Mit einem dumpfen Grummeln in meinem Magen wachte ich mitten in der Nacht auf. Schlaftrunken tappte ich hoch in die Küche und griff im Vorratsschrank nach dem ersten, was mir in die Finger kam – in diesem Fall war es ein Glas Erdnussbutter. Ohne groß nachzudenken, nahm ich es mit nach unten. Der Hunger trieb mich an, also löffelte ich es direkt im Gehen aus dem Glas, als wäre es meine Rettung. Doch als ich ins Schlafzimmer schlurfte, traf ich plötzlich auf Nighton, der mir wie ein Schatten entgegenkam. Sein plötzlicher Anblick ließ mich erschrocken aufkeuchen. Reflexartig ließ ich das Glas los. Zum Glück war Nighton schnell genug. Ohne Mühe fing er es auf, als hätte er darauf gewartet, dass mir sowas passierte.
Wo kam er her?! Seit wann war er wieder da? Hatte er eben etwa schon neben mir gelegen, und ich hatte es bloß nicht gemerkt?
»Himmel! Erschreck mich doch nicht so!«, zischte ich. Mein Herz hämmerte noch in meiner Brust. Er grinste nur leicht und machte das Licht an. Sein Blick wanderte auf das Glas in seiner Hand.
»Erdnussbutter? Igitt! Isst du die ernsthaft pur?«, fragte er, die Nase rümpfend. Er wollte wohl noch mehr sagen, aber ich ließ ihn gar nicht zu Wort kommen. Mit einem schnellen Handgriff riss ich ihm das Glas aus der Hand, warf es achtlos aufs Bett, packte ihn an den Schultern und schob ihn zurück ins Zimmer. Die Tür kickte ich mit dem Fuß zu, bevor ich mich plötzlich gegen ihn lehnte und ihn fest umarmte.
Ich brauchte diese Nähe. Jetzt.
Nighton zögerte nicht lange. Seine Arme schlangen sich fest um mich. Für einen Moment schien alles um mich herum stillzustehen.
»Also... Tharostyn hat es dir gesagt?«, fragte er nach einer Weile. Mein Körper versteifte sich bei dem Gedanken an den Engel und die ganze verfahrene Situation. Die Hände hinter seinem Rücken zu Fäusten geballt, nickte ich stumm.
»Ja«, kam es heiser über meine Lippen.
Nightons Brustkorb vibrierte unter mir, als er nachdenklich summte. »Mach dir keine Sorgen. Uriel wird auftauchen. Ich rede morgen mit Jason. Der Rat... sie werden schon zur Vernunft kommen.«
Ich schluckte und murmelte: »Ich glaube nicht, dass der Rat mir noch helfen will. Vielleicht habe ich's mir mit Tharostyn verscherzt.«
Nighton ließ ein fragendes Geräusch ertönen. Ich spürte seinen Blick auf mir, aber ich hielt meine Augen geschlossen und vergrub mein Gesicht tiefer in seinem Schlüsselbein.
»Ich habe ihn einen alten Faltensack genannt«, murmelte ich schließlich, fast unhörbar.
Für einen Moment war es still, dann brach Nighton in schallendes Lachen aus. Sein Körper schüttelte sich, und bevor ich mich wehren konnte, steckte er mich an.
»Das hast du nicht wirklich gesagt!«, lachte er ungläubig.
»Doch! Es ist mir einfach rausgerutscht! Er hat mich so auf die Palme gebracht mit seinem ewigen Gerede über 'Perspektiven'.«
Sold er sich beruhigt hatte, schob er mich ein wenig von sich weg, aber nur so weit, dass er mir in die Augen sehen konnte. Seine Hände legten sich sanft um mein Gesicht und seine Daumen strichen beruhigend über meine Wangen. Sein Blick war sanft und voller Wärme, die mich tief im Inneren berührte.
»Tharostyn hat schon Schlimmeres gehört, glaub mir. Er wird darüber hinwegkommen. Uriel ist irgendwo da draußen, der Rat wird sie schon finden. Sie haben es wahrscheinlich nur nicht mal richtig versucht«, versprach er leise.
