Wieder ließ Nighton mir den Vortritt. Als ich ins Freie trat, prallte mir derselbe eisige Wind entgegen. Ich zog die Arme unter meine Achseln, in einem verzweifelten Versuch, mich vor der Kälte zu schützen, und folgte Nighton den Hang hinunter. Dieselbe Kulisse – die hügelige Landschaft, der rauschende Wind, der Berghang und die kleine Burg, auf die Nighton zusteuerte. Alles wirkte unverändert. Und doch... irgendetwas fühlte sich anders an. Ein seltsamer Gedanke blitzte durch meinen Kopf: Hatten wir tatsächlich eine Paralleldimension betreten? War das hier real, und existierte auch hier eine Kuppel, die uns schützte, uns isolierte?
Meine Gedanken rasten, während der Wind mir ins Gesicht schlug. Kalt, viel zu kalt. Er schnitt mir unter die Jacke wie ein scharfes Messer, ließ mich frösteln, trotz meiner dicksten Schichten. Doch als ich Nighton folgte, fiel mir auf, dass tatsächlich einige Dinge anders waren. Die Besucherschilder, die Plakate, sogar der Typ im Ritterkostüm – alles war verschwunden. Stattdessen trat jemand anderes aus dem Schatten unter dem hochgezogenen Fallgitter hervor. Eine Gestalt, die ich nur allzu gut kannte.
Serge. Einen Moment lang vergaß ich die Kälte, als ich ihn erkannte. Serge, der Butler aus Dun'Creld, der Wolfsmann aus dem Keller, den ich tief in meinem Gedächtnis vergraben hatte. Da stand er nun, mit einem Monokel im Auge, die eine Hand vornehm hinter dem Rücken, die andere leicht angewinkelt. Mein Magen zog sich zusammen, als wäre ich plötzlich in die Vergangenheit katapultiert worden.
»Willkommen im Schlund vom Fliedermeer, Yindarin«, schnarrte Serge in seiner unverwechselbaren, näselnden Stimme. Sein Blick blieb auf Nighton haften, kalt, unnahbar. Mir schenkte er nur einen schnellen, finsteren Seitenblick. Eine Begrüßung? Fehlanzeige.
Aber das war mir sowas von egal. Versnobter Snobbie!
»Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Anreise?«, erkundigte sich das Bazillenmutterschiff bei Nighton. Aber der grunzte nur, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, und ging einfach an ihm vorbei. Serge presste die Lippen zusammen, als wäre er gekränkt.
»Tag auch!«, zwitscherte ich hingegen fröhlich im Vorbeigehen. Serge aber verengte nur die Augen, als hätte ich ihn persönlich beleidigt.
»Guten Tag, Miss Ascot«, erwiderte er schließlich, mit einer Stimme, die nur so vor kalter Höflichkeit triefte.
»Oh, hey, Sie erinnern sich ja noch!« Ich grinste breit und hielt für einen Moment inne, überrascht, dass er meinen Namen noch wusste. Das war ja fast schmeichelhaft.
Serge stieß ein abfälliges Geräusch aus, das mehr einem »Hmpf« glich und schoss zurück: »Die Unordnung, die Sie Tag ein, Tag aus in Dun'Creld hinterlassen haben, ist durchaus erinnerungswürdig.«
Mein Grinsen verblasste etwas, als ich an die vielen Male dachte, bei denen ich versehentlich etwas im Internat zerstört hatte. Sei es, weil ich meine Kräfte nicht unter Kontrolle hatte oder Sekeera durchgedreht war – gut, vielleicht hatte ich wirklich einige Sachen ruiniert. Aber war das wirklich ein Grund für solch einen ewigen Groll? War es meine Schuld? Außerdem sollte Serge lieber ruhig sein, wer von uns beiden war schließlich wölfisch angehaucht und hatte versucht, mich im Labyrinth unter Dun'Creld zu fressen?
