Wir preschten durch die belebten Straßen Londons. Der Verkehr strömte um uns herum, doch die grünen Ampeln schienen uns gnädig gesinnt zu sein. Die Stadt war hier geschäftiger als beim Hyde Park, aber wenigstens mussten wir nicht anhalten. Nach einer gefühlten Ewigkeit der Stille wafre ich, zu fragen: »Wohin fahren wir?«
Nighton warf mir einen kurzen, abwesenden Blick zu. »Ich weiß es noch nicht. Vielleicht in ein Hotel oder so, ich bin mir nicht sicher.«
»Okay«, murmelte ich und schaute wieder aus dem Fenster. Die Ungewissheit und die Sorge um Sam nagten an mir. Plötzlich vibrierte ein Handy – nicht meins. Es lag im Fach vor dem Schaltknüppel und leuchtete hell auf. Auf Nightons auffordernden Blick hin nahm ich das Handy in die Hand. Die Nummer war unbekannt, also zögerte ich einen Moment und sah Nighton fragend an. Er nickte nur, die Augen fest auf die Straße gerichtet. Also nahm ich das Gespräch an.
»Hallo?«
Die Stimme am anderen Ende war mir vertraut. Es war Jason.
»Hallo Jennifer. Schön, von dir zu hören. Der Yindarin hat versucht, mich zu erreichen. Ist er bei dir?«
Ich schluckte. Misstrauen überkam mich. Jason war auch auf der Feier gewesen. Wie steckte er da mit drin?
»Es ist Jason«, sagte ich schließlich widerwillig. Nighton streckte mir auffordernd seine Hand engegegen, doch ich zögerte. Statt ihm das Handy zu geben, drückte ich meinen Daumen auf das Mikrofon und weihte Nighton schnell und flüsternd darin ein, dass Jason am Freitag letzter Woche ebenfalls auf der Feier gewesen war, und dass die dort plötzlich aufgekreuzten Militär-Menschen ihn nicht angegriffen hätten. Nighton lauschte mir aufmerksam, und als ich endete, schüttelte er entschieden den Kopf und behauptete, sich seiner Sache sehr sicher erscheinend: »Er ist kein Verräter. Gib her.«
Aufseufzend gab ich ihm sein Handy. Irgendwie hatte ich das Gefühl, als wäre niemandem mehr zu trauen. Nighton hielt das Lenkrad mit der linken Hand fest und hielt sich sein Telefon ans rechte Ohr, weiterhin konzentriert auf die Straße schauend.
»Jason, gut, dass du zurückrufst … Ja, natürlich … Ihr geht es gut … Ja … Nein, nur sie … Ich habe keine Ahnung, er war bei ihr … Nein … Wo? Sutton? … Das wäre großartig, ich weiß nämlich nicht … Genau … Okay, bis gleich.«
Sobald er aufgelegt hatte, machte Nighton mitten auf der Straße eine Kehrwende. Das Auto schien aufzubrüllen, bevor es in die entgegengesetzte Richtung losschoss. Ich wurde erneut in den Sitz gepresst. Ein Knoten der Ungeduld und Besorgnis schnürte sich in meinem Magen zusammen. Was hatten Jason und Nighton besprochen? Die Bruchstücke des Gesprächs ergaben keinen Sinn.
»Was hat er gesagt? Wo fahren wir hin? Was ist in Sutton?«, wollte ich wissen. Nighton warf mir einen kurzen Blick zu, während er weiterhin unablässig in den Rückspiegel sah.