Ich seufzte, spürte, wie die Spannung langsam aus meinen Schultern wich. Da fiel mir ein, dass er ja eigentlich auf Mission gewesen war. Irgendwas war da draußen passiert, und ich wollte es wissen.
»Und du? Wie war's? Wie geht es Gil? Wart ihr erfolgreich?«, begann ich, doch bevor ich weiterfragen konnte, schob Nighton mich sanft Richtung Bett. »Waren wir, und dem Dämon geht es gut. Aber lass uns später drüber reden«, murmelte er und schüttelte vielsagend den Kopf.
Zum Rest der Nacht kann ich nur sagen: Die Erdnussbutter blieb unberührt. Und schlafen... tja, das kam auch nicht wirklich in Frage.
Zu meinem großen Unmut musste ich am nächsten Morgen feststellen, dass Nighton mich über Nacht mit mehreren knallroten Knutschflecken verziert hatte - und das mit einer schamlosen Selbstverständlichkeit. Ein paar davon waren gut versteckt an Stellen, die keiner zu sehen bekam. Aber drei ... drei zierten meinen Hals, und zwar genau dort, wo jeder sie sehen konnte. Nach dem morgendlichen Duschen stand ich ratlos vor dem Spiegel und suchte nach einer Lösung, wie ich sie verstecken könnte. Schließlich schnappte ich mir Pennys Wollschal, der über der Heizung hing. Zum Glück war fast November, da würde wegen des Schals schon keiner Fragen stellen.
Ich wickelte ihn straff um meinen Hals, bis nichts mehr von den Flecken zu sehen war. Problem gelöst. Oder?
Mit einem Handtuchturban auf dem Kopf schlurfte ich ins Mittelschiff, nur um von Penny mit einem breiten, fast wissenden Grinsen empfangen zu werden. Sie stand am Herd und briet Pfannkuchen. Ihr Blick wanderte vielsagend zu meinem Schal und dann an mir hoch und runter und dazu wippten ihre Augenbrauen spöttisch auf und ab. Als ich ruckartig stehenblieb, tauschte sie einen schnellen Blick mit Sam, der auf einer der Inseltheken saß und mit seinem Gameboy beschäftigt war. Er schaute nur kurz auf, verdrehte die Augen und widmete sich wieder seinem Spiel, als wollte er gar nicht wissen, was Penny da ausbrütete.
Ich seufzte innerlich und dachte plötzlich an Gil. Ich musste mit Nighton darüber reden, was mit ihm war, und zwar schnell. Hoffentlich hatte er ihn retten können! Andererseits wäre Nighton wohl nicht so entspannt gestern Nacht aufgetreten, wenn der Gegenteil der Fall gewesen wäre, oder? Außerdem drängte sich in diesem Moment wieder der Berg an Problemen vor mein inneres Auge. Dad, meine Geschwister, die Schule, die ich mehr als zwei Wochen nicht besucht hatte, die Zwillinge ... es gab genug, das mich beschäftigte. Und Penny und ihre Inquisition waren eigentlich kein Punkt auf meiner Agenda.
Nighton war nirgendwo zu sehen, und ehrlich gesagt war mir das ganz recht. Er war schon früher als ich mit Duschen fertig gewesen und irgendwohin verschwunden.
Mit ineinander verkrampften Fingern stand ich also mitten im Raum und überlegte, wie ich dieser peinlichen Situation entkommen konnte. Mein Gesicht brannte unter Pennys Blick. Sie hatte diese Art von Grinsen aufgesetzt, bei dem es nur eine Frage der Zeit war, bis die peinlichen Fragen kamen. Ihr schien es nicht entgangen zu sein, dass sich etwas zwischen mir und Nighton getan hatte.
Wenn man vom Teufel spricht:
Aus dem Augenwinkel sah ich Nighton die Treppe hochkommen. Er wirkte völlig unbeeindruckt und so locker wie immer. Seelenruhig lief er an mir vorbei, ohne mich eines Blickes zu würdigen, und steuerte direkt auf die Kaffeemaschine zu. Er machte sich einen Kaffee, den er nicht trank, sondern kommentarlos auf die Kücheninsel stellte. Mit einer lässigen Bewegung schob er die Tasse in meine Richtung. Dabei spielte der Hauch eines Lächelns um seine Lippen.