Bevor ich etwas entgegnen konnte, schallte Nightons Stimme durch die kalte Luft. »Jennifer!« Er stand bereits ein gutes Stück weiter vorne und warf mir einen ungeduldigen Blick zu. Ich blinzelte, drehte mich noch einmal kurz zu Serge um und entschuldigte mich stumm mit einem Blick, bevor ich eilig die Zugbrücke überquerte und mich beeilte, zu Nighton aufzuschließen.
Ich lief durch das grüne, spitz zulaufende Portal hinter dem Fallgitter und trat in einen Innenhof, der sich weit vor mir erstreckte. Pflastersteine knirschten unter meinen Füßen, und der Wind trug das leise Rauschen des Flusses zu mir hinauf. Die Weinberge breiteten sich wie ein grüner Teppich über die Landschaft aus, bis zum Horizont. Eigentlich hatte ich mit einem Burghof gerechnet, der von hohen Mauern umschlossen war – aber stattdessen fand ich mich in einem verschachtelten Hof wieder, der sich über mehrere Ebenen zog. Rosenbüsche, Hortensien und wilder Wein kletterten an den alten Mauern der Burg hinauf, die Zinnen des einzigen großen Gebäudes auf dem Hügel ragten über alles hinaus. Um dorthin zu gelangen, musste man einige Treppen erklimmen.
Es war still. Eine Stille, die nicht bedrückend, sondern friedlich wirkte. Keine Schüler, keine Menschen. Nur der Wind und die Ruhe.
»So«, murmelte Nighton, als er den Koffer abstellte. Er blickte über meinen Kopf hinweg, zurück in Richtung des Burgtors, durch das wir gekommen waren, dann ließ er seinen Blick schweifen, bis er an der großen Kernburg hängen blieb. Etwas schien ihm durch den Kopf zu gehen, aber er ließ mich nicht daran teilhaben. Stattdessen fuhr er sich mit zwei Fingern durch den Bart, bevor er mir in die Augen sah.
Er zeigte auf den Boden und sagte mit einem strengen Unterton: »Du wartest hier, während ich Mortimer suchen gehe. Ich muss mit ihm allein sprechen, und ich finde ihn schneller, wenn ich dich nicht dabeihabe. Wenn ich wiederkomme, dann stehst du noch genau an dieser Stelle hier, verstanden?«
Ein Grinsen zuckte über meine Lippen, und ich konnte ein Augenrollen nicht unterdrücken. »Wir sind in einem der Internate, was soll hier schon passieren?«
Nightons Miene verhärtete sich, ein tiefes Grollen entstieg seiner Kehle, als er mich finster ansah. »Schon«, gab er zu, »aber du ziehst Gefahr an. Bleib einfach hier.«
Ich seufzte und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wenn du so eine Angst um mich hast, warum nimmst du mich nicht einfach mit?«
»Nein, das geht nicht«, sagte er scharf, bevor er innehielt und tief Luft holte. Dann beugte er sich näher zu mir und raunte mit verschwörerischer Stimme: »Ich habe noch eine Rechnung offen, und ich will nicht, dass du das siehst. Also stell keine Fragen.«
Eine Rechnung offen? Ich hob eine Augenbraue. Ging es um Blut? Wollte er jemanden umbringen und hielt mich für zu zartbesaitet, um es zu ertragen? Das konnte doch nicht sein Ernst sein.
»Du musst mich nicht vor Blut und Gedärmen beschützen«, erinnerte ich ihn trotzig. »Ich habe schon genug gesehen, um das auszuhalten.« Es frustrierte mich, dass er mich immer noch wie ein zerbrechliches Wesen behandelte. Ich wollte wissen, was er vorhatte, wollte sehen, was da kommen würde.
Doch Nighton ließ sich nicht beirren. Sein Blick glomm gefährlich auf, und er zeigte mit mehr Nachdruck erneut auf den Boden vor mir. Seine Augen sprachen Bände – er würde keine Diskussion zulassen.
Ich schnaufte frustriert und warf die Arme in die Luft. »Na gut, na gut, ich bleibe genau hier stehen und bin immer noch hier, wenn du wiederkommst, zufrieden, Mr. Ich-lebe-meinen-Kontrollzwang-in-neuen-Dimensionen-aus?«
Nightons strenger Ausdruck wich einem sanften Lächeln. Er hob eine Hand, strich mir eine Strähne hinter mein Ohr, die sich aus meinem Zopf befreit hatte, und sagte ruhig: »Ja.« Dann wandte er sich ab, aber nicht ohne mir einen eindringlichen Blick zuzuwerfen.