»Eine vorübergehende Notlösung«, antwortete er kurz angebunden. »Wir fahren zu Jason. Er hat uns seine Hilfe angeboten, und ich habe keinen besseren Plan. Oberstadt scheint mir momentan zu riskant, und ich weiß nicht, wie sicher die Teleportsterne noch sind. Gerade weiß ich gar nichts mehr.«
Seine Worte drangen kaum zu mir durch. Stattdessen dachte ich nur daran, dass ich Jason wiedersehen würde. In meinen Erinnerungen verband ich ihn mit dem Moment, als er mich vor Dorzar gerettet hatte – und ich wollte nicht an Selenes Diener denken müssen, jedes Mal, wenn ich Jason sah. Außerdem wusste ich nicht, ob ihm zu trauen war - er hatte mir zwar geholfen, aber es konnte einfach kein Zufall sein, dass auch er auf der Feier gewesen war. Hoffentlich irrte Nighton sich nicht.
»Muss das sein?«, murmelte ich, während ich meine Hände anstarrte. Am liebsten wollte ich einfach nur nach Hause.
Nighton schwieg, aber ich sah, wie sein Kiefer sich verkrampfte. Nach einigen angespannten Sekunden erwiderte er mit einer Schärfe in der Stimme, die wie eine unausgesprochene Drohung klang: »Ja, das muss sein. Diskutiere nicht mit mir. Nicht jetzt, bitte. Wenigstens dieses eine Mal.«
Seine schroffe Stimme, die am Ende fast anschwoll, ließ mich zusammenzucken.
»Nicht schreien«, flüsterte ich. Ohne mich anzusehen oder zu antworten, stützte Nighton seinen rechten Arm auf die Tür und starrte angespannt geradeaus. Ich zog meine Beine an meinen Körper und schaute hinaus auf London. Die vertrauten Straßen und Gebäude zogen wie in einem Film an uns vorbei, bis sich die Umgebung langsam veränderte. Statt der hohen, beengten Wohnhäuser und Geschäfte tauchten immer mehr Familienhäuser auf. Die hohen Wohnkomplexe wichen einem weitläufigeren Viertel.
»Ist das schon Sutton?«, fragte ich leise, da mir die Gegend nicht vertraut vorkam.
»Ja«, antwortete Nighton knapp. »Jason hat hier einen seiner Wohnsitze. Der andere ist im Light Monopol.«
Unter anderen Umständen hätte ich beeindruckt genickt. Das Light Monopol war eines der exklusivsten Wohnhäuser in London. Es war ein hochmodernes, vierundzwanzigstöckiges Gebäude in der Nähe der Themse, schmal und elegant. London war ja schon bekannt für seine hohen Preise, aber dort konnte man sich wahrscheinlich dumm und dämlich zahlen. In den letzten Monaten hatte ich die Fertigstellung des neuen Hochhauses mitbekommen, das umgeben von Bürogebäuden hochgezogen worden war. Nur die Reichen oder die mit den richtigen Beziehungen konnten sich dort ein Apartment leisten.
Meine Gedanken drifteten wieder ab zu Sam, meiner Familie, Nightons Wunden und allen anderen, die in diesem ganzen Durcheinander feststeckten. Was war nur los gerade?
Plötzlich hielt Nighton am Straßenrand an und stellte den Motor ab. Die Stille im Auto wurde erdrückend, als Nighton den Schlüssel aus dem Zündschloss zog. Draußen flimmerte das orangefarbene Licht einer Straßenlaterne, und die Schatten der Blätter tanzten unruhig auf der Motorhaube.
Wir parkten am Rand eines kleinen Parks, in dem mehrere schief stehende Steine verteilt waren. Es dauerte nicht lange, bis ich erkannte, dass es sich um Grabsteine handelte. Obwohl es später Abend war, lag noch genug Licht in der Luft, um die Szene vor uns zu erfassen. Die großen Nadelbäume warfen im bleichen Mondlicht lange, gespenstische Schatten über die Gräber, und in der Ferne hallte der einsame Schrei einer Eule. Der Wind wehte durch die Äste und brachte die Blätter dazu, ein unheimliches Rauschen von sich zu geben.
Nighton stieg aus dem Auto und ließ seinen Blick über die unheimliche Umgebung schweifen.
