Am Samstagmorgen wachte ich erst spät auf. Einen Großteil der Nacht hatte ich damit verbracht, wach zu liegen und in die bedrückende Dunkelheit zu starren. Jede Faser meines Körpers war angespannt, bereit, beim kleinsten Geräusch aufzuschrecken und in blinder Panik wegzulaufen. Immer wieder flackerte Dorzars Gesicht vor meinem inneren Auge auf, sein diabolischer Blick und das kalte Grinsen. Jedes Mal, wenn das geschah, durchzuckte mich eine Welle aus Angst und Verzweiflung, die mich in den Wahnsinn treiben wollte.
Ich hätte nur mein Handy nehmen und Nighton anrufen müssen. Er wäre sofort gekommen, hätte mir zugehört, mich getröstet, mich festgehalten und mir versprochen, dass ich sicher wäre. Er hätte mich beschützt. Aber etwas in mir erstarrte jedes Mal bei diesem Gedanken. Ich wollte ums Verrecken nicht, dass er mich in diesem Zustand sah. Die Scham drückte schwer auf meine Brust, obwohl ich wusste, dass ich keine Schuld trug. Ich hatte schließlich nichts getan.
Es war schon fast halb zwölf, als ich durch ein leises Klopfen geweckt wurde. Es war mein Dad.
Verschlafen richtete ich mich auf, in der ersten Sekunde des Erwachens fast ahnungslos. Doch dann fiel mein Blick auf die Plastiktüte neben der Tür, in der die Überreste meiner zerrissenen Kleidung steckten. Mit einem Schlag kam die Erinnerung zurück und schnürte mir die Kehle zu. Alles in mir zog sich schmerzhaft zusammen, und ich musste tief einatmen, um nicht in Tränen auszubrechen.
»Morgen, Sonnenschein«, witzelte Dad und kam rein, um den Vorhang aufzuziehen. Das grelle Tageslicht strömte ins Zimmer, und ich hielt mir eine Hand vor die Augen, zu erschöpft, um zu reagieren. Stattdessen ließ ich mich zurück in die Kissen sinken und drückte mir ein Kissen fest ins Gesicht. Vielleicht, so hoffte ich es jedenfalls, könnte ich so die ganze Welt für einen Moment ausblenden, auch wenn ich wusste, dass das nicht möglich war.
»Und, hattest du gestern Spaß?«, erkundigte Dad sich.
Ich zwang mich zu einem Lächeln, das sich eher wie ein schmerzhaftes Zucken anfühlte.
»Ja, total.« Mein Sarkasmus war schneidend, und ich spürte, wie die Worte bitter über meine Lippen kamen. Wenigstens war der Sarkasmus eine Konstante in meinem Leben, wenn alles andere schon Berg- und Talfahrten machen musste. Dad schien den Tonfall zu bemerken, fragte aber glücklicherweise nicht weiter nach und wechselte das Thema.
»Hör mal, ich muss das Wochenende über nach Edinburgh, mich mit meinem Verleger treffen. Die wollen noch ein paar Dinge aushandeln, bevor das Buch in den Druck geht. Und ich besuche eine alte Freundin. Ihr kommt hier bestimmt zurecht, nehme ich an?«
»Ja.« Meine Antwort war mechanisch, wie aus Reflex gegeben.
»Wunderbar. Aber sag mal, wo steckt denn eigentlich Nighton? Der hat doch die ganzen letzten Tage an dir geklebt. Bist du etwa endlich außer Gefahr?«
Ich hätte fast aufgelacht. Außer Gefahr. Ich. Der Witz zum Samstag. Die Ironie schmerzte fast körperlich. Wenn Dad nur wüsste, dass die wahre Gefahr gerade erst begonnen hatte.
Statt einer Antwort bekam Dad zuerst nur ein zynisches Schnauben von mir. Dann aber zog ich das Kissen von meinem Gesicht und versuchte, die Leere in meiner Stimme zu kontrollieren. »Er ist mit den anderen in Harenstone, ein paar Dinge erledigen. Bestimmt kommt er später.«
Dad runzelte die Stirn und zog seine Tweedjacke enger um sich. Seine Sorge war echt, aber er verstand es einfach nicht. Ich sah ihm an, dass er merkte, dass mit mir etwas nicht stimmte. Doch er schien sich zu scheuen, mich zu fragen. War vielleicht auch besser.
»Hm. Ich halte es auch für besser, wenn sich dieser Hüne nicht immer hier rumtreibt. Ich kann ihn zwar inzwischen ganz gut leiden, aber er macht mir ehrlich gesagt immer noch etwas Angst.«
Ich schwang beide Beine aus dem Bett und erklärte: »Nighton tut niemandem von uns was. Er will nur, dass ich sicher bin.« Dad sah mich einen Moment an, als ob er etwas sagen wollte, ließ es aber dann doch bleiben. Nighton war halt groß und konnte gefährlich und einschüchternd wirken. Aber ich kannte auch seine andere Seite. Und die war weich. Und leider gerade nicht hier bei mir.
