Nighton tauchte mit verschränkten Armen im Türrahmen zum Bad auf. Er hatte eben noch ein ziemlich langes Telefonat geführt und machte nun ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. Doch anstatt sich zu erklären, schaute er mir dabei zu, wie ich meine Haare hochsteckte. Bei seinem musternden Blick lief ein Kribbeln an meiner Wirbelsäule hinab. Ich mochte die neue Art und Weise, mit der er mich ansah. Als er bemerkte, dass auch ich ihn im Spiegel beobachtete, rang er sich ein gequält und irgendwie beunruhigt wirkendes Lächeln ab.
»Du siehst hübsch aus«, kommentierte er dennoch sanft. Offenbar wollte er nicht darüber sprechen, was am Telefon Thema gewesen war. Doch seine Worte sorgten ohnehin dafür, dass ich mich einzig und allein auf sie konzentrierte.
Das aufgeregte Lächeln, das sich in meinen Gesichtszügen breitmachen wollte, ließ mich beinahe den Haargummi verlieren, den ich zwischen den Zähnen hielt. In letzter Sekunde konnte ich es noch verhindern, indem ich meine Lippen zu einem dünnen Strich zusammenpresste.
Ich sehe hübsch aus? Junge, Junge, hätte mir vor einem Jahr jemand erzählt, dass Nighton das mal zu mir sagen würde...
Den Haargummi aus meinem Mund nehmend und in meinen Haaren festmachend, murmelte ich schüchtern: »Danke.«
Nighton stieß sich vom Türrahmen ab und kam näher. In derselben Bewegung versetzte er der Tür einen Schubser, sodass die hinter uns ins Schloss fiel. Im Nebenzimmer konnte ich Thomas laut in sein Headset schreien hören. Anna rannte auf dem Flur auf und ab und mein Dad war gerade in die Küche geschlurft, um sich eine Kanne Tee aufzubrühen.
Penny und Sam waren vorhin kurz vorbeigekommen und hatten sich gefreut, dass ich wieder auf den Beinen war. Ich vermisste die beiden und hatte mir hoch und heilig versprechen lassen, dass sie am Sonntag vorbeikämen, damit ich etwas mit ihnen unternehmen konnte. Die zwei hatten ein wenig davon erzählt, wie es mit der Wand voranging. Offensichtlich bissen sich die Engel an ihr die Zähne aus, wenn ich das richtig verstanden hatte.
Nighton unterbrach meinen Gedankengang, indem er tief Luft holte und endlich mit der Sprache herausrückte: »Du hast es zwar nicht mitbekommen, aber seit ein paar Tagen gibt es arge Probleme in Harenstone. Die Wand scheint sich ... zu weigern, ich weiß nicht, wie ich es sonst erklären soll. Es sind schon zwei Engel draufgegangen, weil die Wand unbeseelte Dämonen anzieht, und Isara macht mir langsam die Hölle heiß. Ich habe gesagt, dass ich nicht kann, aber-«
»Nighton.« Ich drehte mich zu ihm um und legte ihm besänftigend eine Hand auf den Arm. Überrascht schaute Nighton mich an.
»Ich verstehe es schon, du wirst gebraucht. Du bist mir zwei ganze Wochen nicht von der Seite gewichen, was ich total süß fand, immerhin hast du jetzt eine Bestimmung. Also geh schon zu den anderen, wenn das einer versteht, dann ich. Allerdings hoffe ich, dass du mir das jetzt nicht mit so einer Grabesmiene gesagt hast, weil du denkst, mich damit von der Feier fernhalten zu können.« Ich schob ein vielsagendes Lächeln hinterher und drehte mich zum Spiegel um.
Nighton sah auf meinen Hinterkopf, ehe sich seine Mundwinkel zu einem unglücklichen Grinsen anhoben. Unsere Blicke trafen sich im Spiegel. Er stand so nah hinter mir, dass ich die starke Hitze seines Körpers spüren konnte.
»Als ob ich dich von irgendetwas fernhalten könnte. Aber Spaß beiseite, ich hatte nicht vor, es dir auszureden, nur habe ich kein gutes Gefühl. Und Se...«, er stockte, »-Sekeera auch nicht. Keine Ahnung, wo das herkommt. Aber wie auch immer, du gehst auf keinen Fall allein. Melvyn wird mitkommen.«
Ich zog eine Grimasse und griff nach meinem Eyeliner.