Langsam trat ich näher, setzte mich auf einen der Barhocker, darauf bedacht, nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Doch das war fast unmöglich mit Penny, die mich beobachtete, als würde sie auf das große Geständnis warten. Sam spielte zum Glück mit seinem Gameboy und ignorierte uns weitgehend. Aber Penny... die würde mich nicht so leicht davonkommen lassen.
Ich nippte steif an dem Kaffee, als würde das heiße Getränk die Peinlichkeit hinunterspülen. Nighton versuchte, Blickkontakt aufzunehmen, aber ich vermied es beharrlich. Er war hartnäckig. Nach einer Weile räusperte er sich sogar demonstrativ laut, und ich zuckte zusammen, hob den Kopf und sah direkt in sein freches Grinsen. Natürlich grinste er.
»Morgen«, begrüßte er mich mit übertrieben unschuldigen Stimme. Ich schluckte schwer, während ich Pennys fettes Grinsen aus den Augenwinkeln bemerkte. Toll, jetzt hatte sie Futter für den ganzen Tag.
»Morgen«, murmelte ich und nippte erneut an meinem Kaffee, hoffend, dass diese Unterhaltung schnell vorbei wäre.
Nighton lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und ließ mich nicht aus den Augen. Es war, als hätte er all die Macht in der Hand – als wüsste er genau, wie er mich auf die denkbar subtilste Weise quälen konnte.
»Na, habt ihr zwei gut geschlafen?«, mischte sich nun Penny beiläufig ein und leerte eine Schöpfkelle Teig in die Pfanne.
Nighton ließ sich immer noch nichts anmerken und brummte einfach bloß zustimmend. Mit neutraler Miene nippte er an seinem eigenen Kaffee, stellte die Tasse ab und umrundete die Kücheninsel. Plötzlich stand er hinter mir, und ohne Vorwarnung hauchte er mir einen Kuss auf den Nacken. Ich stockte, spürte, wie sich meine Schultern verkrampften, als er den Schal etwas zurechtrückte und mit angerauter Stimme flüsterte: »Du riechst gut.«
Pennys Augen weiteten sich, als sie das mitansah.
Mein Herz schlug einen Takt zu schnell, aber ich zwang mich, ruhig zu bleiben. »Ja, ahem... das Parfüm, das wir gestern beim Shoppen gekauft haben, riecht wirklich toll, oder?«, erwiderte ich und versuchte, die Nervosität aus meiner Stimme zu verdrängen.
Ich klang wie ein Idiot. Sogar Penny verschluckte sich fast an ihrem eigenen Lachen, so laut schnaubte sie. »Ach komm, im Ernst? Das Labor hatte einen Shop? Was gab's da noch? Souvenirs? 'Ne schicke Tasse vielleicht?« Ihr Blick wanderte sofort zu meinem Schal, und ich wusste, dass sie genau verstand, was darunter war.
Nighton blieb ruhig, aber ich konnte das Grinsen in seiner Stimme hören, als er leise auflachte. Er machte sich viel zu viel Spaß daraus, mich in Verlegenheit zu bringen.
»Ich hole schnell das Auto und fahre dich dann zu deinem Vater. Deine Geschwister sind bestimmt auch schon auf dem Weg. Ich ruf dich an, wenn du rauskommen kannst, okay?«
»Warte! Was ist nun mit Gil?«, fragte ich hastig, dankbar für den Themawechsel.
Nighton hielt inne. »Er ist in Oberstadt, bei Gabriel«, antwortete er. »Er muss sich dessen Heilung unterziehen. Aber die Rettung war erfolgreich. Und nicht nur seine. Wir konnten so ziemlich alle gefangenen Engel und Dämonen da unten rausholen. Aber lass uns später reden.«
Erleichtert nickte ich. Nighton verabschiedete sich, schickte mir ein Lächeln, dann stellte er seine Tasse ins Waschbecken und machte sich auf den Weg, das Auto zu holen.
Kaum war das Portal hinter ihm zugefallen, schoss Penny förmlich auf mich zu. Auf der gegenüberliegenden Seite der Theke blieb sie stehen, die Hände in die Hüften gestemmt, und ihre Augen blitzten vor Neugier.
