück, die ich nicht zugeben wollte.
Mit zitternden Fingern brachte ich das Brot schließlich zu meinem Mund und nahm einen kleinen Bissen. Es schmeckte nach nichts, aber das war nicht der Punkt. Nightons Ausdruck veränderte sich, als ob er ein Stück seiner eigenen Erleichterung in diesem kleinen Bissen gefunden hätte. »Danke«, murmelte er leise, bevor er sich abwandte, um nach unten zu gehen. Ich stand da, das halbe Brot noch in meiner Hand, und fühlte mich plötzlich so erschöpft, als hätte ich einen Krieg geführt – und verloren. Einen Krieg um ein Brot.
Ich stand da, immer noch an derselben Stelle, das verdammte Brot in meiner Hand, als wäre es ein Stein, der mit jedem Moment schwerer wurde.
Mein Blick blieb daran haften, obwohl mein Kopf leer zu sein schien – oder vielleicht auch zu voll.
Mit einem Mal fluteten die Erinnerungen mein Hirn.
Der Vier-Uhr-Tee. Das war Dads Ding gewesen. Immer pünktlich, als wäre es das wichtigste Ritual seines Lebens. Irgendwann hatte er auch Thomas und mich damit angesteckt, und wir hatten es alle zusammen gemacht. Eine kleine Tradition inmitten des Chaos unserer Familie.
Ach Dad.
Die Tränen stiegen mir in die Augen, heiß und unaufhaltsam. Es war nicht nur der Tee. Es war alles. Er fehlte mir. So sehr, dass es wehtat, dass es mich aufzehrte von innen heraus, wie ein stetig nagender Schmerz, der nie verschwand. Meine Finger zitterten leicht, als ich das Brot näher an meinen Mund führte. Der Gedanke an ihn... es war, als würde es mir etwas Kraft zurückgeben, als wäre dieser Bissen eine Art Verbindung zu ihm, zu der Zeit, in der die Dinge noch anders waren. Es kostete mich alles, aber ich biss schließlich ab und schaffte es, den Bissen herunterzuschlucken.
Genau in diesem Moment stürmte Evelyn durch das Kirchenportal herein. Sie blieb kurz stehen und musterte mich mit einem belustigten Funkeln in den Augen. »Schmeckt dein Sandwich so scheiße, oder warum heulst du?« Ich konnte ihr nicht mal antworten, denn schon war sie weg. Dafür schaute ich ihr wütend hinterher. Die Wut war wie ein Feuer, das plötzlich entfacht wurde. Mit jedem Bissen, den ich von dem Käsebrot nahm, wuchs sie.
Ohne es zu merken, hatte ich das ganze verfluchte Brot aufgegessen. Und dann, mit einem Mal, war ich nicht nur wütend auf Evelyn und ihren saublöden Spruch – ich war wütend auf mich selbst. Wie hatte ich mich nur so leicht manipulieren lassen? Für Sex? Seit wann war ich so schwach?
Seit Nighton mir dir schläft!, wisperte eine kleine gemeine Stimme in meinem Kopf.
Mein Kiefer verkrampfte sich, und ich blinzelte, um die Gedanken abzuschütteln. Doch sie blieben. Was zur Hölle tat ich hier eigentlich? Wie hatte ich mich in diese Situation gebracht? Immer noch wütend auf mich selbst und auf alles andere stampfte ich los, mein Kiefer arbeitete noch an den letzten Resten des Brots, als ich die Treppe hinunter in das Bad stürmte. Nighton stand mitten im Raum, nackt, als hätte er gerade in die Dusche steigen wollen. Sein Anblick brachte mich ins Straucheln, und für einen Moment vergaß ich, warum ich eigentlich so wütend war. Mein Blick glitt über ihn, mein Mund immer noch halb voll mit dem letzten Bissen Brot, der sich plötzlich schwerer anfühlte als vorher.
»Gut gemacht«, lobte er ruhig, aber ich konnte sehen, wie seine Augen aufglommen, als er sich mir näherte. Er machte die Tür hinter mir zu, und ich konnte fühlen, wie sich die Spannung im Raum verdichtete. Ich stand da, unfähig, das Brot sofort herunterzuschlucken, während ich ihn anstarrte. Verdammt, das war so ablenkend. Ich hatte ihn zur Sau machen wollen, ihm sagen wollen, was für ein manipulativer Mistkerl er war. Aber jetzt? Jetzt war alles, was ich noch tun konnte, den letzten Bissen hastig herunterzuwürgen, bevor er mich zu sich zog. Bevor ich protestieren konnte, verschloss Nighton meinen Mund mit seinem Kuss, und ich fühlte, wie die Wut in mir langsam verflog. Er zog mich in Richtung der Dusche, und obwohl ein Teil von mir immer noch protestieren wollte, ließ ich es zu. Vielleicht war das auch besser so. Wer weiß, was für Worte ich ihm noch an den Kopf geworfen hätte, wenn ich mir wirklich Luft gemacht hätte?