»Ausgerechnet der? Ich mag ihn nicht. Er ist gemein«, murrte ich. Nighton hob die Schultern an und entgegnete unbeeindruckt: »Dafür ist er der fähigste Kämpfer, den ich habe. Alle anderen sind gerade nicht entbehrlich, und Sam traue ich erst wieder über den Weg, wenn er stärker geworden ist.«
Nach wie vor wenig begeistert zog ich mir mit geübter Bewegung links und rechts einen Lidstrich. Nighton schaute mir einen Moment lang dabei zu, dann fragte er stirnrunzelnd: »Wo soll diese Feier überhaupt stattfinden? In London oder außerhalb? In einem Haus oder draußen? Wer kommt noch alles? Und wie lang soll der Spaß gehen?«
Achselzuckend antwortete ich wahrheitsgemäß: »Ich habe absolut keine Ahnung. Owen hat mich schon damals ziemlich überfallen, als er mich eingeladen hat.«
»Hm«, machte Nighton besorgt. »Gefallen tut mir das nicht. Was, wenn die Zwillinge dort auftauchen? Oder wenn es eine geheime Dämonenparty ist, um dich rauszulocken?«
Wieder drehte ich mich zu Nighton um, der sich langsam aber sicher in seine Ängste zu steigern schien. Um diese Spirale zu unterbrechen, griff ich nach seiner Hand und beschwor ihn: »Dann ist es gut, dass Melvyn da ist, der dann wahrscheinlich als Erster auf meinem Leichnam tanzen wird. Im Ernst, Nighton, das ist eine komplett gewöhnliche Party voller gewöhnlicher Leute. Von Stephen King abgesehen. Der ist alles andere als gewöhnlich. Melvyn wird schon aufpassen, dass mich keiner frisst, und wenn es irgendein Anzeichen dafür gibt, dass es dort gefährlich werden sollte, bin ich sofort auf und davon, fest versprochen. Du kannst mich nicht für immer in Watte packen, das hatten wir doch schon.« Ich ließ ihn los und tätschelte ihm aufmunternd die Schulter, ehe ich mich wieder umdrehte und mein Gesicht genau im Spiegel betrachtete. So ganz war es mir nicht gelungen, die Spuren der Grippe zu tilgen, aber es würde reichen. Wenigstens fühlte ich mich nicht mehr so lädiert wie heute Mittag.
Da näherte Nighton sich mir unerwartet, indem er sich sich links und rechts von mir mit den Händen auf dem Waschbecken aufstützte. Seine Fronstseite beührte dabei meine Kehrseite. Ich hielt direkt die Luft an. Was machte er da? Was sollte das werden?
Er senkte den Kopf. Kurz darauf spürte ich seinen Atem auf der empfindlichen Haut meines Nackens auftreffen. Sofort begann es dort zu prickeln. Ich konnte nur blinzeln. Es war schlichtweg unbegreiflich, welche Reaktion mein Körper auf Nightons Annäherungen zeigte. Nur warum tat er sowas? Vor wenigen Stunden noch hatte er mir klargemacht, dass er es langsam angehen wollte, und nun das?
Plötzlich konnte ich unter dem Türspalt der Badezimmertür einen Schatten sehen. Und nicht nur ich sah ihn. Im Spiegel noch bekam ich mit, wie Nightons Blick zur Seite ruckte, dann ging alles sehr schnell. Bevor ich auch nur ein weiteres Mal blinzeln konnte, war er einen Schritt zurückgetreten und brachte eine angemessene Portion Abstand zwischen sich und mich.
Kaum einen Augenblick später stieß mein Dad die Badezimmertür schwungvoll auf und stemmte die Hände in die Seiten, uns beide vorwurfsvoll musternd.
»Ich sagte doch, die Türen bleiben in dieser Wohnung offen!«
Genervt stöhnte ich auf. Wenigstens war ich nicht rot geworden, das hätte mich nämlich verraten. Ziemlich patzig erwiderte ich: »Ach, und seit wann gilt das bitte für das Bad?«
»Seit du hier nicht mehr allein reingehst!« Dad fuchtelte mit dem Zeigefinger herum. Ich konnte sehen, dass Nighton sich ein Grinsen verkneifen musste. Er lehnte mit verschränkten Armen und gesenktem Kopf hinter mir an der Heizung und schien die Situation tatsächlich lustig zu finden. Ärgerlich wies ich darauf hin: »Ich bin fast neunzehn, Dad, du kannst mir nicht für immer alles verbieten.«
Mein Vater schnaubte laut auf, stemmte die Hände in die Seiten und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf den Boden.