Natürlich konnte ich es nicht lassen. Provokant machte ich einen Schritt nach rechts, gerade genug, um ihn herauszufordern. Nighton blieb stehen und sah drohend über die Schulter zu mir. Sein Blick war scharf, aber ich konnte das Spiel darin sehen. Ein Kichern entfuhr mir, und ich stellte mich brav wieder an die ursprüngliche Stelle.
Nighton verschwand um die Ecke, und sobald er außer Sicht war, ließ ich meinen Blick durch den Hof schweifen. Ich konnte doch unmöglich einfach nur hier stehenbleiben. Zu meiner Linken entdeckte ich drei steinerne Bögen, die einen schmalen Balkon umrahmten. Der mittlere Bogen zog mich magisch an, also beschloss ich, ihn zu erkunden.
Der Balkon war so schmal, dass gerade einmal zwei Menschen nebeneinander Platz hatten. Aber der Ausblick – der Ausblick war atemberaubend. Der Fluss schlängelte sich in der Ferne durch die Weinberge, das goldene Licht der tief stehenden Sonne brach durch die Wolken und tauchte alles in ein sanftes Glühen. Der Wind, der hier oben etwas nachgelassen hatte, trug nur noch ein leises Rauschen herüber. Es war so friedlich, so ruhig, als hätte ich für einen Moment die ganze Welt hinter mir gelassen.
Ich atmete tief ein und schloss die Augen, ließ die Kälte und die Stille auf mich wirken. Wer hätte gedacht, dass es in einer Welt voller Kämpfe und Gefahren solche Augenblicke gab?
Plötzlich hörte ich unter mir Stimmengeworr. Neugierig beugte ich mich etwas vor, um besser sehen zu können. Etwa drei Meter unter mir erstreckte sich ein weiterer Teil der Burg. Links führte er zu einem kleinen Turm mit einer grünen, verschlossenen Tür, und rechts stiegen einige Treppenstufen zu einem Rondell auf, das von einem Baldachin aus Blättern überspannt war. Das Ganze wurde von einem knorrigen, moosbedeckten Baum überschattet, der aussah, als hätte er sich mit aller Kraft an den Burgsteinen festgeklammert, um nicht umzufallen.
An der Mauer, die das Rondell umgab, standen ein paar Stühle und Tische, und tatsächlich saßen dort einige Schüler. Jedenfalls sah es von hier oben so aus, als wären es Schüler. Ich kniff die Augen zusammen und beobachtete die kleine Gruppe von vier Leuten, die dicht zusammengedrängt unter dem Baldachin saßen und sich über irgendetwas beugten. Was trieben die da bloß?
Während ich in meine Erinnerungen an meine Zeit in Dun'Creld abdriftete, bemerkte ich nicht, dass sich Schritte von hinten näherten. Erst als sie abrupt stoppten und der Kies unter ihren Füßen knirschte, sah ich über die Schulter.
Hinter mir standen ein Junge und ein Mädchen, beide etwa in meinem Alter, mit weit aufgerissenen Augen und einem Ausdruck von völliger Sprachlosigkeit. Das Mädchen sah aus, als hätte es sich in einen Schminktopf fallen lassen, ihre ellenlangen Kunstnägel funkelten im Licht, und sie trug einen knalligen Nike-Jogginganzug. Ihr Begleiter hatte eine Gel-Frisur, die aussah, als wäre sie gegen den stärksten Wind gewappnet, und trug sackartige Klamotten, die definitiv keinen Modepreis gewinnen würden. Ich legte den Kopf schief und musterte die beiden. War das deutsche Mode? Falls ja, hatte ich definitiv eine andere Vorstellung von Stil.