Auch ich kletterte aus dem Wagen und musterte den düsteren Park, dessen Zentrum ein hoch aufragendes Gebäude mit einem Spitzdach dominierte. Vorsichtig schloss ich die Beifahrertür und legte den Kopf in den Nacken, um das Gebäude genauer zu betrachten. Die Umrisse der alten Kirche zeichneten sich scharf gegen den Nachthimmel ab. Das Kreuz, das auf dem braunen Ziegeldach des Mittelschiffs prangte, war der letzte Beweis, den ich brauchte, um zu erkennen, was das für ein Ort war. Ein riesiges, verglastes Bogenfenster glotzte wie ein weit aufgerissener Mund zu uns hinüber, und in den Fenstern der Seitenschiffe flackerte gedämpftes Licht. Wer um alles in der Welt war um diese Zeit noch in einer Kirche?
Nighton bewegte sich auf den asphaltierten Weg zu, der zur Kirche führte. Er drehte sich um und sah, dass ich ihm nicht folgte.
»Worauf wartest du?«
Ich zog skeptisch eine Augenbraue hoch. »Das ist eine Kirche«, bemerkte ich.
»Und?« Er winkte ungeduldig. »Wäre auch nicht meine erste Wahl, hier zu wohnen, aber wenn es ihm gefällt, soll er doch.«
Ich steckte die Hände tief in die Jackentaschen und lief zu Nighton. Er griff nach meinem Oberarm und hielt mich fest, als wolle er sicherstellen, dass ich nicht plötzlich wegrenne. Gemeinsam folgten wir dem schmalen Pfad, der zur Kirche führte. Ich widerstand dem Impuls, mich aus seinem Griff zu winden – nicht nur wegen seines Kontrollzwangs, der wieder einmal zum Vorschein kam, sondern weil ich seine Berührung nicht ertrug. Aber ich schaffte es, mich zu beherrschen. Nighton blickte alle paar Sekunden über die Schulter, als erwarte er einen plötzlichen Angriff.
Der Weg führte uns an alten, mit Moos überwucherten Grabsteinen, Steinaltären und dichten Büschen vorbei. Die meisten Grabsteine standen schief und schienen jeden Moment umzukippen, dennoch wirkte der Ort erstaunlich gepflegt. Der Boden war ordentlich, kein Unkraut wucherte, und es lag auch sonst kein Müll herum.
Wir hatten den Haupteingang der Kirche fast erreicht, ein gewaltiges Portal mit einem spitz zulaufenden Dach, das wie ein riesiger Schatten über uns hing. Auf beiden Seiten der Eingangssäulen standen hübsche Blumenkästen, deren Farben im Dunkeln kaum zu erkennen waren.
Links vom Mittelschiff der Kirche ragte ein mächtiger Glockenturm auf, quadratisch und wuchtig, mit einer großen Uhr an seiner Front. Auch hier gab es Fenster, doch dahinter war es schwarz wie die Nacht. Die Ziegel des Turms waren vom Wetter gezeichnet, an einigen Stellen bröckelten sie sogar ab.
Mein Blick wanderte zurück zur Hauptstraße. Vor dem Haupteingang gabelte sich der asphaltierte Weg nach links und führte zu einer angrenzenden Einbahnstraße. Auf der anderen Seite erhob sich ein modernes Parkhaus, das jedoch von den vielen Bäumen des Friedhofs weitgehend verdeckt war.
Kein Mensch war auf dem Friedhof zu sehen, als wäre er völlig ausgestorben.
Ein flüchtiges Lächeln huschte bei dem dümmlichen Wortspiel über mein Gesicht, aber es verschwand so schnell, wie es gekommen war. Plötzlich klirrte das Gitter, das das Kirchenportal schützte, und Jason trat hervor. Mit einem besorgten Blick in die Dunkelheit hinter uns winkte er uns hinein. Schnell schloss er sowohl das schwere Gitter als auch das massive Holzportal hinter uns. Wir standen nun in einem dunklen, kalten Korridor aus Stein. Der Geruch von altem Holz und kaltem Stein lag schwer in der Luft, und der Wind pfiff durch die undichten Stellen der Tür. Endlich ließ Nighton meinen Arm los, und ich merkte, wie ich tief durchatmete, als hätte ich die Luft angehalten, ohne es zu merken.
