- Nighton -
Beinahe rannte ich Michael in seinem Turm über den Haufen. Noch bevor das flimmernde Blau des Teleportlichts erloschen war, stand der Erzengel mit sorgenvoller Miene da, der offenbar schon wusste, was mich in diese Eile versetzte.
»Endlich!« Seine Stimme schwang zwischen Erleichterung und Vorwurf. »Ich habe schon die Kurzfassung zu hören bekommen, aber dich konnte ich nicht mehr erblicken, als du das Haus betreten hast! Was ist passiert?! Und warum bist du voller Blut?«
Ich hatte keine Zeit für Erklärungen, sondern spuckte nur ein knappes: »Wo ist Isara?«
Michael verzog das Gesicht, eindeutig ungehalten über meine ruppige Art, doch er zögerte nur einen Moment, schulterte sein Schwert und brummte: »Die Oberste ist im Thronsaal. Ich nehme an, die Schergen der Dämonengöttin hatten Erfolg damit, an Jennifer Ascot zu kommen?«
Ein Zorn schoss durch meine Adern, heiß und bitter, aber ich schluckte ihn herunter, drängte mich wortlos an ihm vorbei und schob das Portal auf. Gil folgte mir mit einem leisen Grummeln und zog sich, im gleißenden Licht Oberstadts, die Jacke über den Kopf. Das Aufseufzen und der theatralische Kommentar, den Michael mir hinterherrief – »Es war abzusehen« - stieß bei mir nur auf taube Ohren. Lediglich Sekeera geriet in Wut, doch ich schaffte es, sie zu unterdrücken.
Während ich auf das Schloss zuschoss, war alles in mir auf Jennifer fokussiert, auf die quälende, wahnsinnige Angst, die sich wie ein Stachel tief in meine Brust gebohrt hatte. Ich brauchte Unterstützung, dringend – Verstärkung, um Selenes dämonische Truppen abzulenken, damit ich eine Chance hatte, Jennifer zu finden und sie rauszuholen. Wenn Selene Asmodeus wirklich erweckt hatte … der Gedanke ließ mich kaum atmen.
»Warte hier. Ich kläre das allein mit der Obersten. Dich kennt hier niemand, und du bist ein Dämon, es ist leichter, wenn du nicht mit reingehst«, befahl ich Gil knapp, als wir die letzten Stufen hinter uns hatten und das Portal zum Schloss vor uns aufragte. Unverständnis flackerte in seinen Augen.
»Aber–«
»Tu einfach, was ich dir sage!« Ich ließ ihm keine Wahl, packte das Portal und zog es auf. Zwei überraschte Himmelswachen starrten mich an, ihre Unterhaltung riss abrupt ab, doch ich würdigte sie keines Blickes, sondern stürmte mit langen, festen Schritten in den Saal.
Beeil dich! Lauf schneller!
Es roch nach Weihrauch, die Feuerschalen glühten in einem dumpfen, rötlichen Licht, und die Wärme war drückend, fast unerträglich. Oder lag es daran, dass ich innerlich kochte, diese brennende Unruhe, die in mir loderte und alles andere übertönte?
Am anderen Ende des Saals stand Raphael neben dem Thron, mir den Rücken zugewandt. Aber … keine Spur von Isara.
Wo ist sie?
Frag den blyade eren! Und wenn er nicht redet, lass ihn, für Provokation fehlt uns die Zeit!,
drängte mich Sekeeras gehetzte Stimme.
»Raphael!«, rief ich im Gehen. Der glatzköpfige Erzengel drehte sich zu mir um, langsam, zu langsam, und sein Blick schien mich auszuloten, ehe er sich endgültig zu mir wandte. Von allen Erzengeln war er der am wenigsten Umgängliche, das hatte ich schon früh herausgefunden.
»Wo ist die Oberste?«
Raphael musterte mich weiterhin, doch nun dehnte sich in seinem Blick eine Mischung aus Zorn und Enttäuschung aus, bevor er wütend hervorpresste, seinen Streithammer umklammernd: »Du hattest kein Recht dazu, sie zu töten.«
Ich spürte einen Anflug von Verwirrung, der mich kurz langsamer werden ließ.
Wie meint er das?,
fragte Sekeera lauernd.
