Ich schloss die Haustür auf und wäre beinahe über einen Haufen Schuhe gestolpert, und Sam im selben Zuge fast über mich. Ich fing mich gerade noch so und schob ein Paar blauer Kinderschuhe beiseite, um meine zwei Freunde reinzulassen.
Hinter Penny drängte sich laut bellend Sams Köter Puka vorbei. Puka war ein Hund der Rasse Neufundländer, der Sams Bruder gehörte. Der war nur leider laut Sam im Krankenhaus, weshalb der angeboten hatte, sich um das Tier zu kümmern. Ich war natürlich wenig begeistert gewesen, als Sam vorhin mit diesem schwarzen Riesenvieh angekommen war, aber er hatte versprochen, dass es nur für wenige Tage sei - und ich war gewillt, ihm zu glauben.
Puka schoss geradeaus ins Esszimmer auf meinen gerade herankommenden Vater zu. Der bekam einen Heidenschreck und taumelte ein Stück zurück. Er trug einen dicken Schal um den Hals und seine Nase war gerötet. Zusätzlich hatte er rote Augen. Scheinbar war er erkältet. Aber so hatte er vorhin auch schon am Telefon geklungen, als ich verkündet hatte, dass ich spontan wieder einziehen würde.
Sam pfiff das haarige Biest zurück, das schnaubend aufhörte, die Wolljacke meines Vaters zu besabbern und zurück zu Sam trottete. Ziemlich entgeistert stellte mein Dad seine halbvolle Teetasse auf dem Esstisch ab, rückte seine Lesebrille ein Stück aufwärts und zeigte auf Puka. Mit heiserer Stimme rief er: »Erst Dämonen und jetzt Hunde?«
Ich verzog nur das Gesicht und hob entschuldigend die Schultern.
»Tut mir leid, Sam muss auf ihn aufpassen. Puka ist auch ganz pflegeleicht. Nicht wahr, Sam?«
Mit hochgezogenen Augenbrauen schaute ich zu Sam, der begriff und dann so heftig nickte, dass ihm seine Locken um den Kopf flogen. Er zeigte sein breitestes Grinsen und versicherte meinem Vater, dass Puka das allerliebste Hündchen war.
Nachdem Dad seinen Schreck über Puka überwunden hatte, verlangte er von mir eine Erklärung. Am Telefon hatte ich nämlich nicht viel gesagt. Kurz und knapp schilderte ich ihm die Geschichte, erzählte dabei aber nur das Wichtigste. Er musste nicht wissen, dass Selene wahrscheinlich versuchte, meinen Dämonenfürst-Vater aus der Hölle zu befreien und dafür am ehesten mein Leben beenden würde. Also sagte ich nur, dass im Haus ein paar Renovierungsarbeiten anstanden, was ja auch nicht ganz gelogen war. Immerhin hatte Nighton davon geredet, dass er die Wand zerstören wolle.
»Und die zwei da?« Dad sah an mir vorbei auf Penny und Sam, die immer noch hinter mir im Flur standen.
»Die?« Ich seufzte nach einigem Zögern auf und beschloss, nicht zu lügen. »Die zwei passen auf mich auf. Deswegen müssen sie einige Zeit hier schlafen. Ich hoffe, das ist okay für dich? Du wirkst etwas fertig.«
Schreck zeichnete sich auf dem Gesicht meines Vaters ab. Er fragte sofort nach, warum ich so viel Schutz bräuchte und ignorierte völlig meine Frage nach seiner Gesundheit.
»Bist du etwa schon wieder in Gefahr? Sag bloß, dich verfolgt so ein Ding wie neulich!« Er schauderte. Wahrscheinlich dachte er gerade an den Agrameos. Also beeilte ich mich zu sagen: »Nein. Es ist nur sicherheitshalber. Nighton kann nicht. Der hat was zu tun und kommt nach. Ich bin vorerst nur vorübergehend hier.«
»Soso«, grummelte Dad, schniefte und nahm seine Teetasse wieder in die Hand. Ich sah ihm an, dass es ihm nicht gefiel, dass er keine Entscheidungsgewalt über mich hatte. Dennoch sagte er nichts dazu und schlug vor, ein paar Sandwiches zu machen.
Ich stimmte zu und half dann meinen Freunden, die Taschen nach hinten zu tragen.