Jason begrüßte uns mit gedämpfter Stimme, als wäre er ein Priester, der die Stille eines heiligen Ortes nicht stören wollte.
»Seid ihr sicher, dass euch niemand gefolgt ist?« Seine Stimme war angespannt, während er einen massiven Eisenriegel mit einem lauten Knirschen vor das Portal schob.
Nighton schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste. Danke, dass wir vorerst hierbleiben können, Jason.«
Der Erzengel lächelte leicht.
»Früher warst du mein Freund, und jetzt bist du der Yindarin. Wie könnte ich dir den Unterschlupf verwehren? In Oberstadt würden sie Gegenteiliges sicherlich nicht gutheißen... aber was kümmert mich das schon?« Er lachte ein raues, kurzes Lachen, das in den dunklen Wänden widerhallte, und machte sich auf den Weg tiefer in die Kirche hinein.
Es hätte mich schon interessiert, wie er das meinte, aber ich war viel zu abgelenkt von der neuen Umgebung. Die Wände zu meiner Rechten waren gesäumt von leeren Flyerständern und behangen von alten Bildern, die von längst vergangenen Zeiten zeugten. Szenen von Messen, Taufen, und Segnungen reihten sich aneinander, und dazwischen waren Gesichter von Menschen, die hier einst gearbeitet hatten. Eines der Bilder zeigte einen bärtigen Gärtner, der mit einer Heckenschere hinter einem üppigen Rosenbusch posierte, als wäre dies der Stolz seines Lebens. Neben dem leeren Regal stand ein langer, alter Tisch, auf dem nur noch Wachsreste klebten. Die Kerzen, die einst darauf gebrannt hatten, waren längst verschwunden.
Wir folgten Jason durch den kurzen Gang hinein ins Mittelschiff der Kirche. Dort angekommen, blieb ich erstaunt stehen. Ich hatte vieles erwartet: eine verfallene oder leere Kirche, vielleicht ein paar alte Bänke und vergessene Reliquien. Aber nicht das, was sich mir nun bot.
Der Boden des Mittelschiffs war mit einer Vielzahl von Teppichen bedeckt, die jedes Geräusch unserer Schritte verschluckten. Alle Sitzbänke standen ordentlich gestapelt unter der Empore zu meiner Linken, sodass sehr viel Platz in der Mitte vorhanden war. Die Seitenschiffe, durch hohe weiße Bögen vom Mittelschiff getrennt, waren mit dicken blauen Vorhängen verhängt, die das Licht dämpften und eine fast unheimliche Ruhe verbreiteten. Überall brannten Kerzen in hohen Ständern und tauchten die Szenerie in ein warmes, flackerndes Licht.
Die Kirche wirkte viel größer, als es von Außen den Anschein hatte. Ihre Decke schwebte hoch über uns, als wollte sie die Sterne einfangen, und ich fühlte mich plötzlich winzig unter dem weiten Gewölbe. Während Jason und Nighton sich über die Ereignisse des Abends unterhielten, nutzte ich die Gelegenheit, die Umgebung genauer zu erkunden.
Vor dem großen Altar standen drei breite Sofas, arrangiert um einen niedrigen Couchtisch. Auf dem lagen verstreut einige alte Schriftrollen, und eine bauchige Flasche mit einer brennenden Kerze im Hals verströmte ein sanftes Licht.
Die flauschigen Teppiche, die den Boden bedeckten, reichten bis auf die Stufen des Altars, der ursprünglich prächtig geschnitzt gewesen sein musste. Jetzt jedoch war er von einem überdimensionierten Fernseher dominiert - eine Zweckentfremdung, die ich irgendwie sehr witzig und zugleich widersprüchlich für einen Erzengel fand. Es war jedoch nicht die einzige außerplanmäßige Nutzung, die mir auffiel.