»Ihr habt es getan!« Sie quietschte fast, und es fühlte sich an, als würde mein Kopf explodieren.
»Ich... also, was?«, stotterte ich. Ich versuchte, mich aus der Schlinge zu winden, aber sie war nicht dumm.
»Ach komm schon!« Penny schnaubte und stemmte eine Faust in die Hüfte. »Dieser Schal da?« Sie deutete auf meinen Hals. »Der kann die Knutschflecken auch nicht verstecken. Wir haben dich alle durchschaut!«
Mein Magen zog sich zusammen, aber ich brachte nur ein hilfloses Grinsen zustande.
»Nicht nur durchschaut«, seufzte da Sam theatralisch. »Auch gehört. Heute Nacht. Und zwar alles!« Ohne Vorwarnung fing er an, mich absolut falsch und übertrieben nachzumachen.
Ich schnappte nach Luft und wurde putterrot.
»Sam!«, fauchte ich und griff nach dem nächstbesten Gegenstand, in dem Fall ein Geschirrhandtuch, um es nach ihm zu werfen. Es segelte knapp an ihm vorbei, und sein Lachen verstärkte sich nur. Ich konnte nicht fassen, wie kindisch die beiden waren, aber das hielt sie nicht auf.
Penny kicherte, nahm die Teller mit den Pfannkuchen und ließ sich auf das Sofa fallen. Dort klopfte sie auffordernd neben sich auf das Polster. »Komm schon, erzähl mir alles!«
»Okay, ich will keine Details, das ist mein Signal zum Abhauen!« Sam sprang förmlich von seinem Platz und schoss aus dem Mittelschiff. Ich starrte ihm hinterher. Das hätte ich auch gern getan. Weg. Einfach weg.
Aufseufzend ließ ich mich neben Penny aufs Sofa fallen, das leise unter mir knarzte.
»Es war... gut«, murmelte ich nach ein paar Augenblicken, so hoheitsvoll wie möglich, was ungefähr so überzeugend klang wie ein müder Versuch, eine Prüfung zu bestehen, ohne gelernt zu haben.
Penny zog nur eine Augenbraue hoch, eine deutliche Aufforderung, dass ich mit so einer Antwort bei ihr nicht durchkomme. Sie reichte mir einen Teller mit Pfannkuchen, in dem ich herumzustochern begann.
»Gut? Echt jetzt? Nur gut?«
»Fein«, stöhnte ich. »Es war... sehr gut. Okay? Sehr, sehr gut.« Und das war es ja auch gewesen, aber das hieß nicht, dass ich die Details ausbreiten wollte.
Penny stieß ein verzücktes »Ohhh!« aus und beugte sich vor, als könnte sie mich damit zu weiteren Geständnissen zwingen. »Und er? War er... du weißt schon?« Ihre Augen funkelten förmlich vor Neugier, als wären wir mitten in einem Klatschmagazin-Interview. Bevor ich antworten konnte, sank die Couch neben mir tiefer ein. Evelyn, die leiser als ein Schatten aus dem Keller gekommen war, ließ sich mit einem Kirschjoghurt in der Hand zu meiner Rechten nieder und sagte laut: »Pen, er ist ein Yindarin«, als wäre sie die Expertin für übernatürliche Liebhaber. »Wenn Jason als Erzengel schon so eine Granate ist, wie muss dann Nighton sein?«
Ich blinzelte sie an, und Penny wirkte fast ebenso perplex. »Du und Jason?«, stotterte sie. »Ich dachte, du und Melvyn...«
»Und uns nicht mal was erzählen?«, fügte ich mit gespieltem Tadel hinzu, aber insgeheim froh darüber, dass der Fokus nicht auf mir lag. Jason und Evelyn? Die Vorstellung war... irgendwie komisch.
Evelyn zuckte mit den Schultern und lutschte ihren Löffel ab. »Tja, Mel und ich sind keine Bettnachbarn mehr. Und Jason sieht gut aus! Warum also nicht?« Sie grinste selbstzufrieden, als wäre das die selbstverständlichste Sache der Welt.