»Redest du von Eloria?« Ich blieb kurz vor den Stufen stehen, mein Blick war fest auf den Erzengel gerichtet, der mir von oben herab begegnete und dabei die Hände hinter dem Rücken verschränkte.
»Sie war meine Schülerin. Ich habe sie vor neunhundert Jahren einst auserwählt.« Seine Stimme bebte vor unterdrücktem Zorn. »Wie konntest du es wagen, sie zu töten? Du hättest sie nach Oberstadt bringen sollen, damit man sie hier richtet! Weißt du, wie viel Arbeit und Energie du vernichtet hast? Und das nur wegen eines unwichtigen Menschenkindes?«
Sekeera schnappte nach Luft und schwoll in meinem Kopf an wie eine herannahende Sturmflut, doch ich hielt sie zurück. Stattdessen knurrte ich drohend: »Wenn du sie in meiner Gegenwart noch einmal ‚unwichtig‘ nennst, dann sorge ich dafür, dass du dich zu deiner verräterischen Schülerin gesellst. Apropos. Sie sagte, sie habe einen Meister, einer, der ihr wohl Befehle erteilt. Und es ist nicht Selene. Irgendeine Idee vielleicht, Raphael, wen sie meinen könnte?«
Raphael explodierte förmlich vor Zorn. Eine gleißende Lichtwelle schoss von ihm aus in alle Richtungen, als er sich in die Höhe erhob.
»Du wagst es, mir zu drohen, du dreckiger Emporkömmling?!«, brüllte er, doch in diesem Moment tauchte Michael neben mir auf. Ich hatte nicht bemerkt, dass er mir gefolgt war. Er hob beschwichtigend die Hände und rief erschrocken: »Bruder, Bruder, beruhige dich, bei den Göttern!«
Ohne noch einen weiteren Gedanken an Raphaels Wutausbruch zu verschwenden, wandte ich mich ab. Diese ganze Farce konnte mir gestohlen bleiben; Sekeera hatte Recht, ich hatte keine Zeit, mir das Spektakel anzusehen. Ich würde die Oberste auf eigene Faust finden.
Da trat Isara wie durch Zufall durch einen der hohen Durchgangsbögen, und ihr Blick wurde sofort wachsam, als sie mich erkannte. Doch ich ließ ihr keine Zeit, Fragen zu stellen, sondern stürmte direkt auf sie zu. Das Kind wich instinktiv einen Schritt zurück. Normalerweise hätte es mich gefreut, ihre Angst vor mir zu sehen, doch in diesem Moment war ich zu ungeduldig, um auch nur einen Funken Freude daran zu empfinden.
»Ich brauche die gesamte Himmelswache. Jetzt!«, schleuderte ich ihr ohne große Erklärungen entgegen. Im Hintergrund öffnete sich im Gang die Tür zum Kartensaal, und Tharostyn trat langsam hinaus, gefolgt von einigen würdentragenden Gestalten, die neugierig herüberschauten.
Isara legte verständnislos den Kopf schief. »Warum? Was ist passiert?«
Gepresst erklärte ich ihr, was geschehen war. Auch Elorias Verrat ließ ich nicht aus, und Tharostyns Gesicht, der natürlich dazugestoßen war, veränderte sich zu einer Mischung aus Schock und Betroffenheit. Mein Herz raste, und ich unterdrückte den Impuls, darüber nachzudenken, was Jennifer gerade durchmachen musste.
Tharostyn war der Erste, der sich wieder gefasst hatte und das Wort ergriff. »Sie haben Miss Ascot also doch noch gekriegt? Und dann auch noch wegen Eloria? Meine Güte, und ausgerechnet ich habe sie empfohlen! Das heißt dann, dass die Dämonengöttin–«
»– wahrscheinlich gerade einen gefallenen Höllenfürsten erweckt, ja.« Ich warf Isara einen ungeduldigen Blick zu. »Wir müssen sofort ein paar Engel formieren und nach Unterstadt. Jetzt!«
Doch Isara sah mich nur ruhig an und sagte einfach: »Nein.«
Hat dieses Kind gerade nein gesagt?
Sekeera klang schockiert.
Hat es.
Ich starrte Isara an, spürte, wie das Blut in mir brodelte, als sie den Kopf schüttelte. Mit langsamen, drohenden Schritten kam ich ihr näher. Ich sah, wie die Himmelswache in der Nähe nervös wurde, wie sie den Blick auf mich richteten, unsicher, ob sie eingreifen sollten. Doch Isara reckte das Kinn, zwang sich, meinem Blick standzuhalten – ein Zeichen von Mut, das in diesem Moment nichts an meiner Wut linderte.
