Plötzlich – eine Hand packte meinen erhobenen Arm und hielt ihn fest. Nighton. Er schüttelte den Kopf.
»Hör auf, es ist genug!«, fuhr er mich an. Seine Stimme war wie ein Knurren, aber sie schnitt durch das Chaos in meinem Kopf. »Du bringst ihn sonst um.«
»Aber er – er wollte dich erschießen!« Meine Stimme war hysterisch, mein Atem ging keuchend. »Er hätte dich auch umgebracht! Und mich genauso!«
Nighton schüttelte den Kopf und sagte enschieden: »Er ist lebend wertvoller.« Er zog mich ein Stück zurück. »Der Kerl hat Informationen. Lass ihn. Wir nehmen ihn uns vor, wenn die Zeit gekommen ist. Aber jetzt nicht. Im Moment zählt nur die Flucht.«
Der Gedanke, dass Nighton einen größeren Plan zu haben schien, ließ mich zögern. Er war nicht für Gnade bekannt. Vielleicht wollte er Kellahan später quälen? Oder er wusste etwas, was ich nicht wusste.
Das Getrappel der Soldaten hallte in meinen Ohren, immer näher kommend. Alarmiert schaute Nighton nach hinten und ließ meinen Arm los.
»Los jetzt. Wir können ihn später fertig machen!«, rief er. In seinen Augen lag eine düstere Entschlossenheit, die mir versicherte, dass er es ernst meinte. Der Feuerlöscher entglitt meinen Händen, und ich stolperte hinter ihm her, mein Herz hämmerte immer noch wild.
Am Schaltpult im Glaskasten angekommen, keuchte ich: »Wie öffnet man das?« Die vielen Schaltknöpfe und Hebel wirkten auf mich wie ein Rätsel aus Draht und Metall. Nighton beugte sich über das Pult, seine Finger flogen über die Tasten, als wäre er im Training dafür. Er steckte den Schlüssel des Wärters in das dafür vorgesehene Schlüsselloch, schoss zurück zu Kellahans leblosem Körper, zog ihm die Karte ab und steckte sie in eine Öffnung am Pult. Währenddessen hielt ich wachsam alle Gänge im Auge. Das Getrappel wurde lauter. Sogar grimmiges, tiefes Hundegebell konnte ich hören, was Nighton aber deutlich mehr zu irritieren schien als mich, denn er hob kurz den Kopf, als müsste er sich vergewissern, dass er sich nicht verhört hatte.
»Da«, murmelte Nighton und stand plötzlich zehn Meter weit entfernt bei einem großen, metallenen Tor. Daneben war ein schwer aussehender Hebel angebracht, offenbar zur Sicherheit.
Ohne Zögern drückte er den Hebel nach unten. Ein bedrohliches Rumoren erfüllte den Raum.
In dem Moment stürmten dutzende Soldaten in den Raum, ihre Rufe hallten durch die Halle. Doch das war nicht alles – zwei gewaltige, albtraumhafte Höllenhunde wurden an Ketten hereingeführt. Ihre leuchtend roten Augen glühten wie Kohlen im Dunkeln, und ihre geifernden Kiefer schnappten gefährlich. Die massiven, schattenhaften Gestalten trugen jeweils ein Halsband mit einem schwarzen Kästchen, das auffallend vor sich hin schimmerte. Sofort tauchte ich ab, das Geschehen aber trotzdem weiterhin über den Rand des Schaltpults hinweg musternd.
Ich starrte die Höllenhunde entsetzt an, während mein Herz in Panik raste. Wie um alles in der Welt waren die Menschen an Höllenhunde gekommen, und schlimmer, wie war es ihnen möglich, sie zu kontrollieren? Ich verstand gar nichts mehr. Auch Nighton hatte innegehalten, sein Gesicht war ein Bild des Schocks und der Unverständnis, als er die Höllenhunde sah.
»Stopp!«, brüllte einer der Soldaten, doch Nighton interessierte sich nicht für ihn. Stattdessen stemmte er die Hände in die Hüften und beäugte die Höllenhunde, die ihre Schnauzen witternd in seine Richtung reckten. Von den Menschen hatte offenbar noch keiner bemerkt, dass ich im Glaskasten kauerte.
»Jetzt wird es interessant. Wie habt ihr Menschen es geschafft, die Höllenhunde unter eure Kontrolle zu bringen?«, fragte er mit lauter Stimme.
Der Soldat von eben, der 'Stopp' geschrien hatte, näherte sich ihm einige Schritte. Er reagierte nicht auf Nightons Frage, aber der schien sie sich in dem Moment schon selbst beantwortet zu haben, denn Erkenntnis glomm in seinen Augen auf. Ich sah, wie sich sein Gesichtsausdruck veränderte. Plötzlich brach ein belustigtes Lachen aus ihm heraus.