Bevor Penny darauf reagieren konnte, platzte sie damit heraus: »Jen und Nighton waren endlich in der Kiste!« Ihr Blick wanderte sofort wieder zu mir, als könnte sie es kaum fassen.
Evelyn legte nur seufzend den Kopf schief und verdrehte unbeeindruckt die Augen. »Was du nicht sagst. Stell dir vor, ich habe auch Ohren, und zwar verdammt gute dazu. Immerhin war Jeff nicht gerade leise.« Sie machte eine bedeutungsvolle Pause, bei der mir augenblicklich das Blut in den Kopf schoss.
»W-Was?«, stotterte ich und wusste nicht, wo ich hinschauen sollte. Evelyn grinste frech und schwang sich dann vom Sofa, als wäre nichts gewesen.
»Außerdem ist Sex heutzutage doch völlig normal«, fügte sie noch an. »Aber da du, Penny, auf ewig das Schicksal einer Einzelsocke teilst, weil du zu feige bist, Samuel mal klar zu sagen, dass du auf ihn stehst, wundert es mich nicht, dass du auf sowas abfährst.«
Mit diesen Worten ließ sie uns stehen und verschwand wieder nach unten, während ich beinahe in den Boden versank. Penny starrte ihr verwirrt hinterher, als hätte man ihr gerade eine Ohrfeige verpasst. »Socken? Was zur Hölle meint sie mit Socken?«
Ich versuchte, das Grinsen zu unterdrücken, aber es gelang mir nicht. »Sie meint, dass du immer allein sein wirst«, erklärte ich ihr schließlich.
Penny riss empört den Mund auf. »Ich hatte meinen ersten Freund im Kindergarten! Wir haben sogar geheiratet!« Sie sprang auf, fuchtelte wild mit den Armen und rief Evelyn nach: »Bleib stehen, Miststück!«
Als Penny hinter ihr her rannte, seufzte ich. Endlich... Stille. Ich stand auf, wanderte in die Küche, um das Geschirr abzuwaschen, bevor ich mich wieder aufs Sofa plumpsen ließ.
Immerhin lag die Inquisition jetzt hinter mir. Vorläufig.
Etwa zehn Minuten später klingelte mein Handy. Es war Nighton. Er bat mich, rauszukommen. Ich zögerte nur kurz, schlüpfte in meine Jacke und trat in die kühle Morgenluft hinaus.
Meine Gedanken rasten. Wie sollte ich mich bloß fühlen? Einerseits war da dieses unfassbare Glück, immerhin waren Nighton und ich nach all der Zeit ein Paar. Endlich. Doch die Freude lag wie unter einem schweren Schleier, denn die Sorgen ließen mich nicht los.
Mein Vater hatte wieder zum Alkohol gegriffen. Wie mochte es ihm jetzt gehen? Und Asmodeus? Diese Gefahr schwebte immer noch über mir. Die Zwillinge hatten mich bestimmt auch noch nicht aufgegeben. Und ich konnte nun doch kein Yindarin werden.
In Gedanken verließ ich die Kirche und joggte vom Eingang geradeaus zu Nighton. Der saß in Jasons SUV. Er lächelte mir entgegen, aber als ihm die steile Sorgenfalte zwischen meinen Augenbrauen auffiel, verblasste sein Lächeln etwas.
Sobald ich neben ihm auf dem Beifahrersitz saß, sagte er: »Mach dir nicht so viele Sorgen. Ich bin bei dir. Das mit deinem Dad wir schon hin.« Seine Stimme war sanft, beruhigend, doch seine Worte prallten an der Unruhe in mir ab. Dabei wollte ich ihm glauben. Wirklich.
Die Fahrt verlief schweigend. Nightons Hand ruhte dabei warm auf meinem Oberschenkel, und sein Daumen strich sanft über den Stoff meiner Hose, eine stille Geste, die mir wenigstens ein bisschen Geborgenheit gab.
Als wir ankamen, parkte Nighton so nah am Hauseingang, wie es ging. Wir stiegen aus, und mein Blick fiel sofort auf Thomas und Anna, die beide mit Koffern vor der Tür standen. Anna mit ihren Zöpfen sah so ernst aus, dass es mir das Herz zusammenzog. Thomas' Stirn war in Falten gelegt, während er unaufhörlich auf sein Handy starrte.