Sam stürmte direkt in Tommys Zimmer, der, wie ich durch die halbgeöffnete Tür erkennen konnte, mit hochgelegten Beinen und im Morgenmantel in seinem Schreibtischstuhl lag und grölend aufsprang, als er seinen neuen besten Freund erkannte. Penny und ich sahen uns an und seufzten synchron.
Dann wollte ich Anna begrüßen, die allerdings in einem noch viel ärmlicheren Zustand war als mein Dad. Sie lag in Dunkeln im Bett, dick eingepackt und wisperte unverständliches Zeug vor sich hin. Ihr Kopf glühte und ich hütete mich, ihr nahezukommen.
Also ging ich in die Küche, wo Dad gerade heftig in die Ellbeuge nieste. Ich zuckte zurück und verzog angeekelt das Gesicht, als ich vor ihm liegend mehrere Toastscheiben erkannte. Ich war echt nicht scharf drauf, krank zu werden.
»Wieso seid ihr denn alle krank?«, fragte ich und warf einen Blick auf das Chaos in der Küche. Man sah, dass ich eine Woche nicht zu Hause gewohnt hatte.
Dad nieste erneut und röchelte dann: »Grundschulkeime!«
Skeptisch dreinblickend nahm ich ihm das Messer aus der Hand und schickte ihn raus. Dann widmete ich mich seufzend den Broten.
An diesem Tag passierte nichts mehr. Ich erzählte bloß Penny haarklein, was bei dem Seher passiert war. Sie war darüber genauso erschüttert wie Nighton und teilte sogar seine Ansicht über die Wand in meinem Haus. Von Sam sahen wir nicht mehr viel, aber das hatten wir auch nicht anders erwartet.
Gegen halb elf erhielt ich eine SMS von Nighton. Bei der Art, wie ich mich auf diese Nachricht stürzte, musste Penny furchtbar lachen.
»Das sieht ja fast so aus, als hättet ihr euch wieder lieb, wenn du so tust, als hätte er sich seit Jahren nicht gemeldet!«, kicherte sie, während ich halb in der Luft hing und an meinem Handy zog, um es vom Ladekabel abzumachen.
Als Antwort ächzte ich nur und wedelte mit dem Arm nach Penny, die nach meinem Handgelenk griff und mich wieder zu ihr zurück auf die Luftmatratze zog.
»Ich will nur wissen, wo er ist und wann er kommt«, murmelte ich ausweichend und öffnete die Nachricht. Penny linste mir über die Schulter und schaltete Es von Stephen King stumm, der gerade im Free TV lief.
Nerviger Creep schrieb am 19. September 2010, Sonntag, 10.24pm:
Ich hoffe, bei euch ist alles klar. I's Auftrag war nur semi erfolgreich, erzähle ich morgen. Bin gerade beim Haus und sammle dein Zeug ein. Komme später zu euch, da wirst du vmtl schlafen. Brauchst du noch was Bestimmtes aus H?
Bitte keine Dummheiten.
Schlaf gut. Denke an dich.
»Oh«, machte Penny verzückt, »er hat ‚schlaf gut‘ und ‚denke an dich‘ geschrieben! Wie süß!«
Röte stieg in meine Wangen und ich musste ein blödes Grinsen unterdrücken. Nachdenklich schaute ich auf die Tasten.
»Was soll ich antworten?«
Penny überlegte, ehe sie vorschlug: »Wie wäre es mit: Mein heiß geliebter Nighton, o wärest du doch hier in meinen Ar-«
»Penny, stopp!«, stöhnte ich. Penny erstickte fast an ihrem Lachen, in das auch ich einstimmte. Da ging die Tür auf und mein Bruder und Sam standen da, synchron ihre Zähne putzend.
»Warum macht ihr so komische Quietschgeräusche?«, nuschelte Thomas durch seine Zahnpasta hindurch. Ich richtete mich auf.
»Los, raus mit euch, wir haben hier Mädchenthemen zu besprechen«, forderte ich.
»Jaja, ihr wollt doch nur-«
Ich warf ein Kissen nach Tommy, der rasch die Tür zuzog und sich mit Sam verdrückte. Aufstöhnend lehnte ich mich nach hinten. Penny war merkwürdig still geworden, also fragte ich, was los war.