Dad verabschiedete sich schließlich seufzend und verließ mein Zimmer, seine Schritte klangen in meinen Ohren noch nach. Damit wuchtete ich mich in Stand. Einige meiner Muskelpartien schmerzten, und ich spürte all die blauen Flecken nachwirken. Auch mein Handgelenk fühlte sich komisch an, deshalb massierte ich es auf dem Weg zu meinem Schrank. Aus dem zog ich neben einer langen Jogginghose ein Sweatshirt sowie einen Schal heraus.
Ich atmete tief durch und versuchte zugleich, die Anspannung loszulassen, die meine Muskeln wie Stahlseile festhielt. Langsam zog ich die langen Sachen an, wickelte den Schal um meinen Hals und versuchte so, die Flecken zu verdecken, die wie Brandmale auf meiner Haut prangten. Ich wollte nicht, dass jemand die Spuren sah, die mich an letzte Nacht erinnerten. Es sollte niemand wissen. In sechs Tagen würde eh alles vorbei sein, und ich würde nicht zulassen, dass irgendjemand davon Wind bekäme, was passiert war. Vor allem nicht Nighton. Er würde mir einen dicken Strich durch die Rechnung machen, was nächsten Freitag betraf, und das durfte nicht geschehen. Ich konnte mich nicht drauf verlassen, dass er die Dinge für mich geradebog, das konnte ich bei keinem. Und ich glaubte Dorzar. Er würde meiner Familie schaden. Nach gestern glaubte ich ihm einfach alles.
Ich saß am Küchentisch, allein mit meinen Gedanken, und starrte in meine Schale Cornflakes. Die Tränen brannten hinter meinen Augen, und es kostete mich alle Kraft, sie zurückzuhalten. Jeder Bissen fühlte sich wie ein Kloß in meinem Hals an, aber ich schluckte ihn herunter.
Anna spielte in ihrem Zimmer lautstark mit ihren Barbiepuppen und ich konnte Thomas in seinem Zimmer murmeln hören. Wahrscheinlich in sein Gaming-Mikro. Eben war er bei mir gewesen, um nach mir zu sehen. Er hatte erleichtert gewirkt, zu sehen, dass ich soweit einen stabilen Eindruck machte. Doch das war nur der äußere Anschein, denn in mir herrschte zerbrechliches Chaos. Ich wusste, dass es geholfen hätte, mit Nighton darüber zu reden. Doch das ging ja nicht.
Nach dem Frühstück schnappte ich mir mein Handy. Auf dem Display blinkten siebzehn verpasste Anrufe von Owen und sechs Nachrichten, fünf von ihm, eine von Nighton. Owens Nachrichten wirkten panisch und in jeder einzelnen fragte er mich, wo ich steckte und ob es mir gut ging. Mit schweren Fingern tippte ich eine kurze Antwort, dass ich zuhause war und dass mir der überstürzte Aufbruch leidtäte. Darauf kam vorerst nichts, aber er schlief vermutlich noch.
Dann las ich Nightons Nachricht. Sie war länger und zeugte zum Glück nicht davon, dass Jason oder Melvyn geplaudert hatten. Er fragte, wie ich geschlafen hatte und ob alles in Ordnung sei. Er erwähnte auch, dass etwas Wichtiges passiert wäre und er später mit den anderen vorbeikommen würde. Ich starrte auf die Worte, fühlte das Gewicht ihrer Fürsorge, und doch konnte ich nicht antworten. Es war zu viel. Ich legte das Handy zur Seite und zog mich in mein Zimmer zurück, um die Hausaufgaben nachzuholen, die ich durch meine Krankheit versäumt hatte. Doch meine Gedanken wanderten immer wieder ab, zurück zu der letzten Nacht, zu Dorzar. Die Worte auf den Seiten verschwammen vor meinen Augen.
Gegen halb vier klingelte es an der Haustür. Ein Schauer lief mir über den Rücken, und für einen Moment verkrampfte sich mein Körper, als hätte ich einen Stromschlag bekommen. Ich wusste, wer es war, und dennoch schlug mein Herz schneller. Bevor ich aufstehen konnte, hörte ich schon Anna auf den Flur und nach vorne rennen.
»Ich mache auf«, rief sie dabei fröhlich.
Ich schaltete das Licht meiner Schreibtischlampe aus und stand auf, um mich im Spiegel zu überprüfen. Die blauen Flecken an meinen Handgelenken, meinem Hals, meinen Beinen und meiner Flanke waren verdeckt, aber die dunklen Ringe unter meinen glanzlosen Augen verrieten, dass etwas nicht stimmte. Meine Haut war noch blasser als sonst, und ein paar Reste verschmierten Make-ups klebten noch unter meinen Augen, das ich hastig zu entfernen versuchte. Ich biss die Zähne zusammen und kämpfte gegen die Tränen an, die drohten, wiederzukommen.
Bleib ruhig, Jennifer. Bleib einfach normal.