Kaum hatte Anna mich gesehen, rannte sie auf mich zu, warf ihre kleinen Arme um meine Hüfte und drückte mich fest an sich. Ich spürte, wie ihre Schultern leicht zitterten. Meine Kehle schnürte sich zu, als ich sie sanft umarmte.
»Hey Annie…«, flüsterte ich, und als Thomas dann auf mich zukam und mich genauso fest drückte, musste ich schwer schlucken.
»Gott sei Dank, du bist wirklich wieder da.« Seine Stimme klang rau, fast gebrochen. »Ich habe es kaum geglaubt, als Sam uns erzählt hat, du wurdest entführt.« Thomas' vorwurfsvoller Blick schoss sofort zu Nighton, der mit einigem Abstand hinter uns stand und uns wortlos zugesehen hatte.
Nighton blieb jedoch bei Thomas' Blick ganz ruhig, lehnte sich nur lässig gegen das Auto und schob die Hände in die Jackentaschen. Aber ich sah die winzige Bewegung in seiner Mimik, das Wappnen in Form eines leichten Zusammenziehens seiner Lippen.
»Und warum hat Sam es uns gesagt? Wieso nicht du?«, rief mein Bruder, lauter werdend, bis er fast schrie. Ein paar Passanten warfen uns schon flüchtige Blicke zu.
Nightons Blick blieb ruhig, aber ich spürte die Spannung, die sich zwischen den beiden aufbaute. »Weil ihr es nicht wissen solltet«, erklärte er leise, aber deutlich. »Hätte Sam seinen Mund gehalten, wäre euer Vater jetzt nicht in der Situation, in der er ist.«
Mein Herz zog sich zusammen. Ich wollte etwas sagen, doch Thomas trat schon selbst einen Schritt auf Nighton zu und stellte sich fast auf die Zehenspitzen, um auf Augenhöhe mit ihm zu kommen.
»Für wen hältst du dich eigentlich?« Seine Stimme bebte vor Wut. „Sie ist unsere Schwester, du blöder Idiot! Du kannst doch nicht einfach entscheiden, was wir erfahren und was nicht!«
Ich löste mich von Anna und nahm sie an die Hand, doch da sah ich schon, wie Nightons Augen gefährlich aufglommen. »Blöder Idiot hin oder her, ich bin ein Yindarin, Thomas«, erinnerte er meinen Bruder kühl. »Und es liegt in meiner Verantwortung, mit übernatürlichen Bedrohungen umzugehen. Du als Mensch verstehst das nicht.« Seine Stimme bekam einen harten, abfälligen Ton, der mich störte, weil er mich daran erinnerte, wie menschlich wir waren.
»He!«, rief ich wütend und näherte mich gemeinsam mit Anna, um Nighton meinen Zeigefinger in die Brust zu bohren. »Reduzier ihn nicht auf sein Menschendasein, darum geht es hier doch gar nicht. Und du!« Ich funkelte meinen Bruder an. »Sei nicht so gemein, er hatte keine Wahl!« Die Situation eskalierte weiter, bis plötzlich eine leise, aber verzweifelte Stimme die Spannung durchbrach.
»Jetzt hört doch endlich auf! Wenn ihr so streitet, hilft das Dad doch auch nicht weiter.«
Wir alle schauten nach unten zu Anna. Sie hatte an Thomas Hand gezogen und Nighton mit ihrem Stoffhasen leicht gegen die Seite geschlagen. Ihre Augen waren geweitet und in ihnen standen Angst und Traurigkeit.
Aus ihren riesigen Kulleraugen schaute sie zu Nighton auf und fragte ihn ohne Umschweife: »Kannst du ihm nicht helfen?«
Nighton zog die Augenbrauen zusammen und sah Anna verwundert an. Sein Blick wurde sanfter, als er die Ernsthaftigkeit in ihrem kleinen Gesicht bemerkte.