Das Messingtaufbecken an der Westwand war mit Trockeneis gefüllt, das geheimnisvoll dampfte, während mehrere Weinflaschen darin kühlten. Im Weihwasserbecken lagen haufenweise Bonbons und Schokoladenstücke. Ich nahm eine der Tafeln in die Hand, betrachtete sie ungläubig und fragte mich, ob Jason den Verstand verloren hatte. Ich bezeichnete mich zwar durch und durch als Agnostikerin, was vielleicht komisch im Angesicht meines Wissens um Engel und Dämonen war, aber nicht mal ich wäre auf solche Ideen gekommen. Jason konnte nur hoffen, dass hier keiner sonst vorbeischneite, der ihm ein Fass dafür aufmachte, dass er das heilige Inventar auf so lästerliche Weise missbrauchte.
Meine Gedanken brachten mich zum Schmunzeln.
Als ich neugierig die hölzerne Tür des linken Beichtstuhls öffnete, staunte ich nicht schlecht: Dutzende Weinflaschen stapelten sich darin, akribisch sortiert wie in einem noblen Weinkeller. Selbst die Statue der Jungfrau Maria war nicht unberührt geblieben; ihre gefalteten Hände dienten als Haken für eine schäbige Lederjacke.
Kopfschüttelnd und trotzdem grinsend kehrte ich zu Nighton und Jason zurück, die ihr Gespräch unterbrachen, als sie mich bemerkten. Nighton versuchte ein beruhigendes Lächeln. »Hier sind wir vorerst sicher. Ich habe Jason auf letzte Woche angesprochen. Jason, vielleicht erklärst du es ihr.«
Jason nickte zustimmend und erklärte mir daraufhin geduldig, dass seine Sicherheitskameras vor einigen Wochen eine Truppe bis an die Zähne bewaffneter Männer aufgezeichnet hatten, woraufhin er natürlich habe herausfinden wollen, was eine Militäreinheit auf seinem Gelände zu suchen hatte. Einen von denen hatte er wohl in die Finger bekommen und aus ihm herausquetschen können, was die Menschen planten - was Owen plante. Jason hatte dann seine langjährigen Geschäftsbeziehungen zu Stefan Delaney genutzt, um sich auf die Party zu schleusen, auf der der 'Zugriff' auf die 'Zielperson' erfolgen sollte. Nur hatte er wohl nicht damit gerechnet, dass ich damit gemeint sein könnte.
Seine Erklärung klang plausibel, also versuchte ich, meine Vorbehalte ihm gegenüber fallen zu lassen, was mir nicht so ganz leicht fiel. Ich rang mir ein Lächeln ab, nickte und nahm seine Worte hin, bevor ich auf all das um uns herum zeigte: »Wie kannst du hier wohnen, ohne dass jemand davon Wind bekommt? Das ist doch eine öffentliche Kirche?«
Jason grinste, als hätte er nur auf diese Frage gewartet.
»Das war sie. Ich habe vor ein paar Jahren das Gerücht verbreitet, dass die Kirche einsturzgefährdet ist, und da sie als denkmalgeschützt gilt, darf an ihr nichts geändert werden. Somit wurde der Zutritt verboten und das habe ich ausgenutzt. Das alte Gemäuer und ich haben schon viel durchgemacht, nicht?«
Sein Blick wanderte zur Decke, als würde er die Erinnerungen in den verwitterten Balken suchen.
Ich runzelte die Stirn. »Und wo schläfst du? Doch nicht auf den Sofas da?«
Jason verneinte und deutete auf eine Wendeltreppe im Querschiff der Kirche, die nach unten führte. Sie befand sich nahe der Kanzel und wurde halb von Vorhängen verborgen.
Ich zeigte auf sie, neugierig geworden.