Die beiden sagten irgendetwas, das ich nicht verstand, also runzelte ich die Stirn. Sie schauten sich gegenseitig an, als hätten sie einen Geistesblitz – oder zumindest das, was für sie wie einer wirken musste. Dann machte das Mädchen einen Schritt auf mich zu und sprach extra langsam, als würde sie befürchten, ich könnte ihr nicht folgen.
»Sag... mal... bist... du... neu?« Ihre Stimme war schrill, als hätte sie Helium eingeatmet, und die Worte tropften vor Unverständnis.
Ich verdrehte innerlich die Augen, schüttelte den Kopf und hob die Hände. »Ich verstehe kein Deutsch«, versuchte ich zu erklären. Das Mädchen blinzelte verwirrt, als müsste sie meine Worte erst einmal verarbeiten, bevor ihr das Licht aufging.
»Oh, ach so, ja sag das doch!« Ihre Antwort kam in unglaublich schlechtem Englisch, und sie tat dabei so, als hätte sie das Rätsel des Lebens gerade gelöst. Sie stieß den Jungen neben sich mit dem Ellbogen an und kicherte albern, als wäre es die witzigste Erkenntnis des Tages.
»Habe ich. Gerade eben.«, murmelte ich und ließ meinen Blick zweifelnd zwischen den beiden hin und her wandern. Es war, als stünde ich vor der geballten Intelligenz eines leeren Müslischälchens.
»Woher kommst du? Wie bist du hier reingekommen?«, fragte der Junge, während er einen kräftigen Schluck aus seiner Energy-Drink-Dose nahm. Sein Blick war stumpf, als hätte der Drink mehr Hirnleistung abgezogen als hinzugefügt.
»Ich warte«, antwortete ich knapp, innerlich aufseufzend. Ich hoffte inständig, dass Nighton bald zurückkäme und diese bizarre Begegnung beenden würde. Waren das hier wirklich die Schüler eines angesehenen Internats? Wenn ja, dann war die Zukunft der Engel und Dämonen in ziemlicher Gefahr.
»Was?«
Ich spürte ihre Blicke auf mir brennen. »Ich warte«, wiederholte ich.
Das Mädchen zog ihre Oberlippe leicht nach oben, als hätte sie irgendetwas nicht verstanden – was offensichtlich der Fall war. Sie drehte sich zu ihrem Kumpel um und nuschelte etwas, das ich nicht verstand. Dann schauten beide mich wieder an, als hätte ich gerade einen Satz in einer toten Sprache von mir gegeben. Ehrlich jetzt?
»ICH WARTE«, sagte ich erneut, diesmal übertrieben langsam und deutlich.
»Worauf?«, kam es endlich aus dem Mund des Jungen, während er mich mit einem leeren Blick musterte.
Worauf? Darauf, dass der Himmel Hirn regnen lässt und die Wolken das Ganze mit einer ordentlichen Dosis Make-up-Entferner verdünnen? Es war schwer zu sagen, ob sie mich nicht verstanden oder ob die Informationsverarbeitung bei ihnen einfach länger dauerte.
»Yindarin«, erwiderte ich knapp, in der Hoffnung, dass dieses eine Wort sie auf den richtigen Trichter bringen würde. Und tatsächlich – Treffer. Plötzlich gerieten die beiden in Aufruhr, als hätte ich ihnen gesagt, dass sie im Lotto gewonnen hätten. Das Mädchen quietschte ein langgezogenes »Oh mein Gott!« und fächelte sich Luft zu, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen. Dass sie sich dabei mit ihren krallenartigen Fingernägeln nicht selbst davonwehte, war wirklich ein Wunder.
Sie sagte wieder etwas zu dem Jungen, der daraufhin nickte und grinste. Ihre Gesten wurden immer wilder. Ich konnte kaum glauben, was ich da sah. Was zum Teufel ging hier vor?
Als ich sie wohl fragend ansah, erklärte der Junge mit einer wilden Mischung aus Händen, Füßen und grauenhaften Englisch: »Sie will... Autogramm.«
Ein Autogramm? Ich musste mir wirklich auf die Lippen beißen, um nicht laut loszulachen. Ach du meine Güte. Das wollte ich sehen – wie diese beiden Intelligenzbestien Nighton um ein Autogramm baten. Da hatten sie sich definitiv den Richtigen ausgesucht. Die Vorstellung, wie Nighton darauf reagieren würde, ließ mich innerlich in einen Lachanfall ausarten.