»Wie meinst du das, Anna?«, fragte er leise. Selbst ich war erstaunt, wie ruhig und sanft seine Stimme plötzlich klang. Nighton, der sich sonst in den meisten Situationen unerschütterlich gab, schien eine besondere Geduld für meine kleine Schwester zu haben.
Anna schaute nur kurz zu mir, bevor sie wieder Nighton ansah, als wäre nur er in diesem Moment fähig, ihre Sorgen zu verstehen. Doch bevor sie antworten konnte, war es Thomas, der das Schweigen brach. Seine Stimme war so leise, dass ich mich unbewusst vorbeugte, um ihn zu verstehen.
»Es alles ist zu viel für Dad, Jen«, murmelte er und drückte Annas Hand noch fester. Anna nickte bekräftigend, und plötzlich kam mir der Gedanke, dass sie beide viel mehr wussten, als ich bisher geglaubt hatte. »Dad kommt nicht mehr klar. Die Engel, die Dämonen… all das. Er schläft kaum, geht nachts auf und ab wie ein Gespenst. Seit dem Angriff dieses Dämons, der, der dich in der Küche gebissen hat…« Thomas hielt inne und schluckte schwer. »... hat er wieder angefangen zu trinken.«
Mein Herz setzte einen Schlag aus. »Was?«, flüsterte ich schockiert. »Warum… warum hast du nichts gesagt?«
Thomas sah mich mit einem Ausdruck an, den ich nicht erwartet hatte – er war voller Bitterkeit und Schmerz. »Weil du in deiner eigenen Welt lebst, Jennifer. Du hattest genug mit Dorzar und all dem anderen übernatürlichen Kram zu tun. Wie hätten wir dich da noch mit Dads Problemen belasten sollen?«
Ich wollte widersprechen, ihm sagen, dass das nicht stimmte, aber er ließ mir keine Zeit. Mit gestrafften Schultern fuhr mein Bruder fort. »Die Wahrheit ist, dass es Dad mit dieser Situation nicht gutgeht. Nicht, wenn sich nichts ändert. Er wird daran zerbrechen.«
Thomas sah zu Nighton auf, und in seinen Augen lag plötzlich nichts mehr von dem Ärger, der noch eben zwischen ihnen gefunkt hatte. Da war nur noch Entschlossenheit. »Wenn du wirklich helfen willst, dann lass ihn vergessen. Du kannst das, hast du mal gesagt. Also mach, dass er vergisst. Uns, das Übernatürliche – einfach alles.«
Ein kaltes Gefühl breitete sich in mir aus. »Was?!« Meine Stimme überschlug sich. »Nein! Das… das kannst du doch nicht ernst meinen!«
Thomas zuckte zusammen, als ich ihn anfuhr, doch er schüttelte den Kopf, während der Schmerz tief in seinen Augen mich beinahe ansprang. »Nenn mir eine bessere Lösung, Jen. Irgendeine. Etwas, das ihm hilft, das ihn vor sich selbst rettet.«
Ich war fassungslos. Dad alles vergessen lassen? Uns? Seine Kinder? Ich konnte nicht glauben, dass Thomas das wirklich in Erwägung zog.
Meine Blicke huschten hilfesuchend zu Nighton, doch er verharrte regungslos, seine Augen durchdringend wie immer, aber ohne jegliches Urteil in ihnen. War er… bereit, das zu tun?
Da spürte ich plötzlich einen sanften Druck an meiner Hand. Ich sah hinunter und traf auf Annas ernste Augen. Sie hielt meine Hand, als wäre ich diejenige, die Halt brauchte.
»Weißt du, Jenny«, begann sie leise, und ihre Stimme klang dabei erschreckend erwachsen, »wenn es Daddy besser gehen würde und er keine Angst mehr hätte, dann… dann sollten wir vielleicht darüber nachdenken, was wirklich das Beste für ihn ist, nicht nur das, was wir wollen.«
Es war, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen. Anna… meine nicht mal achtjährige Schwester sprach mit einer Klarheit, die mir den Boden unter den Füßen wegzog. Ich ging in die Hocke und nahm ihr Gesicht in meine Hände.