»Solange du unter meinem Dach-«
»-unter meinen Dach wohnst, kommt das nicht in Frage, jaja, du wiederholst dich!«
»Junge Dame!«, begann er, sich aufplusternd. »Ich verbitte mir diesen frechen Ton! Ich als dein Vater habe eben Regeln. Und die, die neuerdings ganz oben steht, lautet: keine unanständigen Dinge im Badezimmer! Die Tür bleibt also auf.«
»Dad!«, ächzte ich. Die Hitze der Scham hielt mit aller Macht Einzug in meinem Gesicht. Warum musste mein Vater sowas andauernd vor Nighton sagen?!
Der musste sich inzwischen heftig das Lachen verbeißen.
Mein Dad wandte sich ihm zu und erklärte völlig ungerührt ob meiner Reaktion: »Verstehen Sie mich nicht falsch, Sie scheinen ein guter Kerl zu sein, aber - ähm - immerhin kümmern Sie sich ganz rührend. Es ist nur so-«, er wurde auf einmal ganz ernst, »-sie ist mein Kind, ich will, dass es ihr gut geht und dass sie sicher ist, und bei allem, was hier in letzter Zeit passiert ist...« Er ließ seine Worte ausklingen.
Zuerst hatte Nighton sein Lachen noch bekämpfen müssen, dann aber wich es einem verständnisvollen und ernsten Ausdruck.
»Nein, Sir, ich verstehe Sie sogar sehr gut«, versprach Nighton ruhig und schaute mich an. »Wissen Sie, mein Vater hat früher manchmal gesagt: 'Man kann nicht immer alle Türen offenlassen, aber man sollte stets wissen, warum man sie schließt'.« Er hob leicht die Schultern an und fügte hinzu: »Ich will ebenfalls nur das Beste für ihre Tochter. Und ich habe keinerlei Absicht, ihrem Vertrauen zu schaden.«
Überrascht musterte ich Nighton. In all der Zeit hatte ich ihn nie etwas Persönliches über sich oder sonst wen verlieren hören, und nun redete er einfach so über seinen Dad? Wie seltsam!
Meinem Vater schien die Antwort zu gefallen, denn er brummte und erwiderte: »Klingt, als wäre Ihr Vater ein kluger Mann gewesen. Danke, dass wenigstens Sie das verstehen.« Im nächsten Moment ließ er den Blick an mir rauf und runter wandern. Sich am Kinn kratzend wechselte er das Thema und bemerkte zweifelnd: »Findest du das Kleid nicht ein wenig, nun ja, unpassend? Du gehst doch auf die Geburtstagsparty vom alten Delaney, nicht auf einen Hübschmach-Wettbewerb!«
Ich kicherte über die ungewöhnliche Wortwahl, ehe ich den Kopf schüttelte und erklärte, wer da noch so auftauchte. Mein Dad machte große Augen. Er selbst hatte früher viel von Stephen King gelesen, dementsprechend neidisch war er also.
»Also gut, dann mach mal, wie du denkst. Wann bist du wieder daheim?«, fragte er anschließend.
Ich hob die Schultern an.
»Weiß ich nicht. Aber Owen bringt mich heim, hat er mir versprochen.«
Dad nickte wohlwollend und wünschte mir viel Spaß, bevor er sich wegdrehte und sich anschickte, nach meinem Bruder zu sehen. Kurz darauf hörte ich ihn schimpfen, weil Thomas mit seinen 39° Fieber nicht im Bett lag.
Den Rest der Konversation bekam ich nicht mit, denn ich langte nach Nightons Arm und zog ihn hinter mir her in mein Zimmer.
»Jetzt, wo dein Dad es gesagt hat - meinst du nicht, dass du wirklich etwas zu overdressed bist? Missversteh mich nicht, du siehst umwerfend aus, aber-« Er verstummte, als er meinen Gesichtsausdruck sah, und ließ sich auf meinen Schreibtischstuhl sinken. Ich knurrte vor mich hin. Was hatten alle für ein Problem mit meiner Kleiderwahl? Was sprach denn gegen mein tailliertes, knielanges, tiefschwarzes Satin-Abendkleid? Ich hatte nun mal nichts anderes da, und als geblümte Gardinenstange wollte ich auch nicht gehen. Das wäre nämlich die zweite Option gewesen, ein blaues Kleid mit weißen Blumen. Ich besaß eben keine Kleider, weil ich sie nicht mochte.