Hilfe, Nighton! Notfall! Dummheit in ihrer reinsten Form!
Aber die beiden waren nicht fertig mit mir – leider. Sie kamen mir auch noch auf den schmalen Balkon nach und fingen an, mich mit ihrem schlechten Englisch zu belabern. Die Worte prasselten wie ein unverständliches Kauderwelsch auf mich ein, und ich verstand ehrlich gesagt keinen einzigen Satz. Ihre Energie war unermüdlich und irgendwie… beängstigend.
Gerade, als ich die Hoffnung aufgab, entdeckte ich Nighton in der Ferne. Oh, danke dem Himmel! Ohne zu zögern, stieß ich mich von der Balustrade ab und rannte direkt auf ihn zu. Sein strafender Blick verriet mir sofort, dass er es nicht gutheißen würde, dass ich mich von der Stelle wegbewegt hatte. Aber in diesem Fall musste er einfach Verständnis haben! Und selbst wenn nicht, wäre es mir komplett egal. Der sollte mal einen Punkt in seiner Kontrollsucht setzen!
»Rette mich!«, zischte ich noch bevor ich bei ihm ankam. Die Verzweiflung in meiner Stimme war echt, also hob Nighton irritiert eine Augenbraue an. Doch als er hinter mich schaute, schien ihm alles klar zu werden. Die beiden Dumpfbacken standen direkt hinter mir, fast schon aufdringlich nahe. Das Mädchen schmachtete Nighton an, ihre Augen glänzten wie bei einem überdrehten Fangirl, und ihre Hände waren zu kleinen, aufgeregten Fäusten geballt. Der Junge hingegen trank seelenruhig seinen Energy-Drink und musterte Nighton so, als wäre er ein interessantes Exponat in einem Museum.
»Was ist denn los?«, fragte Nighton, da blitzte es plötzlich grell auf. Das – das war nicht wahr, oder? Doch, das Mädchen hatte tatsächlich ihr Handy gezückt und einfach so ein Selfie mit Nighton gemacht. Mir blieb der Mund offen stehen. Es war einfach… unfassbar dreist.
Nighton erstarrte für einen Moment, sein Blick sprach Bände. Ich konnte förmlich sehen, wie in seinem Kopf eine Liste mit grausamen Racheakten aufging, während er das Mädchen anstarrte, die offensichtlich keine Ahnung hatte, dass sie soeben die Grenze des gesunden Verstands überschritten hatte.
Und da war es auch schon so weit. Ich sah, wie sich ein tödlicher Blick auf Nightons Gesicht schlich. Die Luft um ihn herum begann fast zu vibrieren, als würde ein unsichtbares Feld aus purer Wut ihn umhüllen. Mit einer blitzschnellen Bewegung schnappte er dem zwei Köpfe kleineren Mädchen das Handy aus der Hand, bevor sie überhaupt protestieren konnte. Als sie jedoch kreischend versuchte, es zurückzubekommen, und dabei in ihrer schrillen Stimme herumlamentierte, erkannte ich, wie Nightons Geduld endgültig riss.
Er ballte seine Hand – und mit einem knirschenden Geräusch zermalmte er das Handy wie einen lästigen Käfer. Als er die Faust wieder öffnete, rieselten Glassplitter, Plastikstücke und eine ganze Sammlung winziger Einzelteile zu Boden. Okay, mit einer derart heftigen Reaktion hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Da war jemand ordentlich stinkig!
Das Mädchen schlug sich dramatisch die Hände vor den Mund und wimmerte, als hätte er ihr Lieblingstier umgebracht. Der Junge neben ihr war völlig erstarrt, als könnte sein Gehirn nicht schnell genug verarbeiten, was gerade passiert war. Nighton grollte etwas Bedrohliches in ihre Richtung, was ich nicht ganz verstand – aber es klang so höllisch drohend, dass selbst mir ein eiskalter Schauer über den Rücken lief. Das Mädchen wischte sich mit dem Ärmel die Nase ab, packte den Jungen am Arm und zerrte ihn wortlos mit sich weg. Ich konnte mich eines leisen, selbstzufriedenen Lächelns nicht erwehren, während ich ihnen nachsah.