»Darf ich?«
»Bitte!«, sagte Jason, und ich folgte seiner Einladung. Die Wendeltreppe führte mich in einen unerwartet wohnlichen Flur hinunter, von dem fünf Türen abgingen. Die Wände hier unten waren ebenfalls aus kaltem Stein, aber das Flackern der Kerzen in den Nischen schuf eine merkwürdige, fast gemütliche Atmosphäre. Ich öffnete die erste Tür rechts und staunte. Das Badezimmer sah aus, als wäre es gerade erst renoviert worden – eine Eckbadewanne, die förmlich einlud, und eine Spiegelwand, die den Raum in doppelter Größe erstrahlen ließ. Das passte überhaupt nicht zum Rest der alten Kirche. Ich schüttelte den Kopf und ging weiter.
Der nächste Raum war ein unbenutztes Gästezimmer, ein Doppelbett stand ordentlich in der Mitte, aber es wirkte irgendwie verlassen, fast vergessen. Doch der Raum daneben brachte mich zum Innehalten. Er war eindeutig bewohnt. Leopardenbettwäsche auf einem luxuriösen Designerbett und ein langer Wandschrank – jemand hatte es sich hier wirklich gemütlich gemacht. Als mein Blick auf die Handschellen fiel, die am Bettpfosten baumelten, ging ich ganz schnell wieder raus.
Äh, was zur Hölle?
Das Zimmer neben der Sadomaso-Kammer war ebenfalls ein leeres Schlafzimmer und das am anderen Ende des Gangs auch.
Ich betrat es.
Ganz am Ende des Gangs öffnete ich die letzte Tür. Dunkelrote Tapeten, ein grauer Teppichboden, und ein Himmelbett mit schwarzer Bettwäsche. Über dem Bett hing ein riesiger Spiegel, der das Licht der Kerzen zurückwarf. Der Raum hatte etwas Unheimliches an sich, als ob er dunkle Geheimnisse hütete. Ich setzte mich auf das Bett. Es war weich, fast zu weich. Hier fühlte man sich fast wie ein Vampir in seiner Gruft.
Ich seufzte tief und ließ mich nach hinten fallen, aber da schoss ein stechender Schmerz durch meine Seite.
»Au«, stöhnte ich und presste eine Hand gegen meine Flanke. Der blaue Fleck, den Dorzar mir verpasst hatte, erinnerte mich schmerzhaft an die Ereignisse der letzten Tage. Mühsam setzte ich mich wieder auf, der Schmerz war ein unwillkommener Begleiter. Ich blieb für eine Weile sitzen und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.
Was ein bescheuertes Wochenende. Was für eine bescheuerte Zeit. Erst mein Vater Asmodeus und die Entdeckung mit der Wand, dann diese verdammte Krankheit, Dorzar und jetzt auch noch diese Hetzjagd, die die Menschen auf uns eröffnet hatten. Was sollte als Nächstes kommen?
Ich lachte plötzlich auf. Es war ein bitteres, leises Lachen, das in der Stille des Raumes widerhallte. Ach ja, Ende der Woche musste ich mich auch noch für ein Ritual opfern, das mich höchstwahrscheinlich umbringen würde. Alles, um meine Familie zu retten. Der Gedanke daran drückte schwer auf meine Brust, und für einen Moment überlegte ich, ob ich es Nighton endlich sagen sollte. Aber nein. Er hatte schon genug am Hals. Das war mein Kampf, mein Problem. Ich musste damit allein klarkommen. Meine Familie war jeden Preis wert.
Dann schoss mir ein Gedanke durch den Kopf, der mir den Atem nahm. Wenn Owen mein Zuhause verwanzt hatte, könnten sie einfach dorthin fahren und Anna und Tommy mitnehmen! Mein Magen drehte sich um.
Ich musste sofort mit Nighton reden! Wir mussten zurück zu mir nach Hause!
Ich rannte aus dem Zimmer, den Flur entlang und die Wendeltreppe hinauf. Noch auf den Stufen hörte ich Nighton in sein Handy fluchen. Seine Stimme klang angespannt, und als er mich bemerkte, senkte er sie sofort.