»He, Jen, ich weiß jetzt, wer hinter den Angriffen auf dich steckt«, erklärte Nighton mit erhobener, von bitterem Spott nur so triefender Stimme. »Der Angriff der Ghule, des Chvelagoths, des Baphomets und seiner Ziegenjünger, des Ionahos und des Agrameos sowie des Wyrms – sie waren alle von Menschenhand gelenkt. Sieh dir mal die Kästchen an, fällt dir was auf? Die Menschen haben diese Dämonen auf dich gehetzt! Wahrscheinlich, um mich zu ködern.«
Ich starrte ihn fassungslos über das Pult hinweg an, unfähig, die Dimension der Entdeckung zu begreifen. Was?! Woher hatten die Menschen solch eine Macht, selbst Dämonen wie einen Chvelargoth oder einen Agrameos zu kontrollieren?! Das kam mir schier unmöglich vor! Nighton allerdings schien plötzlich der Ansicht zu sein, seine Überlegenheit als Yindarin beweisen zu müssen. Er stieß einen scharfen Piff aus. Die Höllenhunde, die bisher streng kontrolliert worden waren, begannen sofort, gegen ihre Ketten zu kämpfen. Ihre massigen Kiefer klappten auf und zu und sie knurrten wütend, als ob sie durch den Pfiff gerade erkannt hätten, dass sie auf der falschen Seite standen.
Daraufhin brach das Chaos in aller Intensität aus. Die Soldaten schrien Befehle, die Höllenhunde bellten wild, und ich duckte mich instinktiv. Verdammt, wie sollte ich zu Nighton kommen?
Ein ohrenbetäubender Knall erschütterte den Raum. Ein Soldat hatte sein Gewehr abgefeuert, und die Glaswand direkt über mir zerbrach in einem Regenschauer aus scharfkantigen Splittern. Panik schoss mir in die Glieder, und ich stieß einen Schrei aus, als die Splitter auf den Boden fielen und sich um mich verstreuten.
Der Anführer der Soldaten, der die Lage zu beruhigen versuchte, griff entschlossen ein und brachte ein Stück Ruhe ins Chaos. Ich nutzte die Gelegenheit, um vorsichtig über das Pult zu spähen. Er wandte sich an Nighton, seine Stimme war schneidend vor Zorn: »Nimm die Hände da weg, Hybrid! Weißt du denn nicht, was passiert, wenn du das Tor öffnest?!« Er drückte das Gewehr seines Kameraden nach unten.
Nighton erwiderte mit einem fast freundlichen Tonfall: »Doch, das weiß ich. Genau das will ich erreichen.« Als sich seine Verwandlung vollzog, wich ein Großteil der Soldaten zurück, ihre Waffen fest umklammert, als ob sie sich vor dem drohenden Unheil fürchteten.
»Den Hebel deaktivieren! 0088! 0071!« Der Befehl hallte durch den Raum, und zwei junge Soldaten stürmten zögernd zu dem Hebel, kämpften dagegen an und drückten ihn mit aller Kraft herunter. Sie hatten Angst vor Nighton, das sah ich. Der allerdings machte keinen Versuch, sie zu stoppen, er sah ihnen einfach seelenruhig dabei zu. Was hatte er vor?
Die Stimme des Soldaten, der gesprochen hatte, wurde mutiger, als er Nighton musterte: »Und jetzt beweg dich hier herunter und lass dich festnehmen! Keine Tricks mehr! Und HS010397, komm raus aus dem Wärterhaus! Es gibt keinen Ausweg, für keinen von euch.«
»Noch gibt es den nicht, das stimmt«, entgegnete Nighton, und ein bedrohliches Lächeln glitt über seine Züge.
Ich warf ihm einen fragenden Blick über das Pult zu, und er nickte mir ermutigend zu. Mit einem tiefen Atemzug verließ ich das Glashäuschen und lief beinahe in Zeitlupe auf die Soldaten zu. Die Angst in mir war fast greifbar, aber ich zwang mich zur Ruhe.
»Du auch, Hybrid, und zwar schleunigst!«, blaffte der Soldat. Nighton hingegen legte den Kopf schief und sagte fast beiläufig: »Wisst ihr, was mich an euch Menschen so fasziniert? Die Berechenbarkeit.« Er machte ein paar Schritte Richtung Tor.