»Du hast doch nur ein Problem, weil es Owen vielleicht zu sehr gefallen könnte!«, stichelte ich. Eigentlich war das nur so dahergesagt gewesen, aber ein Blick in Nightons Augen bestätigte mir, dass ich gar nicht so falsch lag. Auflachend und bevor er sich verteidigen konnte, rief ich, auf ihn zeigend: »Dir geht es gar nicht darum, dass ich unpassend gekleidet bin, du bist eifersüchtig!«
Nightons Kinnlade ruckte hinab. Er suchte nach Worten, doch ich war schon auf den Zug aufgesprungen und provozierte direkt weiter: »Meinst du, ihm gefällt es?« Ich drehte mich vor meinem Spiegel hin und her, wo ich das Kleid unterhalb meiner Oberweite noch etwas zurechtrückte. So wandte ich mich zu Nighton um, der seine finstere Miene in letzter Sekunde noch in den Griff bekam. Unglaublich, wie viel Spaß es machte, ihn zu ärgern.
»Erstens: Ich bin nicht eifersüchtig. Zweitens: Woher soll ich das wissen, ich kenne den Kerl nicht. Und interessieren tut es mich auch nicht«, behauptete er kurz angebunden, bemüht um eine gefasste Miene. Doch ich war noch nicht fertig. Kurz darauf hielt ich ihm zwei Jacken vor die Nase und fragte: »Was meinst du, lieber die Bezahl-mir-meine-Drinks-Jacke-«, ich hob eine schwarze Lederjacke mit Nieten an, »-oder die ich-bin-lieber-allein-sprich-mich-nicht-an-Jacke?« Ich zeigte ihm einen dunkelblauen Mantel aus Kaschmir. Letzteren hatte ich so gut wie noch nie getragen. Eigentlich gehörte Derartiges nicht zu meinem sonstigen Kleidungsstil. Genau wie das Kleid, dass ich mir irgendwann mal im Sale für irgendeinen Anlass gekauft hatte.
Nighton starrte erst meine Auswahl und dann mich an. Aufschnaubend erhob sich, schob mich aus dem Weg und öffnete den Kleiderschrank, aus dem er den bodenlangen Winter-Pelzmantel von meiner Mutter Cora herauszog, den ich manchmal als Decke zweckentfremdete.
Den hielt er mir an den Körper und erklärte sehr überzeugt: »Der wäre perfekt. Das ist der Schau-mich-nicht-an-sprich-nicht-mit-mir-atme-nicht-in-meine-Richtung-sonst-plättet-dich-der-Yindarin-Mantel.«
Ich musste lachen und wehrte ab. »Du spinnst doch!«
Nighton zog ein Gesicht und hängte den Mantel zurück. Sobald er die Schranktür geschlossen hatte, betrachtete er mein Kleid einen Moment lang und sagte dann mit einem Lächeln, das seinen Worten die Schärfe nahm: »Also, ich muss als gutmeinender Gentleman etwas anmerken: Der Ausschnitt deines Kleides ist doch sehr tief. Mich persönlich stört das ja nicht, aber ich will sicherstellen, dass du nicht unbeabsichtigt zum Hauptthema der Party wirst. Nicht, dass du in die Kategorie 'Künstlerische Freiheit' fällst.«
Ich hob eine Augenbraue an. Der wollte wohl Krieg mit mir!
Mit demselben Lächeln entgegnete ich lieblich: »Keine Sorge, ich bin mir sicher, dass der Tiefenrekord meines Ausschnitts niemanden davon abhält, mich als die Hauptattraktion der Party zu sehen.«
»Ha!«, lachte Nighton auf. »Na fein, du hast das letzte Wort.« Er trat auf mich zu und blieb vor mir stehen. Ein vorsichtiges Lächeln bahnte sich auf seinen Zügen an, als er zum Sprechen ansetzte.