Jason war nirgends zu sehen. Nur Nighton stand bei den Sofas, sah mich kommen und legte auf. Ein erschöpfter Ausdruck lag in seinem Blick und seine Schultern hingen schlaff. Auf seinem Gesicht zeichnete sich kurz darauf ein zerknirschte und schuldbewusste Miene ab.
»Entschuldige, dass ich im Auto so ruppig war«, sagte er mit einem schweren Seufzen. »Alles in Ordnung bei dir? Hat dieser Mensch dir irgendwas getan? Hast du dich sonst wo verletzt?«
Sein besorgter Blick glitt über mich, also verneinte ich rasch. Nighton wirkte erleichtert.
»Wenigstens das. Ich hoffe, das war’s jetzt erst mal. Mir reicht’s vorerst mit Action.«
Wenn du wüsstest, mein Lieber. Wenn du wüsstest.
Ich ließ seine Frage unbeantwortet und ging direkt zum Wichtigen über. »Wenn Owen die Wohnung wirklich verwanzt hat, dann sind Tommy und Anna in großer Gefahr.«
Nighton strich unbewusst über ein Kugelloch in seinem Oberteil und nickte langsam, seine Miene düster. »Ich habe das schon mit Jason besprochen. Er holt gerade alle ab.«
Eine Welle der Erleichterung durchflutete mich. Wenigstens das. Wenigstens diese Sorge war mir genommen worden. Doch da war noch etwas anderes, das mich beunruhigte - Sams Verschwinden.
Ich ließ mich auf das nächste Sofa fallen und rieb mir die Augen. Es war erst halb zehn, aber ich fühlte mich, als wäre es längst Mitternacht. Jeder Muskel in meinem Körper schrie nach Ruhe, jeder Gedanke wollte zur Ruhe kommen, doch es war einfach nicht möglich.
»Um auf gestern Morgen zurückzukommen-«, begann Nighton, doch ich unterbrach ihn sofort mit einem genervten Aufstöhnen.
»Nein, ich will keine Fragen beantworten, bitte. Es war ein verdammt langer Abend, und ich brauche echt meine Ruhe.«
Nighton schüttelte den Kopf und schloss den Mund, aber ich konnte sehen, dass er nicht zufrieden war. Er kam näher und setzte sich neben mir auf die Couch. Sein Blick bohrte sich in mich, suchte nach Antworten, die ich ihm nicht geben wollte. Ich verschränkte die Arme vor meiner Brust und sah stur zu Boden.
»Aber du bist so komisch, seit du mit Owen unterwegs warst. Was ist mit dir los? Wieso redest du nicht mit mir? Vertraust du mir nicht?«, rätselte er. Seine Stimme war leiser geworden, fast flehend, als ob er glaubte, durch bloßes Anstarren die Wahrheit aus mir herausziehen zu können.
»Mit mir ist nichts«, log ich und stand hastig auf, in der Hoffnung, der Konfrontation zu entkommen. Aber Nighton war schneller. Er ragte plötzlich vor mir auf und packte mich fest an den Oberarmen. Zu fest. Ein Déjà-vu erfasste mich, und plötzlich war es, als wäre ich wieder bei Dorzar. Panik stieg in mir auf. Mein Atem kam nur noch stoßweise, mir schossen Tränen in die Augen, mein Herz raste und mir brach der Schweiß aus.
Die Panikattacke kam schnell und heftig. Dabei war es nur Nighton, der vor mir stand. Nighton, der immer für mich da war. Nighton, der mich beschützen wollte. Nighton, in den ich so verliebt war und der dieses Gefühl offensichtlich genauso für mich hegte. Und doch fühlte es sich an, als würde ich in seiner Nähe ersticken.