»Das ist schön, dass du Interessen hegst, Hybrid. Vielleicht hast du ja auch eine am Leben deiner Freundin, die wir gleich erschießen werden, wenn du dem Befehl nicht Folge leistest!« Mehrere Waffen wurden entsichert, um die Drohung zu untermauern.
Ich stockte, konnte jedoch nicht stehen bleiben. Nur noch wenige Schritte trennten mich von den Soldaten, die unruhig wurden und sich gegenseitig anstarrten.
Nighton hob eine Hand und legte sie sanft an das Tor, das uns vom Atlantik trennte. Als er seine Hand wieder entfernte, hinterließ sie einen tiefen Abdruck im Stahl. Nighton wandte sich den Soldaten zu, die entgeistert ihn und das eingedellte Tor ansahen.
»Die beiden äußeren Schotten sind bereits hochgefahren. Ich kann dieses Tor zerstören, indem ich nur einen kleinen Teil meines Drucks anwende. Was macht da schon ein Hebel aus?«, fragte er. Seine Stimme war ruhig und voller Überlegenheit. Innerhalb eines Augenblicks stand er vor mir, ergriff mich und zog mich hoch zum Tor, wo er mich hinter sich schob. Das ging so schnell, dass ich eigentlich nur einen Luftzug spürte. Auch die Soldaten schnappten nach Luft und gerieten wieder in Unruhe.
»ANLEGEN!«, brüllte der Redensführer. Das Geräusch des Entsicherns der restlichen Abzüge hallte durch den Raum.
»Sie haben noch eine Chance, um zu-«
Da trat jemand durch die Tür, durch die eben noch die Soldaten in die Schleusenhalle gestürmt waren. Sofort brandete Geflüster unter den Soldaten auf. Der Jemand verharrte auf der Stelle, die Hände in die Hosentaschen schiebend, den Kopf schief gelegt. Ich glaubte den Namen 'Ajax' zu hören, und klammerte mich instinktiv an Nighton, den Mann musternd, der da vorne stand und gerade so einen dramatischen Auftritt hingelegt hatte.
Ja, das musste dieser Ajax sein.
Er war Anfang, Mitte zwanzig, schätzte ich, und stach durch seine muskulöse Statur hervor. Mit seinen etwa eins fünfundachtzig war er zwar kleiner als Nighton, aber nicht weniger imposant. Die blonden, stacheligen Haare, die wie ein Igel standen, machten ihn noch auffälliger, vor allem in Kombi mit dem Bandana, das ihm die längeren Haar aus seinen braunen Augen hielt, die wie scharfe Messerklingen umhersahen. Sein ärmelloses schwarzes Oberteil und die dunkelblaue Jeans mit den vielen Taschen zeigten deutlich ein paar Narben auf seinen Armen, und mir sprang noch etwas anderes ins Auge. Er hatte die Nummer UEG-012 und die Kennung IRV auf seinem Unterarm tätowiert. Beides prangte mir entgegen wie eine Art düstere Auszeichnung. Was das wohl bedeuten mochte?
Als Ajax direkt Blickkontakt mit mir aufnahm, fühlte ich einen kalten Schauer über meinen Rücken laufen. Seine Augen waren eindringlich und schienen direkt durch mich hindurchzusehen, bis sie zu Nighton weiterwanderten. Nighton, der sich bis dahin noch ruhig verhalten hatte, stockte abrupt. Er starrte Ajax an, als ob er etwas an ihm erkennen konnte, das mir verborgen blieb. Ein kurzes, intensives Blickduell entfaltete sich zwischen ihnen.
Ajax ließ sich nicht beirren. Mit einem festen, autoritären Ton fragte er: »Was geht hier vor sich? Warum hat man mich nicht früher geholt?« Seine Stimme war rau und befehlsgewohnt, und ich spürte sofort, wie gefährlich er war. Sein Blick zuckte zurück zu Nighton und ich konnte sehen, wie er sich straffte. Sein Gesichtsausdruck blieb unbewegt, aber seine Augen funkelten eisern, als er befahl: »Weg vom Tor, Hybrid. Jetzt.«
Nighton schnaubte und entblößte seine Zähne in einem provokanten Grinsen.
»Sonst was? Packst du dann deine abnormen Kräfte aus, die ich an dir wittern kann? Komm doch her, Mensch, vielleicht kannst du mich ja beeindrucken!«
Etwas Dunkles bahnte sich in Ajax' Augen an, doch bevor er auch nur den Mund öffnen konnte, rammte Nighton seinen Ellbogen mit aller Kraft ein paar Mal in rascher Abfolge in das Metall.
Schüsse ertönten und krachten um uns herum in das Tor und in die Wände.