Als ich so direkt vor ihr aufragte, schluckte sie unmerklich, und ich beugte mich leicht vor. Mit einer Stimme, die nicht mehr war als ein dunkles Knurren, raunte ich: »Wie war das?« Ich ließ Sekeeras kaltes Flüstern frei durch mich sprechen, das scharfe Echo ihrer Stimme durchdrang meine Worte.
»Ich sagte n-nein!« Isara’s Stimme zitterte, und ich sah das kurze Aufflackern von Ärger in ihrem Blick – ein letztes Aufbäumen, sich nichts anmerken zu lassen.
Meine Sicht färbte sich in einen drohenden Orangeton, als die Wut in mir aufstieg, heiß und gewaltig. Ich atmete scharf durch die Nase ein, jede Muskelfaser in mir gespannt, und baute mich bedrohlich vor ihr auf.
»Was heißt hier ‚nein‘?«, fauchte ich. »Es geht um Jennifer!« Die Emotionen schwangen unkontrolliert in meiner Stimme mit, und selbst mir war klar, dass ich sie nicht mehr zügeln konnte.
Isara trat einen Schritt zurück, um etwas Abstand zu gewinnen, aber ihre Stimme blieb standhaft, auch wenn ihr Mut fast wie Trotz wirkte. »Ich verstehe, dass du dich um sie sorgst, aber ich muss das große Ganze sehen! Das Risiko ist zu hoch. Wir können uns keine Verluste erlauben.«
Im Hintergrund sah ich Tharostyn, der den Kopf schüttelte, während ich alles in mir tun musste, um mich zurückzuhalten. Am liebsten hätte ich dieses wichtigtuerische Gör gepackt und ihren Kopf so lange gegen die Wand geschlagen, bis Vernunft in ihr Gehirn kam. Ihre Stimme und ihre Ignoranz machten mich fast wahnsinnig vor Wut, und ihr hochnäsiger Tonfall erinnerte mich an Nedeya – was definitiv nicht zu ihren Gunsten sprach. Doch es würde nur größere Probleme bringen, wenn ich sie jetzt hier zur Rechenschaft zog. Ich musste versuchen, mit Worten weiterzukommen, auch wenn es mir schwerfiel.
Was?! Nein! Wir sollten diese vermaldeite Ignoranz aus ihrem kleinen Körper pressen, das geht viel schneller! Wozu reden?!
Ruhe!
»Sie würde dasselbe für dich tun, wäre sie an deiner Stelle!«
Isara schüttelte langsam den Kopf. »Nighton! Die dunkle Armee ist viel größer als unsere. Wir können Selenes Residenz nicht einfach stürmen! Zumal es noch nicht sicher ist, dass Jennifer sich überhaupt dort aufhält!«
»Ich habe es doch selbst von Eloria gehört!« Ich ballte die Hände zu Fäusten, spürte, wie sich meine Fingernägel in die Handinnenflächen gruben. »Sie hat es mit ihren eigenen Worten gesagt, bevor ich ihr den Schädel zertrümmert habe – Akastrah.«
Ein Frösteln glitt durch den Saal, als ich den Namen von Selenes Schloss aussprach. Die dämonische Gossensprache hallte schwer in der Luft wider, und für einen Moment schien selbst das Sonnenlicht durch die hohen Fenster zu flackern, als würde es sich zurückziehen.
»Was wäre denn überhaupt dein Plan?«, fragte Isara schließlich, und ihr Blick wurde zweifelnd. Selbst Tharostyn, der schweigend an ihrer Seite stand, wirkte jetzt eher unentschlossen. Aber er sagte kein Wort.
»Wir marschieren in Selenes Schloss und lehren sie das Fürchten!« Mein Tonfall wurde immer schärfer, die Wut kochte über. Jede Sekunde, die wir hier verbrachten, verschwendeten wir!