»Was? Anna, weißt du eigentlich, was du da sagst?«, flüsterte ich eindringlich. Anna nickte ernst, ihre grünen Augen strahlten dabei so viel Ruhe aus, dass es fast wehtat. »Ja«, flüsterte sie. »Wenn es Daddy dann besser geht…«
Tränen stiegen mir in die Augen. Wie konnte sie das so sehen? Wie konnte sie so rational darüber sprechen, während ich das Gefühl hatte, innerlich zu zerbrechen? In dieser Sekunde prallte alles in mir aufeinander. All diese Gedanken, die auf mich einprasselten, ließen mich kaum atmen. Mein Vater… mein Dad… wie sollte ich ihm jemals wieder in die Augen sehen, wenn er mich nicht mehr erkannte? Ich konnte mir nicht vorstellen, einfach an ihm vorbeizugehen, auf der Straße oder selbst hier im Haus, ohne dass er auch nur wüsste, wer ich war. Ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinunter. Und wo sollte ich dann wohnen? Wo sollten wir alle wohnen? Unsere Sachen… unsere Zukunft. All das, was wir hatten, war doch er. Er war unser Zuhause. Er war mein - unser Dad!
Meine Augen brannten, aber ich kämpfte die Tränen zurück. Diese ganze Idee fühlte sich grausam an. Aber, tief in meinem Inneren, spürte ich auch, dass sie vielleicht… vielleicht doch nicht völlig falsch war. Verdammt. Vielleicht war es wirklich die einzige Möglichkeit, um ihn zu retten.
Langsam richtete ich mich auf und suchte Nightons Blick. In seinen Augen lag ein Mitleid, vielleicht auch eine Art von Verständnis. Aber das half mir in diesem Moment nicht. Ich musste wissen, was er wirklich dachte. Ich musste es einfach.
»Was denkst du darüber?«, fragte ich leise und spürte, wie meine Stimme fast versagte. Doch bevor er antworten konnte, fiel Thomas mir scharf ins Wort.
»Wieso fragst du ihn?«
Sein Tonfall ließ mich sofort hochfahren, und noch bevor ich es realisierte, blaffte ich zurück: »Schnauze!« Die Worte waren wie Feuer, und sofort lief Thomas' Gesicht rot an.
»Das ist eine verdammte Familienangelegenheit!«, schrie er mich an. »Was hat seine Meinung damit zu tun?!«
»Er gehört jetzt zur Familie!«, fauchte ich zurück, meine Hände zu Fäusten ballend. »Und wenn er schon derjenige sein soll, der es tut, dann will ich verdammt noch mal wissen, was er dazu denkt!«
Doch Nighton legte mir eine Hand auf die Schulter. Sein Griff war leicht, aber beruhigend. »Lass gut sein, Jennifer. Es ist in Ordnung.« Sein Blick war auf mich gerichtet, sanft, aber fest. »Dein Bruder hat recht. Das ist eure Entscheidung, nicht meine.«
Thomas nickte düster und richtete seine Worte an Anna und mich: »Lasst uns hochgehen. Er sollte wissen, dass du wieder da bist.«
Kurz spielte ich noch mit dem Gedanken, ihm etwas hinterherzuwerfen, doch ein Blick an die Hauswand ließ mich davon absehen. Thomas' Worte hatten mir einen Stich versetzt. Mein Dad… das würde vielleicht das letzte Mal sein, dass er mich erkannte. Das letzte Mal, dass er mich überhaupt sehen konnte, wie ich war. Meine Kehle schnürte sich zu, und für einen Moment wollte ich wegrennen, mich verstecken. Aber ich konnte nicht. Ich musste da durch.
Oben angekommen, warf ich meinen Geschwistern einen letzten, verzweifelten Blick zu, bevor ich tief Luft holte. Meine Hand zitterte, als ich den Türgriff umfasste. Gerade, als ich die Tür öffnen wollte, hielt mich Nighton noch einmal zurück.
»Ich warte hier«, sagte er leise zu mir, seine Augen voll von Verständnis. »Wenn ihr mich braucht, sagt Bescheid, in Ordnung?«
Ich konnte nur stumm nicken, weil ich spürte, dass meine Stimme mich in diesem Moment verraten würde.
Dann betrat ich, gefolgt von Thomas und Anna, mein Zuhause.