Ich beobachtete entsetzt, wie Nighton mehrfach getroffen wurde, doch es schien ihn nicht zu stören. Offensichtlich waren die Kugeln nicht für Yindarin gemacht.
Ein lautes Rumoren erfüllte den Raum, als Nighton mit einem letzten gewaltigen Stoß das Tor so weit einbeulte, dass an den Seiten tonnenweise Wasser hereinstürzte. Die Wassermassen drückte das halb zerstörte Tor aus den Angeln und schleuderten es schließlich komplett heraus.
Ein gewaltiger Wasserschwall schoss durch die Öffnung, wirbelte alles um sich herum durcheinander – Soldaten, Höllenhunde, Glas, alles wurde weggeschwemmt. Schreie erklangen und das Licht begann zu flackern.
Der Druck um meine Hand verstärkte sich, während ich um Luft kämpfte. Das Wasser stieg schnell an und füllte den Raum innerhalb von Minuten. Panik kroch in mir hoch, als ich feststellte, dass ich kaum noch festen Boden unter den Füßen hatte. Zum Glück war dieser Ajax nirgendwo mehr zu sehen. Hoffentlich war er ertrunken.
Nighton und ich klammerten uns an einem Rohr neben dem Tor fest. Er wartete scheinbar, bis der Raum ganz gefüllt war. Trotz der Kälte und des steigenden Pegels schien ihm die Situation nichts auszumachen.
»Ich bin wirklich keine gute Schwimmerin!«, keuchte ich, während ich unkontrolliert Wasser schluckte.
»Halt einfach die Luft an, wir sind gleich oben«, erwiderte Nighton ruhig. Seine entspannt klingende Stimme war ein unerwartet beruhigendes Gewicht in dieser chaotischen Situation.
Das Gefühl der Enge nahm zu, als das Wasser uns immer weiter nach oben drückte. Ein unangenehmer Druck breitete sich hinter meiner Stirn aus, und mein Atem beschleunigte sich. Der Gedanke, dass ich Platzangst hatte, schien jetzt wie ein riesiger, erdrückender Panzer auf mir zu lasten. Das Tor war schon zu zwei Dritteln verschwunden, und wir waren nur noch wenige Meter von der Decke entfernt. Ich begann zu hyperventilieren und krallte mich panisch an dem Rohr fest.
Nighton zog sich ein Stück höher und warf mir einen besorgten Blick zu. sein Gesichtsausdruck zeigte besorgte Anspannung.
»Was ist los?«, fragte er, während er mich festhielt, um zu verhindern, dass ich unterging. Ich schnappte nach Luft, mein Atem ging stoßweise, als hätte ich einen unsichtbaren Ring um die Brust, der sich stetig enger zog.
»Jen?!« Sein Name hallte in meinem Kopf wider, aber ich konnte kaum reagieren.
»Platzangst – ich habe Platzangst!«, stieß ich schließlich keuchend hervor. Die Worte waren kaum mehr als ein Geflüster, während die Welt um mich herum sich langsam in Dunkelheit hüllte.
»Sieh mich an!« Nightons Stimme kämpfte gegen das Wasserrauschen an, aber ich konnte kaum etwas verstehen. Er zwang mich, ihn anzusehen, und seine festen Hände umrahmten mein Gesicht. »Es wird gleich vorbei sein. Ich bin bei dir.«
»Ich kann nicht!«, presste ich hervor, während ich verzweifelt versuchte, meine Atemnot zu überwinden.
»Natürlich kannst du. Bist du bereit?«
»Nein, ich will nicht, bitte ni…« Der Rest meiner Panikattacke wurde von Nightons entschlossener Handlung unterbrochen, als er mich unter Wasser zog. Der kalte Druck des Atlantikwassers umhüllte uns, und ich klammerte mich an ihn, während wir uns durch die Dunkelheit bewegten.
Das Wasser war schwarz wie Tinte, und ich konnte kaum mehr sehen, nur die dunkle Umarmung um mich herum. Nighton schwamm mit beeindruckender Geschwindigkeit, doch ich konnte die Gefahr des Versinkens noch immer fühlen. Der ungeheure Druck baute sich auf meinen Lungen auf, und ich dachte an das Déjà-Vu, das mich überkam – an den Teich, in den Aonas und Erakhlén mich gezogen hatten. Nur dass das hier eiskaltes Atlantikwasser war, das mich zu erdrücken schien.
Die letzte verbleibende Luft in meinen Lungen verschwand schnell, denn ich hatte vergessen, einzuatmen, als wir untergetaucht waren. Das Gefühl, in undurchdringliche Schwärze einzutauchen, wurde überwältigend. Sie schien mich erlösen zu wollen.