Sie zwirbelte eine Strähne zwischen ihren Fingern und antwortete leise: »Er sieht mich gar nicht wirklich. Jetzt noch weniger als früher. Jedenfalls kommt es mir so vor.«
Verständnislos beugte ich mich wieder vor, um meiner Freundin ins Gesicht sehen zu können. »Wie meinst du das?«
Ich verdrängte den Socken-Eklat von letztens aus meinem Kopf, zog ein trauriges Gesicht und erkundigte mich: »Seit wann bist du eigentlich in ihn verliebt?«
Penny seufzte tief auf. Dann antwortete sie: »Schon seit der ersten Stufe im Internat. Er hat so schöne Augen. Er kann sie zum Leuchten bringen. Und er ist so witzig.« Erneut seufzte sie auf.
Ich rüttelte an ihrem Arm und beschwor sie: »Sag es ihm! Er muss wissen, wie du für ihn gekämpft hast, als er verletzt war, und auch sonst! Sam ist blind, er ist ein Idiot!«
»Nein!« Penny schüttelte heftig den Kopf. »Er mag eben eher Mädchen wie – wie – nun ja, wie dich. Das hatte ich nur bisher nicht so wahrhaben wollen.«
Ich schnaubte. »Also ich kann dir versichern, dass er ganz dir gehört.«
Penny bettete ihren Kopf auf das Kissen und musterte mich, ehe sie aus dem Nichts das Thema wechselte und nachfragte: »Ich habe von Nighton gehört, dass es bei seiner Mission gerade um ein großes natürliches Yagransin-Vorkommen geht.«
Ich war kurz verwirrt, nickte aber. Penny zog ein sehr ernstes Gesicht und sagte, an die Decke blickend: »Eigentlich sollte es keine solchen Kristalle mehr geben, geschweige denn Staub von ihnen.«
Beim Stichwort Nighton fiel uns beiden die SMS wieder ein und Penny drängte mich dazu, eine Nachricht zu schreiben.
Jenascot schrieb am 19. Juli 2010, Sonntag, 11.09pm:
Gut, danke für die Info. Anna und mein Dad sind krank, hoffe, hier steckt sich keiner an. Sieht nach Grippe aus. Ich lasse das Fenster ein Stück offen.
Dummheiten? Ich weiß nicht, was du meinst.
Danach legten wir uns schlafen. Leider war es unerträglich heiß im Zimmer. Da half auch der Standventilator nicht viel. Draußen waren es einfach immer noch über fünfundzwanzig Grad, und morgen sollten die Gradzahlen an die Vierzig gehen. Bei dem Gedanken wurde mir schlecht. Winter war mir da deutlich lieber! Was war das bitte für ein September? Warum war es denn nur so heiß?
Mitten in der Nacht wurde ich von einem schabenden Geräusch geweckt und saß direkt senkrecht im Bett. Zuerst dachte ich, es wäre wieder ein unbeseelter Dämon hier oder jemand, der mich für irgendein Ritual entführen wollte, aber es stellte sich nur heraus, dass Nighton soeben durch das Fenster geklettert war. Der legte, sobald er erkannte, dass ich wach war, im Halbdunkel einen Finger an die Lippen, ehe er auf die schnarchende Penny zeigte.
Mein wild pochendes Herz beruhigte sich wieder, und stattdessen verspürte ich Freude, dass Nighton plötzlich da war. Leider rutschte es im nächsten Moment in einen weiteren, wilden Rhythmus ab. Nighton hatte angefangen, sich zu entkleiden, bis er nur noch seine Boxershorts trug. Mit offenem Mund verfolgte ich ihn dabei, ich konnte den Blick gar nicht abwenden. Er legte seinen ganzen Kram über die Lehne meines Schreibtischstuhls, ehe er lautlos zwischen Pennys Matratze und mein Bett lief und von dort zu mir ins Bett stieg. Wollte er etwa hier schlafen? Obwohl mein Vater zuhause und nicht sein größter Fan war?
Oh Gott, schlimmer, wollte er etwas hier schlafen, bei mir? Noch nie hatte ein Mann in meinem Bett gelegen, und nun war es auch noch Nighton, der das änderte.
Ich konnte spüren, wie er sich hinter mir auf das schmale ein Meter zwanzig Bett quetschte. Ich lag mit weit aufgerissenen Augen in Seitenlage an der Bettkante. Mein Herz sprang mir fast aus der Brust.
O Mann.
Er lag tatsächlich hinter mir! Wie oft hatte ich mir das schon vorgestellt? Durch den Schock über diese Tatsache fühlte ich mich fast betäubt. Ja, mag ja sein, dass ich übertrieb, aber kommt schon, auf so etwas hatte ich schon früher extrem gegeiert - und jetzt passierte es einfach unverhofft. Diese Nähe überforderte mich restlos, zumal ich nur einen kurzen Sommerpyjama trug.