»Auch wenn ich selbst nicht da sein kann, um auf dich und potenzielle unerwünschte Blicke zu achten, bin ich mir sicher, dass du die Party rockst - ganz egal, wie tief du blicken lässt.«
Er hielt einen Moment inne, bevor er fortfuhr: »Und keine Sorge, ich würde dir nie vorschreiben, was du tragen sollst, falls das so rübergekommen ist. Ich bin überzeugt, dass du alle Blicke auf dich ziehst – aus den richtigen Gründen, versteht sich. Ich finde dich sehr schön, egal, was du anhast. Und wenn du dich so wohlfühlst, dann vergiss, was ich gesagt habe. Manchmal arbeitet mein Mund schneller als mein Geh...« Er erschrak, als ich ihn aus dem Stehgreif heraus umarmte. Kopfschüttelnd und eine fassungslose Miene ziehend presste ich hervor: »Wann bist du so geworden?!«
Von über mir ertönte ein verdutzter Laut, doch ich erklärte mich nicht. Stattdessen stellte ich mich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. Für eine Sekunde spürte ich Nightons Überraschung, doch dann riss er das Ruder an sich. Er schob mich rückwärts gegen den Schrank, presste seine Hüften gegen mich, griff in meinen Nacken und erwiderte den Kuss. Mir wurde fast schwindelig. Ich stöhnte verhalten, wobei ich meinen Mund gerade so weit öffnete, dass seine Zunge meinen Mund erforschen konnte.
»Was macht ihr da?«
Nighton und ich öffneten gleichzeitig die Augen und erstarrten. Er ließ mich los, und wir drehten uns zu Anna um, die in der Tür stand und einen Plüschhasen in der Hand hielt. Nighton atmete tief aus, während ich mich vom Schrank abstieß, mein Kleid glattstrich und versuchte, mir meinen Frust wegen der Unterbrechung nicht anmerken zu lassen. Trotzdem wummerte mein Herz und mir war ein wenig schwindlig. Das könnte zwar auch an meiner vergangenen Grippe liegen… aber ich wusste es besser.
»Ich hatte was zwischen den Zähnen, Annie. Er hat mir nur geholfen«, log ich und lächelte meine Schwester an, die die Arme vor ihrem Stofftier verschränkte und misstrauisch zwischen uns hin und her sah.
»Mit seiner Zunge?«
Mein Lächeln erstarrte. Verdammt. Wie erklärte man einem Kind, dass es gewisse Dinge gab, die Erwachsene taten? Da mir auf Biegen und Brechen nichts einfiel, schnauzte ich: »Du kriegst fünf Pfund, wenn du vergisst, was du gesehen hast!« Ich wollte unbedingt verhindern, dass Anna zu Dad rannte und ihn fragte, was ich ihr nicht beantworten wollte.
Anna verengte die Augen.
»Zehn!«, verlangte sie entschieden, was mich sprachlos machte.
»Hey Annie, weißt du, was ein Gnarl ist?«, erkundigte Nighton sich plötzlich, sanft lächelnd. Meine Schwester schaute neugierig zu ihm auf und schüttelte den Kopf. Bevor ich ihn abhalten konnte, beugte er sich ein Stück zu Anna herunter und raunte: »Das sind große, dürre Dämonen in der Gestalt alter Frauen, die geldgierige kleine Kinder fressen. Erst die Arme, dann die-«
Mit viel Mühe schaffte ich es, ihm den Mund zuzuhalten. War er verrückt geworden?!
Annas Augen wurden riesig vor Angst, und ihre Unterlippe begann zu zittern.
»Anna, nein, nein, nicht heulen, er macht nur Spaß, sowas gibt es nicht!«, versuchte ich verzweifelt, die Situation zu retten, und ergriff meine kleine Schwester an den Schultern. Doch Anna brach schon in wimmerndes Geheul aus.
»Ich … will … nicht … dass … ein … Gnarl … meine … Arme … frisst!«, schluchzte sie, nach jedem Wort nach Luft schnappend. Gereizt schaute ich zu Nighton hoch.
»Gut gemacht!«, zischte ich vorwurfsvoll. Nighton zuckte hilflos mit den Schultern und beobachtete Anna, die immer lauter weinte.
»Ich wollte nur helfen«, versicherte er, und bevor ich auch diesmal einschreiten konnte, trat er hinter Anna und legte ihr alle zehn Finger an die Stirn. Nach weniger als fünf Sekunden ließ er sie wieder los. Ihr Geheul stoppte abrupt. Verwirrt wischte Anna sich die Tränen ab und schaute erst mich und dann Nighton aus großen Augen an.