Ich öffnete meine Zimmertür und trat auf den Flur. Mein Herz klopfte so stark, dass mir fast schlecht davon wurde. Das lag wahrscheinlich daran, dass ich gleich Nighton unter die Augen treten durfte, und den zu belügen oder ihm was vorzuspielen war unendlich schwer. Penny und Sam kamen mir schon winkend entgegen. Ich versuchte ein Lächeln und strich mir mein Haar zu einem neuen Zopf zusammen, um meine zitternden Hände zu beschäftigen.
»Na, hast wohl zu viel gefeiert?«, witzelte Sam und gab mir einen freundschaftlichen Schlag auf die Schulter, bei dem mir die Knie einknickten.
»Sozusagen«, murmelte ich ausweichend, während Penny mich kurz zur Begrüßung umarmte. Sie ging an mir vorbei und legte ihre Sachen in meinem Zimmer ab. Evelyn folgte ihr, streckte mir verspielt die Zunge heraus und ging ebenfalls in mein Zimmer. Die Taschen, die sie mit sich trug, sahen aus, als würde sie für eine Weile bleiben wollen.
Wollten sie etwa jetzt alle hier übernachten?
Dann bog auch Nighton um die Ecke, mit duschfeuchten Haaren, Zweitagebart, Pullover und Jeans. Er lachte über etwas, das der hinter ihm laufende Melvyn gerade gesagt hatte. Bei dessen Anblick durchfuhr mich ein merkwürdiges Zittern, als ob mein ganzer Körper auf Widerstand schalten wollte. Meine Augen schlossen sich wie von selbst, und ich musste mich abwenden. Die Bilder der letzten Nacht blitzten unkontrollierbar vor meinem inneren Auge auf. Penny, die gerade ihre Sachen vor meinem Bett abgelegt hatte, bemerkte mein Zögern und legte fragend den Kopf schief.
»Na du«, begrüßte Nighton mich gut gelaunt und drückte mir im Vorbeigehen einen Kuss auf die Schläfe. Seine Berührung war wie ein elektrischer Schlag. Sofort zuckte ich zusammen. Die Nähe und die neue Unbeschwertheit, die ich eigentlich so an ihm mochte, fühlten sich plötzlich bedrohlich an. Das verwirrte mich zutiefst.
Weder er noch Melvyn trugen Taschen – ein klarer Hinweis, dass sie nicht hierbleiben würden. Ein Teil von mir war erleichtert. Ich konnte Melvyn nicht in die Augen sehen, weil er mich in meinem verletzlichsten Moment gesehen hatte. Und Nighton? Ihn zu belügen fühlte sich an, als würde ich ein Messer in meinen eigenen Bauch rammen.
»Hallo«, murmelte ich, mehr zu mir selbst als zu ihm. Nighton war schon fast in meinem Zimmer, drehte sich aber im Gehen noch einmal um und musterte mich mit einem durchdringenden Blick. Natürlich schrillten seine Alarmglocken. Er kannte mich einfach zu lange und zu gut. Scheiße. Wieso konnte ich nicht besser schauspielern?
Sein musternder Blick auf meinem Gesicht nahm etwas misstrauisches an. Ich spürte die Gefahr, die in seiner Aufmerksamkeit lag. Er stemmte die Hände in die Seiten.
»Draußen sind zweiundzwanzig Grad und du trägst einen Schal?«, fragte er mit einer Mischung aus Verwirrung und Besorgnis.
Meine Schultern zuckten leicht, eine hilflose Geste, und ich floh durch die Küchentür, die einladend offenstand. Ich brauchte eine Ablenkung, etwas, um die aufkommende Panik zu ersticken. Schnell ging ich zum Schrank, holte die Bohnendose hervor und begann, mir einen Kaffee zu machen. Doch meine Hände zitterten so sehr, dass die Bohnen laut klapperten. Aus dem Augenwinkel sah ich Melvyn, wie er an der Küchentür vorbeiging. Sein Blick brannte förmlich in meiner Seite, bohrte sich durch meine Fassade. Ich tat, als hätte ich es nicht bemerkt, zwang mich, weiterzumachen, als sei alles in Ordnung.
Ich war so nervös. In meinem Kopf wirbelten die Gedanken umher. Was, wenn Nighton oder die anderen merken würden, dass etwas nicht stimmte? Was würde mit mir passieren? Würden Dorzar und Riakeen dahinterkommen und meiner Familie wirklich etwas antun? Das musste ja nicht mal hier zu Hause passieren! Was, wenn sie Anna auf ihrem Schulweg erwischten? Oder Dad, wenn er auf dem Weg zum Fitnessstudio war?
Stop. Ich musste mich zwingen, ruhig zu bleiben.
Tief durchatmen, konzentrier dich.
Ich starrte auf die Dose, die in meinen zitternden Händen immer lauter klapperte. Alles in mir war ein einziges Chaos aus Furcht und Unsicherheit. Wie hatte eine einzelne Person nur so etwas in mir auslösen können? Gestern noch war alles gut gewesen...