»Es war mir ein inneres Blumenpflücken, das mitanzusehen«, seufzte ich, als sie außer Sicht waren. »Manchmal finde ich es toll, wie gemein du sein kannst.« Nighton schüttelte nur verächtlich den Kopf.
»Was heißt hier gemein? Die hat mich fotografiert! Die soll froh sein, dass sie ihren Kopf noch auf den Schultern trägt. Und sowas ist die Zukunft der Dämonen und Engel«, schnaubte er abfällig und blickte in die Richtung, in die die beiden abgehauen waren.
»Genau das habe ich auch gedacht!«, stimmte ich ihm wild nickend zu. »Was hast du eigentlich zu ihr gesagt?«
Ungerührt, als wäre es das Normalste der Welt, erklärte Nighton: »Ich habe ihr gesagt, dass sie froh sein kann, dass du danebenstehst. Sonst hätte ich ihr mit bloßen Händen ihre überlangen Fingernägel aus den Nagelbetten gerissen und sie benutzt, um ihr die Augen rauszuhebeln.« Ein kurzes, fast unsichtbares Grinsen huschte über seine Lippen, bevor es wieder verschwand.
Ich schluckte schwer und musterte ihn skeptisch. »Ich weiß ja, dass du es mit Fingernägeln und so früher hattest, aber - bäh! Wieso habe ich das Gefühl, dass du sowas schon mal gemacht hast?«
Ein düsteres Glimmen flammte in seinen Augen auf, eine Antwort gab er mir nicht. Stattdessen hob er den Koffer, nahm meine Hand und zog mich einfach weiter in Richtung einer Treppe, die sich zwischen üppigen Hortensiensträuchern hochschlängelte. Ganz offensichtlich wollte er zur Kernburg, als wäre nichts weiter passiert.
»Und, konntest du deine Rechnung begleichen?«, fragte ich etwa fünfzig Stufen später. Nachdem wir unter zwei steinernen Bögen hindurchgetreten waren, antwortete er beiläufig: »Ja. War sehr blutig. Sehr wild. Gedärme flogen herum. Jemand hat einen Finger verloren und ich meine, gesehen zu haben, dass einem sogar das Hirn aus dem Ohr geflossen ist.«
Ich warf ihm einen zweifelnden Blick zu. Ernsthaft jetzt? Das klang wie die schlechte Zusammenfassung eines schlechten Actionfilms. Er hatte das doch nie im Leben ernst gemeint, oder? Wieso klang es dann so einstudiert?
»Klingt ja fantastisch«, murmelte ich sarkastisch, hatte aber absolut keine Lust, weiter nachzubohren. Viel zu neugierig war ich auf das Innere der Burg, das auch nicht mehr lange auf sich warten ließ. Am oberen Ende der Treppe bogen die Stufen plötzlich nach rechts ab und mündeten in einen winzigen, dunklen Innenhof. Die hohen, verputzten Wände warfen den Wind zurück, der dabei ein unheimliches, fast klagendes Heulen erzeugte. Es klang, als würde die Burg selbst vor Schmerzen stöhnen. Über uns gähnten ein paar dunkle Fenster wie leere Augenhöhlen in den Innenhof hinein. Zwei Ausgänge führten aus dem Hof – einer in die Burg und der andere schien ein vergitterter, unpassierbarer Hinterausgang zu sein.
Nighton deutete auf die massive Holztür zur Rechten, die mit gotischen Schnitzereien verziert war. Fasziniert folgte ich ihm und bestaunte die aufwendigen Details der Tür, als er sie für mich aufhielt. 'Ladies first', schien sein Blick zu sagen, also trat ich als Erste ein.
Das kleine Foyer war in schummriges Licht getaucht, aber sofort fiel mir auf, dass wir nicht allein waren.