»Ist das in Ordnung?«, wollte Nighton flüsterleise wissen. Ich bekam Gänsehaut von seinem Atem an meinem Ohr und merkte, wie stocksteif ich war. Also lockerte ich meine Muskulatur.
»Hm-hm«, presste ich hervor und bekam direkt die nächste Herzattacke, als er unvermittelt näherrückte, einen Arm um meine Mitte legte und mich zu sich heranzog. Nun lag ich mit meiner Rückseite an ihn gepresst da, die Luft anhaltend und überfordert mit allem.
Hilfe, was passierte hier? Das war alles so unerwartet!
Ich kniff die Augen zu. Mein Körper wurde noch starrer. Das merkte Nighton. Kurz erstarrte auch er, dann raunte er: »Zu früh?«
»Nein!«, stieß ich etwas zu laut vor, doch Penny schlief unbekümmert weiter. »Wehe, du nimmst deinen Arm weg.«
Ich spürte, dass das Bett leicht erzitterte. Nighton schien zu lachen. Unwillkürlich musste ich lächeln und wurde ein wenig ruhiger. Ich drehte mich in Nightons Arm möglichst leise zu ihm um, um Penny nicht zu wecken. Das gestaltete sich schwierig, mein Bett knarzte nämlich.
Definitiv kein gutes Bett, nein, nein...
»Gibt es was Neues zu der Wand?«, fragte ich und verspürte den Impuls, mit meinem Finger in Nightons Viertagebart zu pieksen.
»Nein. Gabriel, Raphael und Michael probieren sich da gerade aus. Mal schauen, was sie erreichen«, kam es aus der Dunkelheit.
Ich schwieg, ehe ich meinem Impuls nachgab und Nighton am Kinn berührte. Die einzige Reaktion, die er zeigte, war kurz den Kiefer anzuspannen. Seltsam. Diese ganze Situation war einfach nur seltsam. Schön, aber ... passiert das hier gerade wirklich?
»Du liegst in meinem Bett. Nighton, der unnahbare Arsch, liegt in meinem Bett!«, stellte ich aus dem Nichts völlig verdattert fest, bevor ich diese intelligente Bemerkung weiter überdenken konnte. Ich meine - gestern noch hatten wir uns massiv in den Haaren gelegen, und jetzt, einen Tag später, ließ ich zu, dass er mir so nahe kam.
Im Halbdunkel des Zimmers sah ich, wie sich Nightons Mundwinkel verzogen.
»Und du fummelst an meinem Bart herum. Das ist nicht weniger komisch«, entgegnete er.
Nachdenklich heftete ich meinen Blick auf seinen Mund, ehe ich kaum hörbar fragte: »Was tun wir hier?«
Nighton reagierte nicht sofort. Erst nach ein paar Augenblicken erwiderte er rau: »Weiß ich nicht.«
Wieder kehrte Stille ein, in der ich überlegte, ob ich mich an ihn pressen sollte. Hey, was sollte denn jetzt noch passieren? Außerdem hatte er den ersten Schritt gemacht.
»Was hast du heute Morgen eigentlich mit 'noch nicht' gemeint?«, fragte Nighton plötzlich mit veränderter Stimmlage. Er klang ziemlich neugierig, mit einem Hauch von Spott.
So viel zum Thema 'Was sollte denn jetzt noch passieren'. Bei seiner Frage, die mich in dieselbe unangenehme Lage versetzte, die ich morgens schon durchlebt hatte, schluckte ich und wurde rot. Zum Glück sah Nighton das nicht. Die Tatsache, dass wir so dicht aneinander gedrängt dalagen, erleichterte es mir nicht, eine Ausrede zu finden.
Somit bestand meine Antwort aus einem dümmlichen: »Ich weiß nicht, was du meinst.«
Nighton schnaubte.
»Wenn du das sagst«, murmelte er, aber ich hörte ihm seine Belustigung an. Er wusste genau, dass ich auswich. Zum Glück ging er nicht weiter drauf ein, sondern bedeutete mir, mich zurück auf die rechte Seite zu drehen. Ich war ziemlich erleichtert darüber und spürte, dass ich langsam schläfrig wurde.
Er lag wirklich hinter mir und hielt mich fest.
Diese gar nicht so neue Erkenntnis brachte mich zum Lächeln, und bald schon schlief ich in der beruhigenden Festigkeit seiner Umarmung ein. Und ich schlief verdammt gut.