»Geh in dein Zimmer«, forderte ich meine Schwester sanft auf, die ihr Plüschtier noch fester an sich drückte.
»Bist du morgen wieder da? Ich habe neue Haargummis, mit Pferdchen! Ich kann dir Zöpfe machen! Das geht auch mit kurzen Haaren!« Begeistert klatschte Anna in die Hände, meine Aufforderung völlig ignorierend. Ich konnte Nighton ansehen, wie unangenehm ihm die Vorstellung von Zöpfen war. Mein Ärger über sein Eingreifen in ihre Erinnerungen jedoch sorgte dafür, dass es mir diebische Freude bereitete, ihr zu versprechen, wie sehr er sich doch drauf freute. Anna strahlte und verschwand dann aus meinem Zimmer. Ich schickte Nighton einen weiteren finsteren Blick, sobald sie weg war.
»Sowas kannst du doch nicht zu meiner sensiblen Schwester sagen! Dir ist schon klar, dass sie zu dir aufsieht? Und Gedächtnislöschen ist echt uncool. Ich verstehe, warum du das mit mir gemacht hast, aber nur weil man etwas verbockt, gibt es einem nicht das Recht, in den Köpfen anderer herumzuwühlen! Schon gar nicht bei Kindern! Oder würdest du so etwas etwa auch mit deinen eigenen machen?«, warf ich ihm vor und griff nach meiner Handtasche. Nighton zuckte erneut mit den Schultern.
»Das bleibt wohl ein Rätsel, denn ich habe nicht vor, Kinder zu haben. Und selbst wenn ich welche hätte, würde ich wahrscheinlich dennoch in Versuchung geraten, solche emotionalen Ausbrüche sofort zu unterbinden. Was meinst du wohl, wie oft ich das bei dir gemacht habe?«
Und da war er wieder, der alte, zynische, knurrige Nighton, wie ich ihn kennengelernt hatte. Selenes bester Scherge. Kurz verharrte ich, dann schüttelte ich den Kopf.
Anklagend erwiderte ich: »Ja, warum schwermachen, wenn es auch leicht sein kann, oder? Ach, egal. Ich muss los. Owen kommt gleich.«
Es hatte keinen Sinn, weiter mit ihm zu diskutieren. Ohne eine Antwort abzuwarten, schnappte ich mir den Mantel und wollte an Nighton vorbeigehen. Doch der bat mich in diesem Moment: »Warte.«
Er trat mir in den Weg. Ich hielt an und schaute abwartend und ohne eine Miene zu verziehen zu ihm hoch. Nighton atmete tief durch, schien seine Worte sorgfältig zu wählen und sagte schließlich aufrichtig: »Tut mir leid. Du hast recht, ich hätte das nicht machen sollen. Es war nicht meine Absicht, deiner Schwester Schaden zuzufügen. Vielleicht war es die Macht der Gewohnheit, keine Ahnung. Aber ich verstehe, dass du wütend bist. Wie gesagt, einiges ist für mich noch sehr ungewohnt an dieser ganzen Situation mit dir und deiner Familie, aber ich arbeite daran. Nur fällt es mir schwer, das ein oder andere abzulegen.« Er setzte eine gequälte Miene auf. »Ich werde mein Bestes tun, um das wieder gutzumachen. Versprochen. So wie früher will ich einfach nicht mehr sein.«
Mein Herz wurde bei seiner Entschuldigung ganz weit. Ich schaute ihm tief in die Augen, stellte mich auf die Zehenspitzen und hauchte ihm einen blitzschnellen Kuss auf den Mund. Nighton legte den Kopf etwas in den Nacken. Ein seltsamer Ausdruck tat auf sein Gesicht. Beinahe schmunzelnd raunte er: »Wird Zeit, dass wir wieder nach Harenstone zurückkehren. Ich glaube, ein bisschen Privatsphäre würde uns guttun.«
Leider konnte ich nicht verhindern, dass mir bei diesen Worten das Blut ins Gesicht schoss. Meine Muskulatur zog sich zusammen. Der Gedanke daran, was Nighton mit 'Privatsphäre' wohl meinen könnte... allein das raubte mir schon den Atem. Doch jetzt musste ich aber wirklich los.
...leider.