Nightons Gesicht spiegelte eine Mischung aus Verwirrung und Entsetzen, als er meine Reaktion bemerkte. Sofort ließ er mich los und wich zurück, bevor er völlig verunsichert murmelte: »Es tut mir leid, ich…« Seine Stimme erstarb. Ich konnte ihm ansehen, dass er nicht einmal wusste, wofür er sich entschuldigen sollte. Ich schwieg und kämpfte darum, mich zu beruhigen, meinen Atem wieder unter Kontrolle zu bekommen. Dafür drehte ich mich von ihm weg, weil ich einfach nicht wollte, dass er mich so sah. Das konnte doch so nicht weitergehen! Ich wollte das alles nicht.
Doch dann wurden wir zum Glück unterbrochen.
Das metallische Klappern des Tors war zu hören, gefolgt vom Rasseln eines Schlüssels am Portal. Sekunden später kam Jason durch die Tür, gefolgt von Penny, Evelyn, Tommy und Anna. Anna hielt Tommys Hand fest, aber als sie mich sah, ließ sie ihn los und rannte zu mir, um mich zu umarmen.
Dankbar drückte ich Anna fest an mich.
»Gott sei Dank, euch geht’s gut.«
Tommy sah mürrisch aus. Seine Augen verrieten Angst, auch wenn er versuchte, sie zu verbergen. Da half auch der Anblick Evelyns nicht, die sich mit ihrem Riesenausschnitt gerade über das Taufbecken lehnte und eine der Flaschen an sich nahm.
Penny trat näher, und ich sah, dass ihr Gesicht verheult war. Die Sorge um Sam stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Von ihm hatten wir nichts gehört, kein Lebenszeichen, nichts.
Aus dem Augenwinkel heraus merkte ich, dass Nightons Blick immer noch auf mir ruhte. Kurz machte ich den Fehler, ihn zu erwidern. Zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, las ich Verletztheit in seinen Augen. Ich verstand ihn nur zu gut. Er wusste ganz genau, dass ich ihn anlog, aber er hatte keine Ahnung, warum. Er hatte mich fröhlich und unbeschwert zu dieser Party gehen lassen, und jetzt stand vor ihm ein verschlossenes, distanziertes Wrack, das sich nicht anfassen lassen wollte und offensichtlich etwas vor ihm verbarg. An seiner Stelle wäre ich genauso verletzt gewesen.
Aber vielleicht war es besser so. Vielleicht würde es ihm und mir das Herz nicht ganz so sehr brechen, wenn ich am Freitag der nächsten Woche plötzlich einfach nicht mehr da wäre.
Es überraschte mich selbst, wie wenig Angst mir der Gedanke machte, dass die Zwillinge mich mit großer Wahrscheinlichkeit am Freitag töten würden. Ein leises, düsteres Lachen stieg in mir auf, aber ich unterdrückte es. Was brachte es, sich davor zu fürchten, was doch schon unausweichlich war? Und wenigstens diente es einem guten Zweck...
Penny kam zu uns, ihre Unterlippe bebte, und sie sah Nighton flehend an.
»Wir müssen ihn suchen gehen. Was, wenn sie ihn gefangen haben?«
Endlich löste Nighton seinen Blick von mir, den ich wieder stur vermieden hatte. Seine Kiefermuskeln waren angespannt, als er antwortete.
»Ja, du hast Recht. Ich werde ihn suchen und erst zurückkommen, wenn ich ihn gefunden habe.«
Ohne mich noch einmal anzusehen, ging er los. Er drückte Penny kurz die Schulter, dann eilte er an den anderen vorbei zur Tür. Tommy sah ihm nach, dann blickte er zu mir. In seinen Augen lag eine stille, unausgesprochene Bitte: Sag es ihm.
Melvyn trat zu mir. Auch er warf mir einen seltsamen Blick zu, bevor er einen Rucksack und meine Schultasche mit den vielen Pins vor mir auf den Boden fallen ließ.
»Da«, murmelte er knapp. »Hat dein Bruder dir eingepackt.«
»Danke«, sagte ich mit leerer Stimme und warf einen letzten Blick auf Nightons Rücken, bevor die Tür hinter ihm ins Schloss fiel.
Was richtete ich bloß gerade an?