Doch wieder schüttelte Isara den Kopf. »Nein. Wir haben gerade ernstere Probleme, Nighton. Die Menschen und ihre Entdeckungsfreude bringen uns stetig in größere Gefahr. Ich kann niemanden entbehren, um einen Menschen zu retten – selbst wenn ich Jennifer mag. Sie zu retten bringt uns keine Sicherheit. Sie ist … so leid es mir tut, das zu sagen … für uns zurzeit unwichtig.«
Lass uns die kindliche Made töten!,
schrie Sekeera in meinem Kopf, ihre aufgeregte, wütende Energie durchflutete mich, bis ich die Kontrolle über sie verlor. Mit aller Macht ließ ich meine Fäuste links und rechts in den Durchgangsbogen krachen, sodass ein dumpfer Knall durch den Saal hallte. Isara zuckte zusammen und wich zurück, und auch die Himmelswachen packten ihre Waffen. Doch sie zögerten, unsichere Blicke tauschten sich aus – sie wussten, dass sie gegen mich keine Chance hatten.
»SAG DAS NOCHMAL!«, grollte ich. Meine Stimme war so voller Zorn, dass aufgebrachte Stimmen unter den Würdenträgern aufbrandeten. Ich bemerkte Tharostyn, der sich räusperte und mit brüchiger Stimme das Wort ergriff. »Wir alle wünschen uns, dass Miss Ascot zurückkehrt, Nighton.« Seine Worte waren beschwichtigend, aber ich spürte die Abwehr in seinem Tonfall. »Doch wir können jetzt niemanden entbehren. Da muss ich der Obersten leider rechtgeben. Vielleicht könntest du die Erzengel fragen, oder–«
Doch ich hatte genug. »Wer war es, der Selene vor wenigen Monaten erst aus diesem Schloss vertrieben hat? Wer war es, der dafür gesorgt hat, dass Oberstadt noch existiert?« Ich wurde lauter. »Jennifer! Ohne sie hätte Selene Oberstadt unterworfen, und wir alle wissen das! Sie hat sich trotz der Prophezeiung ihres Todes für euch in Gefahr gebracht hat – und jetzt seid ihr nicht bereit, auch nur einen Finger für sie zu rühren?« Ich ließ den Blick über die Versammlung gleiten, jeden Einzelnen fest ins Visier nehmend. Auch Michael und Raphael. »Vielleicht ist euch das Leben dieses Mädchens nichts wert, aber sie hat euch den Kopf aus der Schlinge gezogen. Und das, während ihr eurem eigenen Untergang zugesehen habt. Also beweist mir und euch, dass Oberstadt noch Haltung besitzt – und tut etwas!«
Gut geknurrt, Löwe.
Sekeeras Flüstern klang wie ein finsterer Applaus in meinem Kopf.
Erneut trat eine kalte Stille ein, die nur durch das leise Rascheln der Gewänder und das angespannte Atmen der Umstehenden durchbrochen wurde.
»Nighton, wir verstehen dich. Aber du musst auch uns verstehen«, sagte Isara unbeirrt. »Und ich sage dir: Im Moment ist Jennifer nebensächlich.«
Meine Zähne knirschten. Doch ich hielt mich noch zurück, obwohl ich innerlich kochte. So leicht würde ich mich nicht geschlagen geben.
»Wärst du an ihrer Stelle«, begann ich mit eisiger Stimme, »wäre ganz Oberstadt in höchster Alarmbereitschaft. Jen würde keinen Moment zögern, für dich alles in Bewegung zu setzen – weil sie sich nicht von ihrer eigenen Position blenden lassen würde, wie du es tust.« Ich bohrte meinen Blick in ihren. »Sie hätte die Größe, die du als Oberste nie gezeigt hast.«
Ich ließ eine kurze Stille eintreten, bevor ich mit noch schärferer Stimme: »Ihr urzeitliches Blut verleiht ihr einen Anspruch auf deine Stellung als Oberste, der den deinen bei weitem übertrifft – trotz ihrer Menschlichkeit. Wusstest du das eigentlich?«
Isaras Gesicht verhärtete sich. Stille, dichte, angespannte Stille senkte sich über den Saal, bis das aufgeregte Gemurmel der anderen die Ruhe zerbrach. Stimmen, wütende Kommentare, die sich alle übereinanderstapelten. Einige starrten mich mit unverhohlener Abscheu an, doch das ließ mich völlig kalt. Wenn sie dachten, ich würde mich von ihnen abhalten lassen, hatten sie sich getäuscht – ich war nicht bekannt für meine diplomatischen Fähigkeiten.